Nur ungern betrat Annemieke das Haus. Es gruselte sie genauso davor, wie vor dem Wald und dem angrenzenden Friedhof. Am liebsten würde sie umdrehen und wieder gehen. Es blieb ihr aber nichts anderes übrig, als auch das Innere zu erkunden. Immerhin war es ihr Eigentum, um das sie sich nun sorgen musste. Ob ihr das nun gefiel oder nicht.
Ein muffiger Gestank empfing sie, der ihren feinen Geruchssinn hart auf die Probe stellte. Sie hielt sich die Nase zu und atmete flach durch den Mund. Nach einer Weile hatte sie sich an den Geruch gewöhnt, sodass sie normal atmen konnte.
Der Flur, den sie eben betrat, erstreckte sich über das gesamte Untergeschoss. Es war düster und seit ewigen Zeiten nicht mehr gelüftet worden. Am Ende der Diele sah sie eine Tür, die offen stand. Vor dort drang ein spärlicher Lichtschein hervor. Die anderen Türen, die rechts und links vom Flur abgingen, waren geschlossen.
Es war still im Haus. Annemieke horchte nach oben. Sie hatte erwartet, Schritte zu hören, ein Hüsteln oder Schnaufen, irgendetwas, was auf eine Person hinwies. Doch kein einziger Laut drang nach unten. „Ich habe wohl doch Gespenster gesehen. Wer soll schon hier sein. Das Haus ist unbewohnt“, sagte sie laut zu sich selbst, wahrscheinlich auch, um sich die Angst zu nehmen. Ihre Stimme klang hohl in diesem menschenleeren Haus. Trotzdem pochte ihr Herz vor Aufregung heftig.
Vorsichtig ging Annemieke weiter. Sie musste darauf achtgeben, wohin sie trat und dass sie nicht gegen die Möbel stieß. Das einzige Fenster war mit dicken Gardinen verhangen, die jeden neugierigen Blick ins Innere verhinderten. Schnell zog sie die Gardine auf, damit sie sich besser umschauen konnte. Annemieke gruselte sich erneut. Von der Decke und an den Möbeln hingen Spinnweben herab, das Fenster starrte vor Schmutz.
„Keine Angst vortäuschen“, dachte sie. „Was soll mir schon geschehen? Geister gibt es nicht und wie sollte sich hier jemand verbergen. Die Haustür war verschlossen, ebenso der Hintereingang.“
Annemieke öffnete jede Tür und schaute in den dahinter verborgenen Raum. Gleich die erste Tür führte zu einer Toilette. Die war wahrscheinlich für Gäste bestimmt, dachte Annemieke. Hinter der nächsten Tür befand sich eine Art Abstellraum. Regale waren an den Wänden angebracht, auf denen noch Konserven standen. Außerdem waren in einer Ecke Putzutensilien abgestellt. Annemieke nahm eine der Konserven vom Regal. Im Licht ihres Handys versuchte sie herauszufinden, wie alt diese sein könnte. „Oh, seit drei Jahren abgelaufen“, sagte sie laut. Auch die nächsten Dosen waren längst nicht mehr genießbar. Sie nahm an, die alte Dame hatte nicht mehr die Gelegenheit, ihre Vorräte aufzubrauchen, ehe sie in die Seniorenresidenz umzog. Oder sie hatte schlichtweg vergessen, was sie noch an Vorräten hatte und ständig neu dazu gekauft.
