Der Samstag begann mit lieblichem Vogelgezwitscher und herrlichstem Sonnenschein. Lucien hatte sich gerade, noch etwas verpennt, an den Frühstückstisch gesetzt, als seine Mutter ihn ansprach. Sie hatte sich inzwischen wieder etwas gefangen und fing nicht bei jeder Gelegenheit an zu weinen, wenn sie ihren Sohn zu Gesicht bekam.
Und auch wenn sie nur schwer nachvollziehen konnte, warum Lucien sich so entschieden weigerte, eine Therapie zu beginnen, die sein Leben unter Umständen würde verlängern können, versuchte sie, seine Entscheidung zu akzeptieren. Denn irgendwo verstand sie seinen Standpunkt. Es war der Rest seines Lebens und den wollte er natürlich nicht unter dem Einfluss starker Medikamente verbringen, die ihm den klaren Verstand raubten und ihn abstumpfen ließen. Doch die Mutter, die sie war, wünschte sich gleichzeitig, ihren Sohn noch länger bei sich zu haben, in welchem Zustand auch immer.
»Wie hast du geschlafen, Cherie?«
»Gut eigentlich. Die Mittel dafür helfen ganz gut. Keine Kopfschmerzen«, antwortete der Junge mit einem leichten Gähnen und griff nach einem Croissant und Schmelzkäse.
»Wollen wir heute nicht zusammen an den Strand gehen? Du kannst Etienne anrufen. Der ist doch im Internat auch den ganzen Tag allein sonst ... Wir gehen ein Eis essen. Was sagst du? Solange das Wetter noch schön ist?«
Lucien biss in eine Ecke seines Hörnchens und nickte. »Doof, dass Papa in der Luft ist, hm?«
»Ja. Aber nicht zu ändern.« Piloten hatten selten mal ein Wochenende frei, das waren die beiden gewöhnt. »Bald hat er ja Urlaub.«
»Klar. Lass’ uns gehen. Warum hier zuhause herumhängen. Hier warten eh nur jede Menge Hausaufgaben.«
Der Jugendliche hatte seinen Eltern nichts von dem kleinen Schwächeanfall auf dem Jungenklo erzählt. Er hatte sie nicht beunruhigen wollen, weil sie sonst noch auf die Idee gekommen wären, ihn doch von der Schule zu nehmen und zuhause zu behalten, als wäre er ein bettlägeriger Pflegefall. Es würde, wenn er ganz viel Pech hatte, noch früh genug dazu kommen, dass er nicht mehr würde aufstehen können, seine Sehkraft versagte oder er dauerhafte Betreuung brauchte.
Dass er, wie andere schwerkranke Krebspatienten im Endstadium, irgendwo auf einer Palliativ-Station liegen und auf den Tod warten würde. Eine grausige Vorstellung, in einem Krankenhaus zu sterben. Das würde er mit seinen Eltern noch abklären müssen. Das wollte er nicht.
Seine trüben Gedanken hatten ihm den Appetit auf sein Frühstück verdorben, doch damit seine Mutter nichts bemerkte, verzehrte er das Croissant und eine Schüssel Müsli trotzdem. Es sollte ja nicht sein Schaden sein, etwas im Magen zu haben. Wenn er sich nicht wieder würde erbrechen müssen.
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Es klingelte an der Wohnungstür, als Lucien gerade aus der Dusche kam. Er hatte Etienne noch während des Frühstücks auf seinem Handy angerufen und dieser hatte sofort zugesagt. Er hätte sonst wirklich nur im Internat gesessen und nichts weiter zu tun gehabt als Lernen. Er fuhr erst am nächsten Wochenende aufs Land hinaus, um seine Familie zu besuchen.
Der Rothaarige konnte seinen Freund und seine Mutter im Flur reden hören und zog sich rasch ein paar Boxershorts drüber, als es an der Tür seines Zimmers klopfte.
»Komm rein«, rief er und sein Kumpel schob den Kopf hinein.
