Obwohl vereinbart war, dass Annemieke sich erst am Abend mit Luuk treffen würde, fuhr sie doch erst in seine Kanzlei. Bis zum Abend würde sie mit den vielen Neuigkeiten nicht warten können. Sie musste sie unbedingt loswerden, so sehr brannten sie ihr auf der Zunge. Daher telefonierte sie während der Fahrt zurück nach Amsterdam mit Luuk und kündigte ihre Ankunft am späten Vormittag an.
Kurz vor Mittag klingelte Annemieke an der Kanzleitür in der Damstraat in der Nähe von Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett. Luuks Sekretärin ließ sie ein und geleitete sie zu dessen Büro.
„Da bist du ja endlich“, begrüßte der Notar Annemieke herzlich, als sie sein Büro betrat. „Komm doch rein. Du weißt gar nicht, was für Sorgen ich mir gemacht habe“, sprach Luuk ohne Punkt und Komma weiter.
„Nun bin ich da. Was soll die Sorge“, versuchte Annemieke ihren Freund zu beruhigen. „Die Fahrt verlief gut und ohne den vermuteten Stau. In Vaals war es zwar etwas aufregend, aber auch das habe ich gut überstanden.“
„Setz dich doch“, bot Luuk ihr erst einmal einen Platz an und zeigte auf den altertümlichen Stuhl, der vor seinem riesigen Schreibtisch stand. Annemieke setzte sich und Luuk nahm hinter dem Schreibtisch Platz. Fragend schaute er sie an. „Was bin ich für ein Narr“, rief er aus und sprang auf. „Du wirst bestimmt hungrig und durstig sein!“ Er ging zur Tür und rief seiner Sekretärin zu, sie solle Getränke und Snacks bringen. Nach einer Weile kam die Frau herein und stellte ein schön zurechtgemachtes Tablett auf den Tisch. „Danke Lieke“, sagte Luuk geistesabwesend und schickte sie wieder hinaus, ehe sie nach weiteren Wünschen fragen konnte. Dann wandte er sich wieder Annemieke zu. „Nun erzähle mal. Was hast du alles erlebt? Wie ich während unseres Telefonats heraushörte, ging es recht gruselig zu.“
Annemieke lachte. „So schlimm war es nun auch wieder nicht!“ Sie ging kurz in sich. „Doch ich muss sagen, ganz koscher war es mir auf dem Anwesen nicht. Mir gruselte es dort wirklich ein wenig. Erst der Wald, der direkt an das Grundstück grenzt, dann der Friedhof. Der hat mir einen Schreck eingejagt. Stell dir vor! Ein Friedhof gleich nebenan. Wer baut denn heutzutage noch freiwillig neben so einem unheimlichen Ort? Wenn ich abergläubisch wäre, würde ich sagen, das wäre ein schlechtes Omen. Aber Tote sind nun mal tot, die tun nichts mehr. Außerdem wurde das Haus nicht erst gestern gebaut, sondern vor vielen Jahren. Damals gab es diesen Gottesacker vielleicht noch nicht einmal.“ Annemieke lachte erneut.
Luuk hörte aufmerksam zu. „Ja, Friedhof hin oder her. Daran könnte man sich gewöhnen. Denke lieber einmal an die Gestalt am Fenster und an diesen Typ, den du weglaufen gesehen hast.“
„Ach, das war alles nicht so schlimm. Ich habe mich nur ein wenig erschreckt. Mehr war nicht.“ Annemieke winkte ab.
„Naja, Vaals ist wahrscheinlich nicht der Ort, an dem du dich wohlfühlen könntest.“ Luuk sah sie ernst an. Er stellte sich alle unmöglichen Dinge vor, die seiner guten Freundin dort geschehen könnten.
