Lucien hatte fast den ganzen Tag zwischen Wachen und Ohnmacht verbracht, nachdem er einfach zusammengebrochen war. Der Schreck seiner Eltern, die schiere Panik, dass ihnen ihr Junge auf den Fliesen ihrer Küche wegsterben könnte, war fast greifbar gewesen. Mit einem Notarztwagen und Blaulicht war der Rothaarige ins Krankenhaus gefahren und stationär eingeliefert worden, wo er die letzten Tage zu Tode gelangweilt in seinem Bett gelegen hatte und alle naselang von einer Schwester gepikst worden war.
Auch in die Röhre hatte er erneut gemusst, um den Zustand seines Tumors zu untersuchen.
»Was war es denn nun, Doktor? Er kann doch nicht einfach so umfallen.« Madame Walace saß am Bett ihres Sohnes, der desinteressiert an seinen Fingernägeln herumkratzte.
»Nun, Madame, leider doch. Das ist bedauerlicherweise eine Begleiterscheinung der Erkrankung. Ohnmachten, Sehstörungen, starke Schwindelanfälle, Verlust des Gleichgewichtsempfindens. Hattest du das schon vorher einmal, Lucien?«
Der zuckte die Schultern. »Glaub’ nicht. Also ich bin noch nie abgeklappt. Ich meine nach der Diagnose.«
Seine Mutter nickte leicht. Richtig, durch einen ähnlichen Vorfall hatten sie erst erfahren, dass Lucien krank war. Nur dass er sich dieses Mal nicht vorher erbrochen hatte.
»Was kann man denn da machen, um so etwas zu verhindern? Also wenn er spürt, dass es ihn überkommt, kann er dann gar nichts tun?«
»Im besten Fall setzt er sich hin und lehnt sich an, hält den Körper ruhig, damit sich der Gleichgewichtssinn einpendeln kann. Wirklich verhindern kann man Ohnmachten nicht, das ist wie mit den epileptischen Anfällen. Zur Vorbeugung kann er nur die Medikamente nehmen, möglichst täglich. Aber so etwas hattest du noch nicht, hab ich das richtig in deinem Patientenbogen gelesen?«
»Nope.«
»Zuckungen in Händen, Beinen oder anderen Muskelgruppen?«
»Nö. Na, doch. Manchmal zittern mir schon die Hände, als wär’ ich so’n Spastiker mit Parkinson.«
»Lucien, bitte.«
Der Jugendliche zuckte nur mit den Schultern. »Geht aber oft schnell wieder weg.«
»Auf jeden Fall behalten wir dich noch ein paar Tage hier und bauen dich etwas auf, dann kannst du wieder nach Hause und zur Schule. Nur, ich muss dir nicht sagen, dass du dich schonen musst. Es wird leider immer nur temporär besser werden, das weißt du, nicht?«
»Ja, Doc. Ich kann die Uhr über meinem Kopf sehen.«
Madame Walace schloss mit einem entnervten Schnauben die Augen. Sie hasste Luciens respektlose Sprüche seine Krankheit betreffend, doch der Arzt lächelte nur. Er war den Galgenhumor gerade junger Krebspatienten gewöhnt. Diese versuchten, durch zynische und freche Sprüche von ihrer Angst abzulenken und sich selbst Kraft zu geben.
»Gut, dann ruh’ dich etwas aus. Ich denke, heute werden wir dich nicht zur Ader lassen, du kannst dich also entspannen. Vielleicht gehst du mit deiner Maman in der Cafeteria was nettes essen oder so. Ich verabschiede mich erst mal. Madame Walace«, der Doktor reichte ihr die Hand und verließ das Krankenzimmer.
»Schau’ mich nicht so an«, murrte der Rothaarige, als sie allein waren. »Ich bin noch nicht tot!«
»Das musst du schon mir überlassen. Du hast nicht gesehen, wie es ausgesehen hat, als du einfach umgefallen bist, weiß wie ein Laken im Gesicht.« Muriel verzog ihre fein geschnittenen Lippen, die sie ihrem Sohn vererbt hatte.
»Nee, ich hab’s nur gefühlt. Warum haben wir Fliesen in der Küche? Ich hab nen blauen Fleck auf der Schulter davon.«
Die Frau musste unwillkürlich lachen. »Ich polstere die Wohnung für dich.«
»Cool«, Lucien grinste, bevor er wieder ernst wurde. »Na, so hab ich mir die Ferien vorgestellt. Die erste Woche ist fast um und bis zum Wochenende hänge ich hier bestimmt noch fest.«
»Und keiner ist da, der dich besucht.«
»Richtig. Etienne hat mich nur am Telefon halb zusammengebrüllt vor lauter Sorge.«
»Und was ist mit deinem anderen Schulfreund? Mathieu?«
Der Rothaarige zuckte fast unmerklich. »Was soll mit dem sein?«
»Ich hätte schon gedacht, er kommt dich besuchen. Immerhin war er doch auch bei uns zuhause.«
»Er hat mir Hausaufgabenkacke gebracht. Schulsprecher eben. Streber hoch zehn und ein Teacher’s Pet. Warum sollte der mich besuchen kommen? Wir sind keine Freunde.«
Muriel betrachtete das ernste Gesicht ihres Sohnes sehr genau, während er sprach. Sie glaubte, eine gewisse Schwingung in seiner Stimme herauszuhören und seine Worte klangen gezwungener als sonst, als müsste er sich dazu treiben, diese wenig netten Dinge zu sagen, um von etwas abzulenken. Aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein, weil sie diese Szene noch nicht vergessen hatte. Muriel hasste es, wenn ihre Neugier und ihre Fragen nicht beantwortet wurden, doch direkt fragen konnte sie ihren Sohn nicht. Sie wusste, er würde ihr nicht die Wahrheit sagen, wenn es da etwas gäbe, das in die Richtung ihrer Vermutung ginge. Es fiel ihm ohnehin schwer, über seine Gefühle zu sprechen, ob es nun seine Krankheit oder Liebesdinge betraf. Über solche Sachen redeten Jugendliche in dem Alter nur selten mit ihren Eltern, Madame Walace wusste noch, dass sie es nicht getan hatte. Die Teenies redeten eher mit dem besten Freund darüber. Wenn also überhaupt jemand etwas wissen dürfte, dann war es Etienne.