„Ich verstehe nicht, warum die Kinder hier nicht schon längst aufgeräumt haben“, dachte sich Annemieke. „So wie sich Deike Brouwer aufspielte, musste sie doch Interesse an diesem Haus und dem Grundstück gehabt haben. Sie sah wohl nur das Geld, das es einbringen würde. Diese Frau ist mir ein großes Rätsel. Wahrscheinlich ist sie habgieriger, als ich annahm. Ganz das Gegenteil ist ihr Bruder Daan. Ein schüchterner Mann, der unter ihrem Pantoffel steht und sich nicht wagt, ihr zu widersprechen. Aber was geht es mich an. Ich sollte mir lieber Gedanken über meine Erbschaft machen, als mich mit diesem sehr unterschiedlichen Geschwisterpaar zu beschäftigen.“
Auf ihrem Rundgang im Untergeschoss entdeckte Annemieke noch die Küche, von der aus man in den Garten gelangen konnte. Ein großes Badezimmer mit einer Eckbadewanne und Whirlpool, sowie einer Dusche befand sich ebenfalls auf dieser Etage. Die Tür zum Keller klemmte, sie war wohl ein wenig verzogen. Mit etwas Mühe gelang es Annemieke, sie zu öffnen. Eine Treppe führte zu einem finsteren Loch. Da der Strom abgestellt war, wagte sich Annemieke nicht hinunter. Außer Luuk, der leider nicht mit zur Besichtigung kommen konnte, wusste niemand, dass sie hier war. Sollte sie fallen, sich verletzen und sie sich nicht selbst helfen können, würde ihre Abwesenheit erst in ein paar Tagen bemerkt werden. Dieses Risiko wollte sie nicht eingehen.
Die Tür daneben führte zu einem Raum mit einer Waschmaschine und einigen gespannten Wäscheleinen. Annemieke fand dies sehr praktisch. Gerade im Winter, wenn draußen keine Wäsche trocknete oder es regnete, konnte diese hier aufgehängt und getrocknet werden. Das Fenster war groß und ließ genug Luft und Licht herein. Sie besaß in Amsterdam zwar einen Wäschetrockner, doch den hatte sie sich auch nur geleistet, weil sie ihre frisch gewaschene Kleidung nirgendwo aufhängen konnte. Einen Balkon besaß ihre Wohnung nicht und das Badezimmer war viel zu klein. Der Platz reichte gerade so für die Dusche, Toilette, Waschbecken und Waschmaschine, auf der sie aus Platzmangel den Wäschetrockner abgestellt hatte. In dem Raum konnte sie sich kaum drehen, so klein war er. Das Badezimmer in diesem großen Haus war ein Traum. Der separate Wasch- und Trockenraum Luxus.
Ganz hinten im Flur erwartete Annemieke eine große Wohnstube. Auch dort war noch möbliert und es sah aus, als hätte Frau Brouwer ihr Zuhause ohne große Vorbereitungen verlassen. Teilweise lagen noch Kleidungsstücke auf dem Sofa und Stühlen herum. Ein riesiges Ledersofa sowie dazugehörige Sessel luden dazu ein, es sich bequem zu machen. Die Bezüge waren staubig, wie alles andere im Wohnzimmer auch. Ein flacher Couchtisch vervollständigte das Ensemble. Gegenüber der Couch befand sich eine Anbauwand, wie sie in den 80ger Jahren des letzten Jahrhunderts modern war. Auch das TV-Gerät stellte sich als altertümlich heraus. Annemieke kannte niemanden, der heutzutage noch einen Röhrenfernseher besaß. An der Wand hinter der Tür befand sich ein großes Regal, das mit allerlei Büchern unterschiedlichen Genres vollgestellt war. Sie erkannte Lexika, Belletristik und sogar Sachbücher über Elektronik. In der Essecke fand Annemieke nichts, was ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.
In der Küche auf dem Tisch stand eine benutzte Kaffeetasse, deren Inhalt sie sich lieber nicht anschaute. Angeekelt wandte sich Annemieke ab und entdeckte das Abwaschbecken. Dort war noch mehr schmutziges Geschirr aufgestapelt. Auch hier schüttelte Annemieke den Kopf über so viel Nachlässigkeit der Kinder der Verstorbenen. Sie verstand nicht, warum sich seit dem Umzug der Mutter niemand um die Versorgung des Hauses gekümmert hatte. Alles war in einem sehr desolaten Zustand, all die alten Möbel und den Hausrat zu entsorgen, würde Wochen dauern. Erst wenn das Haus leergeräumt war, konnte Annemieke eine Firma beauftragen, die im und am Haus Renovierungs- und Umbauarbeiten durchführen würde.
Wie schon in der Diele waren in allen Zimmern die Gardinen zugezogen. Überall bedeckte eine Staubschicht die Möbel und den Fußboden. Annemieke hatte angenommen, irgendwo Fuß- oder Handabdrücke zu entdecken. Aber da war nichts, was auf den Aufenthalt einer unbefugten Person hinwies. Sie war allerdings noch immer der Meinung, sich die Gestalt am Fenster im Obergeschoss nicht nur eingebildet zu haben.