„Du bist zu ängstlich. Was soll schon passieren?“ Annemieke nahm einen Schluck Kaffee. Sie seufzte leise, als ihr das starke Getränk die Kehle hinunterrann. „Ah, das tut gut. Das belebt meinen Geist.“
„Jetzt fängst du auch schon an mit Geistern“, schimpfte Luuk scherzend. „Aber erzähle weiter.“
„Geist, mein Lieber, nicht Geister!“, meinte Annemieke schmunzelnd. „Ich glaube, der Schatten am Fenster war nur eine Einbildung von mir. Wer weiß, was ich gesehen habe“, sprach sie weiter. „Ich habe das gesamte Obergeschoss abgesucht. Es gab kein einziges Anzeichen von einer eventuell anwesenden Person. Außerdem, wie sollte er oder sie auch hineingekommen sein. Alle Türen und Fenster waren fest verschlossen.“
„Wenn du es sagst, will ich es mal glauben. Aber der Typ, den du vor dem Haus gesehen hast, der war Realität?“
„Ja, den gab es wirklich. Immerhin habe ich diesen ominösen Brief von Marlene Brouwer gefunden, der definitiv noch nicht dort lag, als ich das Haus betrat. Ich verstehe nur nicht, wieso ich den erst jetzt erhalten habe und nicht vor oder kurz nach ihrem Tod.“
„Vielleicht hat sie es so gewollt“, sagte Luuk darauf.
„Das glaube ich auch. Aber, das frage ich mich immer wieder aufs Neue, warum sie ihn mir geschrieben hat. Sie hätte ihn doch auch an ihre Kinder schreiben können, sozusagen als letzter Gruß einer liebenden Mutter an ihre Nachkommen.“
„Wie du es mir erzählt hast, glaube ich nicht, dass ihre Kinder ihre Lieben gewesen sind.“
„Da hast du Recht. Im Haus lag alles durcheinander, wie Kraut und Rüben. Die alte Dame lebte seit über zwei Jahren in der Seniorenresidenz, dies haben mir auch die Spaziergänger bestätigt. Das Anwesen wurde seitdem wahrscheinlich nie wieder betreten. Die Leute wussten nicht einmal, dass Frau Brouwer verstorben ist. Dabei waren sie früher fast Nachbarn“, erklärte Annemieke und berichtete von ihren Entdeckungen. „Hätten sich die Kinder um das Haus gesorgt, hätten sie es auch in Ordnung gehalten. Wahrscheinlich sind sie nur auf das Geld aus, das ein Verkauf gebracht hätte. Daan vielleicht nicht so sehr wie diese unmögliche Deike. Bei der bin ich mir ziemlich sicher, dass sie nur Dollarzeichen in den Augen hat.“
„Erinnere mich lieber nicht an diese Schimäre“, meinte Luuk lachend. „Ich war froh, als sie meine Kanzlei wieder verlassen hatte und ich sie nun nicht mehr wiedersehen muss.“
„Diese Frau ist wahrlich ungemütlich“, erwiderte Annemieke. „Aber mal weiter im Text. Der Brief, den ich im Haus gefunden habe, ich weiß nicht, was ich davon halten soll.“
„Zeige ihn mir mal“, sagte Luuk.
Annemieke kramte in ihrer Handtasche und fand neben dem Brief von Marlene Brouwer auch den Zettel, der hinter ihren Scheibenwischern am Auto klemmte. „Oh je, den hatte ich ganz vergessen“, sagte sie, als sie den Brief von Marlene an Luuk weiterreichte. „Ich habe angenommen, das zweite Schreiben wäre ein Strafzettel vom Ordnungsamt. Dabei habe ich gar nicht falsch geparkt, sondern auf dem Parkplatz der Pension“, berichtete Annemieke lachend. Luuk schüttelte darauf nur den Kopf und meinte feixend, sie hätte wohl gleich genauer hinschauen sollen, anstatt solche obskuren Behauptungen aufzustellen.
Während Luuk sich Marlenes wenige Zeilen ansah, las Annemieke den anderen Brief.
Liebe Annemieke,
Du kennst mich leider noch nicht. So sehr ich es mir auch wünschte, Dich kennenzulernen, ist mir das bisher leider nicht gelungen. Dabei habe ich Dich so sehr vermisst. Du wirst Dich fragen, wer ich bin und warum ich mich an Dich wende. Diese Fragen kann ich Dir demnächst beantworten, wenn Du Dich wieder in Vaals aufhältst. Dann wirst Du noch sehr viel mehr erfahren, auch Dinge, von denen Du angenommen hast, es gäbe sie nicht. Ich werde mich bei Dir melden, sobald Du wieder in Vaals bist. Familie Jonker weiß Bescheid und reserviert Dir jederzeit ein Zimmer in ihrer Pension. Sie werden mir berichten, wann Du eintreffen wirst. Bis dahin…
Herzliche Grüße … ein Dir noch Unbekannter
Annemieke wurde blass um die Nase. Dieser Brief gab ihr noch mehr Rätsel auf als der von Marlene Brouwer.