»Oh, du hast ja noch gar nichts an.«
Lucien lachte. »Bin ich nackt? Ich hab ja wohl ne Hose an. Seit wann bist du so zimperlich? Kennst du doch alles aus dem Sportunterricht. Mach die Türe zu, es zieht.«
Etienne grinste und warf sich lässig in den alten Sessel, der am geöffneten Fenster des Zimmers vor dem niedrigen Schreibtisch stand. Die Gardinen tanzten leicht im milden Spätsommerwind und Sonnenlicht strich über die Wände, die beinahe komplett mit Postern von diversen Heavy Metal- und Rockbands behangen waren. Lucien sammelte nostalgische Blechplaketten von Marken wie Coca-Cola und hatte die Innenseite seiner Zimmertür damit gepflastert.
Im Internat, wo Etienne untergebracht war, war so etwas nicht erlaubt. Obwohl er ein eigenes Zimmer hatte, winzig, aber seins allein, war nur minimale Eigengestaltung durch Bilder gestattet. Man wollte verhindern, dass die Jugendlichen unkontrolliert Nägel in die Wände schlugen oder die Tapeten mit Tesafilm verunreinigten. Der hochgewachsene Jugendliche beneidete seinen besten Freund um sein cooles und gemütliches Zimmer, das zwar immer ein bisschen unordentlich, aber sauber war. Sogar ein eigenes kleines Badezimmer hatte es. Etienne teilte sich mit zwanzig anderen Jungen seines Stockwerkes einen Gemeinschaftswaschraum.
»Wie kommt es, dass deine Maman mich mit einladen wollte?«
Lucien schlüpfte in Socken und eine zerschlissen wirkende schwarze Jeans, bevor er sich zu seinem Freund herumdrehte und sich ein rotes Shirt über den Kopf zog, das perfekt mit seinen Haaren harmonierte.
»Hmm ... sie will mir eine Freude machen, glaub ich. Und warum auch nicht? Sie findet dich in Ordnung. Weißt du doch. Du warst doch schon oft genug hier, wenn du am Wochenende nicht nach Hause konntest.«
»Hast du ihr gesagt, dass ich Bescheid weiß?«
Der Rothaarige ordnete sich vor dem Spiegel die feuchten Haare und zuckte mit den Schultern. »Nö. Aber ich glaube, sie weiß eh, dass du es weißt. Ich hab dir immer mehr erzählt als meinen Eltern. Ist doch normal, oder?«
Etienne grinste. »Also wissen sie nicht, dass du in der Woche dutzende Liebesbriefe mit eindeutigen Angeboten bekommst und dass du auf der Abschlussparty im Juli mit Mathieus Schwester geknutscht hast?«
»Ach Gott, nein! Und erinnere mich nicht an Celeste, Alter. Seitdem klebt die wie ein Kaugummi an meinem Arsch. Ich war froh, dass wir den Sommer über in Monaco waren, sonst wäre ich die gar nicht los geworden.«
»Oha. So schlimm? Hat es sich wenigstens gelohnt? Das Rummachen mit ihr.«
Lucien schnaubte. »Nee. Die sabbert voll. Die sollte ihre Lippen eher für was anderes benutzen als Knutschen. Das liegt ihr bestimmt besser. Richtig festgesaugt hat die sich. Pfui ...«
Etienne prustete los. »Aber wer sagt dir, dass sie das woanders nicht auch gemacht hätte? Aua ...«
Beide Jungs verfielen in albernes Gelächter.