Als sich Annemieke ein weiteres Mal im Wohnzimmer umblickte, entdeckte sie neben der Anbauwand eine unscheinbare Tür, die mit der gleichen Tapete beklebt war, wie die Wände. Wenn sie diese nicht durch Zufall entdeckt hätte, wäre sie ihr gar nicht aufgefallen. Dahinter verbarg sich ein kleiner Raum mit einem Schreibtisch. Auf zahlreichen Regalen standen Unmengen von Aktenordern, die mit Jahreszahlen beschriftet waren. Einen nahm Annemieke heraus und blätterte darin. Doch es war schon zu dunkel, um lesen zu können. Deshalb stellte sie ihn zurück. Darum wollte sie sich zu einem späteren Zeitpunkt kümmern.
Auf dem Schreibtisch waren neben einem Computer und einem Drucker sogar ein Scanner platziert. Auch auf diesen Geräten lag eine dicke Staubschicht. Die alte Dame hatte sich wohl damit ausgekannt. Am Monitor hingen noch kleine Zettel, auf denen Frau Brouwer etwas notiert hatte. Ein aufgeschlagenes Schreibheft und ein Kugelschreiber lagen neben dem Mousepad, als wären die Utensilien erst vor kurzer Zeit benutzt worden.
Unschlüssig stand Annemieke wenige Zeit später im Flur. Im Untergeschoss hatte sie alles gesehen. Nun musste sie nur noch nach oben.
Eine breite Treppe führte ins Obergeschoss. Langsam stieg Annemieke hinauf und betrachtete dabei die Bilder, die an den Wänden hingen. Es schien eine Art Ahnengalerie zu sein. Sie schaltete erneut das Display ihres Handys ein, um die Bilder anschauen zu können. Einige zeigten Deike und Daan Brouwer als Teenager und auch in einem fortgeschritteneren Alter. Eine weitere Fotografie zeigte eine Frau und einen Mann in inniger Umarmung. Beide lächelten fröhlich in die Kamera. Annemieke vermutete, dass es sich um Frau Brouwer und ihren Ehemann handelte. Ein einzelner Mann war auf dem Porträt daneben abgebildet. Er hatte Ähnlichkeit mit der Frau auf dem Bild nebenan. Annemieke nahm an, dass dies ein naher Verwandter war. Da sie aber außer dem Geschwisterpaar keine weitere Person auf den Bildern kannte, erlosch ihr Interesse daran.
Auch in der oberen Etage waren alle Fenster verhängt. Annemieke ging zuerst in das Zimmer, an dessen Fenster sie die unheimliche Gestalt gesehen hatte. Aber wie sie bereits angenommen hatte, war auch dort kein Hinweis auf den Aufenthalt einer Person zu finden. Die Fenster waren genauso schmutzig wie unten, die Gardinen und Möbel verstaubt, sowie überall Spinnweben. Es handelte sich um ein Schlafzimmer. Ein breites, sehr alt scheinendes Doppelbett stand darin, das mit einer schweren Damastdecke abgedeckt war. In den Schränken hingen noch einzelne Kleidungsstücke.
Annemieke fand noch drei weitere Zimmer, eins davon war ein Bad mit Dusche und Toilette. In zwei Zimmern standen einzelne Betten. Überall standen Möbel herum. Ein Bett in einem der Zimmer war ungemacht. Es sah aber nicht so aus, als hätte hier noch vor Kurzem jemand genächtigt. Im Schrank fand sie auch hier ein paar Kleidungsstücke, die zu einer älteren Dame passten. Frau Brouwer hatte wahrscheinlich in diesem Zimmer geschlafen und sich vor ihrem Umzug in die Seniorenresidenz nicht mehr die Mühe gemacht, hier Ordnung zu schaffen.