„Was ist los?“, fragte Luuk, der Annemiekes Reaktion bemerkt hatte.
„Hier, lies selbst“, antwortete sie und reichte ihm das zweite Schreiben.
Luuk überflog die wenigen Zeilen. „Das wird immer verrückter“, stieß er aus. Er begutachtete die Buchstaben und verglich sie mit dem ersten Brief. „Das haben eindeutig zwei verschiedene Personen geschrieben“, stellte er fest. „Der erste ist von Marlene Brouwer. Ich erkenne ihre Handschrift“, sagte er nach einer Weile. „Aber der zweite Brief. Es stellt sich mir die Frage, wer den geschrieben haben könnte.“ Luuk dachte nach. „Es könnte sein, du hast einen Stalker“, sprach er seine Überlegungen aus.
„Das glaube ich nicht“, erwiderte Annemieke. „Trotzdem, so makaber es auch klingen mag. Ich muss dem Rätsel auf die Spur kommen. Da gibt es jemanden, der mich kennt, aber ich ihn nicht. Mein Bauchgefühl sagt mir, es ist ein Mann. Und dieser Mann steht irgendwie in einer Verbindung zwischen mir und Marlene Brouwer.“
„Wie kommst du darauf?“, wollte Luuk wissen.
„Ich kann dir das nicht genau erklären. Es ist einfach nur ein Bauchgefühl, das ich habe.“ Annemieke sah Luuk an. „Zum Ende der Woche werde ich wieder nach Vaals fahren und die Sache weiterverfolgen. Gleichzeitig werde ich eine Bestandsaufnahme im Haus machen und mir Notizen machen, welche Renovierungsarbeiten getan werden müssen.“
„Ich lasse dich nicht allein fahren“, sagte Luuk. „Ich habe Angst um dich“, gab er dann noch zu. Seine Ohren bekamen einen leichten Rotton.
„Es geht dich zwar nichts an, was ich in Vaals tue. Aber ich will mal nicht so sein. Also komm einfach mit. Ich rufe heute Abend noch bei den Jonkers an und buche zwei Zimmer.“ Annemieke sah Luuk lächelnd an.
„Natürlich geht es mich was an!“, brauste er leicht auf. „Immerhin begibt sich jemand, den ich sehr mag, in Gefahr. Ich will unbedingt dabei sein und alles von dir abwenden, was gefährlich sein könnte.“
„Ach, Luuk, du bist ein kleiner Spinner! Was soll schon geschehen? Mich wird ganz bestimmt niemand umbringen.“ Annemieke grinste. „Soll das jetzt eine Liebeserklärung gewesen sein?“, schoss es ihr plötzlich in den Kopf und ärgerte sich über ihre etwas flapsige Antwort.
„Ach Mensch, Annemieke! Hast du es noch nicht bemerkt? Ich mag dich sehr.“ Es entstand eine kurze Pause, bevor Luuk weitersprechen konnte. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab, sein Rachen fühlte sich trocken und kratzig an. „Annemieke! Ich liebe dich!“, stieß er dann aus, als würde er die Worte endlich loswerden wollen.
„Was?!“ Annemieke dachte, sie hört nicht richtig. Luuk liebt sie? Obwohl sie sich, seit sie ihm zum ersten Mal in seiner Kanzlei begegnet war, sofort in ihn verliebt hatte, glaubte sie nie, dass er ihre Gefühle erwidern würde. Sie nahm an, er würde eine lose Bekanntschaft wollen, die irgendwann im Sande verlaufen würde. Damit hatte sie sich längst abgefunden und machte sie daher keine großen Hoffnungen. Nun das! Annemieke sprang auf und lief um den Schreibtisch herum. „Du bist mir einer! Warum sagst du das nicht gleich!“, rief sie aufgeregt.