»Na ja«, stieß Lucien atemlos hervor, »dann würde aber, was das angeht, schon etwas auf meiner Erfahrungsliste stehen. Denn da ist nix drauf außer Knutschen und ein bisschen Fummeln. Langweilig, oder? Ich sterb’ als Jungfrau, ist das zu fassen ...«
»Erstens bist du noch nicht tot und zweitens spricht das für dich. Alle halten dich für einen Arsch, der Mädels mies behandelt. Aber du hast nie irgendwas ausgenutzt. Hättest du aber gekonnt, Verehrerinnen hast du genug ...«
Der Rothaarige drehte seinem Spiegel den Rücken zu und lehnte sich an die Kommode. »Ich weiß nicht mal, was ich will, wenn ich ehrlich bin. Einige echt hübsche Mädels, ja ... aber mich reizt nicht eine von denen.«
»Was war dann an Celeste, dass du die an dich rangelassen hast?«
Lucien überlegte einen Moment. »Sie hat schöne Haare ... und ... hmm ...«, der Junge räusperte sich, »einen großen Busen. Aber ich glaube, es lag nur daran, dass ich zu viel getrunken hatte. Du weißt, ich hasse es, wenn man mich anfasst. Und dann Knutschen ...«
Etienne nickte. »Hat dich das scharf gemacht?«
»Hab ich nicht gesagt, dass sie sabbert? Nein, hat es nicht. Definitiv nicht. Und dass sie mich befummelt hat, hat auch nichts bewirkt. Es war irgendwann nur noch eklig.«
»Oh, ich hätte gern Mathieus Gesicht gesehen. Der regt sich doch über jede Entgleisung seiner Schwester auf.«
»Weil man das von ihm erwartet«, murmelte Lucien und sein Freund hakte nach.
»Na ja«, sprach der Rothaarige weiter, »Celeste war schon immer so eine Prinzessin. Und Mathieu musste schon im Kindergarten auf sie aufpassen. Wenn sie auch nur einen Kratzer hatte, hat er Ärger mit seinem Vater bekommen. Ich glaube kaum, dass das heute anders ist. Nur dass sie sich heute nicht mehr nur die Knie aufschlägt. Stell’ dir das Donnerwetter vor, was dann folgt, wenn es was schlimmeres ist. Sie ist eine Strafe.«
»Du hast mal erzählt, dass Mathieu es war, der sie in der Vorschule geärgert hat, sie an den Haaren gezogen und so. Und dass du sie mal getröstet hast, als er eines ihrer Spielsachen kaputtgemacht hat ... da war sie wohl noch nicht so nervig, hm?« Der Junge mit dem mausgrauen Haar kicherte und bekam von Lucien ein Kissen an den Kopf geworfen.
»Ich wollte, dass sie zu heulen aufhört. Und ja, Mathieu war damals so wie ich. Total frech und so. Keine Ahnung, warum er heute so ein Spießer ist. Wäre ich bei so einem Elternhaus vielleicht auch. Keine Ahnung. Jedenfalls weiß er gar nicht, dass ich mit seiner Schwester rumgemacht habe. Und warum sollte er es auch wissen? Ich wünschte ja auch, ich hätt’s gelassen.«
Ein Klopfen an der Tür unterbrach die beiden und Muriel, Luciens Mutter, streckte den Kopf hinein.
»Na? Ist die Geheimkonferenz beendet? Wollen wir dann, ihr Zwei?«
Die Jugendlichen nickten und zusammen verließen sie die Wohnung der Walaces.
Sie hatten den Sonnenschein ausgenutzt und waren zu Fuß an den Strand gegangen, wo sie das Glück hatten, bei einem beliebten Eiscafé einen der raren Tische auf der Promenade zu ergattern. Halb im Schatten unter einem Schirm hatten sie es sich gemütlich gemacht und beobachteten die Leute, die an ihnen vorüber zogen.
Viele von ihnen waren als Touristen zu erkennen, weil sie sich so anders benahmen als Franzosen, anders angezogen waren oder schlichtweg lautstark in einer anderen Sprache redeten.
Es war für die Jugendlichen leicht zu erkennen, bei welchen es sich um Amerikaner handelte, nicht weil sie englisch sprachen, sondern weil sie ein so unverkennbar großspuriges Auftreten hatten. Und viele von ihren waren wirklich fett, trugen Hawaiihemden, weiße Anglerhüte und Bermudas mit Flipflops.
Lucien, der bereits sein Leben lang in Biarritz lebte, war jeden Sommer aufs Neue verwundert darüber, dass es wirklich Menschen gab, die so herumliefen. Wie ein Vorurteil auf zwei Beinen.
»Hört jetzt zu lästern auf, Jungs. Das gehört sich auch nicht«, schmunzelte Madame Walace und die Jugendlichen verloren auch das Interesse daran, als ihre Eisbecher serviert wurden.