Nun hatte Annemieke genug gesehen. Sie stellte sich ans Fenster, öffnete es und schaute auf den Garten hinaus. Ihr Blick schweifte über die große Wiese, an die der Friedhof grenzte. Die junge Frau fröstelte bei dem Anblick. Sie wandte sich ab und wollte eben das Fenster schließen, als sie eine Bewegung im Garten bemerkte. Erschrocken schaute sie genauer. Beinahe hätte sie einen Schrei ausgestoßen. Leider konnte sie nur noch den Schatten eines Mannes erkennen, der um die Hausecke flüchtete und sich somit ihren Blicken entzog.
Wer konnte das sein, der ihr hier einen großen Schreck einjagte? Wurde sie womöglich verfolgt? Befand sie sich sogar in Gefahr? Wer könnte ihr auf den Fersen sein? Sie wusste es nicht, kannte auch niemanden, der ihr Böses wollte.
Außer Luuk de Vries wusste niemand, dass sie hier in Vaals aufhielt und das Haus besichtigte. Aber Luuk konnte es nicht sein. Am liebsten wäre Annemieke Hals über Kopf davongerannt. Ihr Atem ging heftig und sie spürte, wie ihr Herz erneut schneller schlug als normal. Nicht einmal der Pensionswirt, bei dem sie für eine Nacht ein Zimmer gemietet hatte, wusste, was sie in der Stadt vorhatte. Warum sollte sie auch einem völlig Fremden etwas darüber berichten?
„Reiß dich gefälligst zusammen“, sagte Annemieke laut und straffte die Schultern. „Wer soll hier sein? Es ist nichts.“ Sie schloss endlich das Fenster und zog die Gardine zu. Dann ging sie hinunter. Dort war es inzwischen fast vollkommen dunkel. Daher öffnete Annemieke die Haustür, um noch ein wenig Restlicht einzulassen. Sie sah sich noch einmal um und schaute, ob alle Fenster und Türen, sowie die Gardinen wieder geschlossen waren. Einbrecher wollte sie auf keinen Fall auf das Haus aufmerksam machen. Sie wusste nicht, was sich noch in den vielen Schränken befand. Vielleicht waren es Dinge, die wertvoll waren und die sie erst richtig sichten konnte, wenn sie wieder über Strom verfügte.
Es war Zeit, das Haus zu verlassen. Als Annemieke an der Flurgarderobe vorbeiging, fiel ihr ein Zettel auf, der im leichten Windzug, der zur Tür hereinkam, zu Boden flatterte. „Hm“, dachte sie, „lag der vorhin schon dort und ich habe ihn nur übersehen?“ Sie wusste es nicht. Es stand etwas darauf geschrieben, das sie in der Dunkelheit nicht erkennen konnte. Daher nahm sie ihn und steckte ihn in ihre Handtasche. Im Auto hatte sie Licht, dort könnte sie das Geschriebene nachher lesen.
Nach einem letzten Blick in den Flur verschloss Annemieke die Haustür. Sie lief den Weg hinab zum Tor, wo ihr Auto stand. Wieder quietschte der Torflügel.
Sie schloss ihr Auto auf und setzte sich hinein. Dann nahm sie den Zettel aus ihrer Tasche und schaltete das Licht an.
Auf dem Papier stand:
Meine liebe Annemieke,
herzlich Willkommen in Deinem neuen Reich. Ich hoffe, es wird Dir hier gefallen, auch wenn alles schon alt und heruntergekommen ist. Du wirst bestimmt wissen wollen, warum Du dieses Haus geerbt hast. Das Rätsel wird sich bald lösen. Dir wird jemand begegnen, von dem Du dachtest, ihn nie kennenzulernen. Diese Person wird Dich über alles aufklären. Habe nur noch ein wenig Geduld. Den Notar zu fragen, ist sinnlos. Auch er weiß von nichts. Das wirst Du bestimmt schon erkannt haben.
Marlene Brouwer
Annemieke erschrak ungemein. Sie kannte die Handschrift. Es war die von Frau Brouwer, die sie schon in Luuks Kanzlei auf dem Blatt Papier mit den Notizen gesehen hatte. Wie konnte es sein, dass die Verstorbene ihr einen Brief schrieb? Oder war sie gar nicht tot? Hatte dieser ominöse Brief etwas mit der Gestalt zu tun, die sie vorhin weglaufen sah? Fragen über Fragen, die sie sich nicht beantworten konnte.