Luuks Ohren röteten sich noch mehr. „Ich nahm an, du bemerkst es.“ Vor Aufregung stotterte er ein wenig, was er sonst nie tat. Als Notar war er ein gewandter Redner. Doch diese Situation überforderte ihn. Er hatte viel zu wenig Erfahrung mit der Liebe.
„Und ich dachte, du bemerkst, dass ich in dich verliebt bin“, gestand Annemieke nun auch.
Beide sahen sich mit großen Augen an. Ihre Münder standen vor Erstaunen offen. Dann lachten sie gleichzeitig. Luuk machte einen Schritt auf Annemieke zu und nahm sie in seine Arme. Er beugte seinen Kopf herab, ihre Lippen trafen sich zu einem ersten Kuss.
„Seit wann?“, stieß Annemieke leise aus.
„Seit du zum ersten Mal in meiner Kanzlei warst“, gab Luuk zu. Er sah Annemieke tief in die Augen.
„Ich auch“, bekannte sie sich zu ihrer „Untat“. „Bekomme ich jetzt eine mildere Strafe“, fragte sie scherzend.
Erneut lachten sie. Jetzt so laut, dass Luuks Sekretärin ihren Kopf zur Tür hereinsteckte. Luuk scheuchte sie wieder hinaus. Die etwas intime Atmosphäre mit Annemieke wollte er allein mit ihr genießen.
„Das war eine Überraschung. Ich hätte nie gedacht, dass du das Gleiche fühlst wie ich“, sagte Annemieke, als sie sich wieder beruhigt hatten. „Trotzdem sollten wir uns jetzt vorerst dem Problem zuwenden. Später können wir uns immer noch persönlichen Dingen widmen“, meinte Annemieke etwas peinlich berührt über Liekes Dazwischen platzen. „Ich stehe immer noch ganz am Anfang, das Rätsel um das Haus in Vaals zu lösen. Vielleicht kann uns der unbekannte Briefschreiber wirklich so viel dazu sagen, wie er angibt. Ich hoffe, ist kein Stalker, wie du es ahnst. Wenn doch, weiß ich nicht, wie ich ihn wieder loswerden kann und wo ich Antworten finden kann, außer bei Deike und Daan Brouwer. Obwohl ich gerade Deike nicht fragen möchte, was sie weiß. Dabei, das denke ich, weiß sie wahrscheinlich genauso wenig wie wir. Bei Daan bin ich mir nicht sicher. Hinter seiner verborgenen Mauer steckt vielleicht mehr als wir ahnen.“ Annemieke ging von jetzt auf gleich wieder zur Tagesordnung über. Luuk verunsicherte dies zwar, er ließ sich aber darauf ein. Immerhin gab es ein Rätsel, das gelöst werden musste.
„Das mit dem Stalker loswerden, kannst du getrost mir überlassen. Als Rechtsanwalt habe ich Erfahrung damit. Aber Daan könnte wahrlich der Schlüssel zum Schloss sein. Er gibt weniger zu als er weiß. Deike mag ich auch nicht gerade. Sie ist mir mehr als suspekt“, gab Luuk zu. „Aber wenn keiner mehr etwas weiß, dann müssen wir uns an sie wenden.“ Luuk überlegte kurz. „Der ominöse Briefeschreiber ist mir ein Dorn im Auge. Ihm traue ich am wenigsten. Falls er ein Stalker sein sollte, müssen wir ihn schnellstmöglich loswerden, bevor er uns Schaden zufügen kann. In diesem Fall frage ich mich, wieso er gerade dich stalkt, und woher weiß er, dass du in Vaals ein Grundstück samt Haus von Frau Brouwer geerbt hast.“
„Schon wieder Fragen über Fragen“, meinte Annemieke lachend. „Lass uns am Wochenende gemeinsam nach Vaals fahren und versuchen, die Antworten zu finden.“
„Sind in Vaals zwei Pensionszimmer nötig?“, fragte Luuk grinsend.
„Ich glaube nicht“, antwortete Annemieke und grinste zurück.