»Die kommen doch auch nur hierher, um ins Casino zu gehen und um hinterher zuhause angeben zu können, dass sie in Europa waren. Als würden die Kultur mitnehmen wollen. Geld verspielen könnten sie doch auch in Las Vegas«, Lucien leckte sich etwas Erdbeersoße von den Lippen und schaute weiter auf die flanierenden Urlauber.
»Aber dann hätten wir hier nichts von ihrer Kohle«, sagte Etienne und Madame Walace nickte.
»Es ist vollkommen egal, warum die Leute hier her kommen, solange sie es tun. Wir profitieren davon. Denk’ nur, wenn dein Vater keine Transatlantikflüge machen würde, würden wir ein weniger bequemes Leben haben. Es würde allen hier nicht so gut gehen, weniger Cafés, weniger Geschäfte. Es wäre trostlos hier ohne die Touristen aus dem Ausland.«
Lucien nickte nur. Die beiden hatten ja Recht und er wusste das auch. Er amüsierte sich dennoch über die Leute, die kamen, sich daneben benahmen und hinterher so taten, als hätten sie die Reise gemacht, um ihren Horizont zu erweitern. Dabei könnte er wetten, dass von den dicken Amerikanern keiner die französische Küche auch nur probiert hatte, sondern bei Burgern und Pommes geblieben war, wie sie es gewohnt waren.
Franzosen galten wiederum bei vielen als unhöflich, weil sie sich oftmals kategorisch weigerten, jemanden, der sie auf englisch ansprach, auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Die Wahrheit jedoch war, dass die meisten seiner Landsleute schlichtweg schlecht in dieser Sprache waren. Er selbst, Lucien, war es nicht, was er seinen Onlinefreunden aus England verdankte. Aber er war nur einer von vielen. Franzosen sprachen oft besser Deutsch als Englisch.
»Und wie habt ihr vor, den Rest des Tages zu verbringen?«, fragte Madame Walace, nachdem die Eisbecher leergefuttert waren.
»Vermutlich wäre es das Vernünftigste, Hausaufgaben zu machen«, murmelte Lucien, doch dann lachte er. »Aber ich bin ja nicht Mathieu Grantaine, der sich den ganzen Tag über seinen Büchern den Hintern platt sitzt.«
Seine Mutter nickte nur. Noch vor einer Woche hätte sie gesagt, dass er sich ruhig etwas von dem strebsamen Schulsprecher abgucken konnte, der sicher ein gutes Abitur ablegen und auf eine Spitzen-Universität gehen würde. Doch diese eine Woche erschien ihr nun wie ein ganzes Leben und sie würde sicher nicht von ihrem Sohn verlangen, seine Zeit mit Schularbeiten zu verbringen, wenn er genauso gut Spaß haben konnte.
»Wie wäre es, wenn wir in die Spielhalle gehen, Etienne?« Die meisten Etablissements, in denen man Geld verspielen konnte, waren für Jugendliche verboten, doch es gab ein Arcade, nach dem Vorbild japanischer Videospielhallen, in der war das anders. Man zahlte dort einen kleinen Eintrittspreis, bekam ein leuchtendes Armband, mit dem man alle Spiele aktivieren konnte und wenn die Zeit um war, erlosch es und man konnte dann entweder neue Spielzeit kaufen oder die Halle verlassen.
Der hochgewachsene Jugendliche nickte und Muriel verabschiedete sich von den beiden.
»Hast du Geld dabei, Cheri? Oder soll ich euch was mitgeben? Für eine Cola oder einen Hotdog?«
»Nein, ist gut. Ich hab genug dabei. Bis heute Abend dann.«
»Bleibt nicht zu lange und wenn du Kopfschmerzen bekommst, hörst du auf, ja?«
»Jaaaa, Mum«, kicherte Lucien und machte sich mit Etienne auf den Weg, während Madame Walace ihm nachsah, sich sicher, dass er nicht tun würde, um was sie ihn gebeten hatte. Denn so waren Jugendliche nun einmal. Sie taten immer das Gegenteil von dem, was sie sollten.
Sie seufzte und machte sich auf den Heimweg.