»Vielleicht gibt er aber einen guten Freund ab. Was hast du zu verlieren?« Sie lächelte milde und Lucien zog eine Augenbraue hoch.
»Meine Nerven. Mathieu ist ein Trottel«, das leise Hüpfen in seiner Brust ignorierte der Rothaarige stur. Er würde sich eher die Zunge abbeißen, als seiner Mutter zu sagen, dass er sich schon wünschte, den Blonden zu sehen. Das ging sie nichts an, sie würde nur einen falschen Eindruck bekommen. Sie forschte ohnehin schon genug in seiner Mimik herum, er war nicht so dumm, das nicht zu bemerken.
»Ich brauch’ ne Zigarette. Ich durfte drei Tage nicht rauchen, Mann«, murrte Lucien und drückte den Kopf in sein Kissen.
»Vielleicht ist es eine gute Gelegenheit, es dir abzugewöhnen?«
»Wofür denn, Mum? Für eine gesunde Zukunft? Im Gegenteil. Der Doktor sagt, ich hab Anrecht auf medizinisches Marihuana! Und wie ich nicht aufhören werde, zu rauchen. Der Tumor tötet mich schneller als jede Kippe braucht, um mir Lungenkrebs zu verpassen.«
Madame Walace nickte. Er hatte Recht, es spielte nun auch keine Rolle mehr. »Also jetzt auch noch Kiffen?«
»Medizinisches Marihuana, Maman. Gegen die Schmerzen und die Nebenwirkungen der Medikamente. Einen Versuch ist’s wert. Wenn mein Geolehrer schon meint, ich komm’ betrunken zur Schule, geb’ ich ihm eben einen Grund, sich aufzuregen. Wenn Alkohol helfen würde, würde ich den nehmen, aber der verschlimmert nur alles. Fühl’ mich auch ohne manchmal wie besoffen.«
Muriel streichelte Lucien die Hand. Sie war kalt.
»Wollen wir ein bisschen vor die Tür gehen? Damit du eine Zigarette bekommst und etwas frische Luft?«
»Ja«, mühsam hievte der Jugendliche sich aus dem Bett und richtete seine Trainingshose, bevor er sich ein frisches T-Shirt anzog und seine Kapuzenjacke überwarf. Er schwankte nicht mehr und auch seine Gesichtsfarbe hatte sich wieder normalisiert. Würde nicht die Kanüle in seinem Handrücken stecken, durch die er seine Medikamente bekam, würde Muriel nicht denken, dass er die letzten drei Tage vollkommen erledigt und lethargisch im Bett verbracht hatte. Drei Tage, in denen die Frau jede Minute mit einem Anruf vom Krankenhaus gerechnet hatte, das ihr sagen würde, Lucien hätte es nicht geschafft. Drei furchtbar lange Tage voller Angst und ein Ausblick auf die Zukunft, die unweigerlich kommen würde.
»Los gehts, Mum. Schau’ nicht so, Trauerkloß.«
»Sei’ nicht so frech«, schmunzelte sie und erhob sich, um mit ihrem Sohn einen kleinen Spaziergang durch den Krankenhauspark zu machen.
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Bestimmt zwei Kilo schwerer stieg Mathieu am Samstag in den Zug Richtung Biarritz. Er und sein Großvater hatten die ganze Woche mit Angeln verbracht, hatten Karten gespielt, ernsthafte Gespräche geführt und sich abends Quizshows im Fernsehen angesehen. Langweilig, hätte Celeste gesagt, doch für Mathieu war es himmlisch gewesen. Eine Woche, in der er sich wie ein vollwertiger Mensch und kein Anhängsel gefühlt hatte. Manchmal wünschte der Blonde sich, er könnte immer bei seinem Opa leben, doch das ging schon deswegen nicht, weil es in seinem Dörfchen keine weiterführende Schule gab.
»Dass du mir ja gut auf dich aufpasst«, rief der Großvater Mathieu durch das geöffnete Abteilfenster zu.
»Immer doch, Opa.«
»Und tu’ nicht zu viel für die Schule!«
Der Jugendliche lachte und setzte sich, als sich der Zug in Bewegung setzte. Es war eine super Idee gewesen, rauszufahren. Selbst den Schulstoff, den er wegen der Verwirrung und dem Chaos mit Lucien vernachlässigt hatte, hatte er nachholen können. Er fühlte sich erholt und gewappnet, es mit der Schlange Celeste und den Hornissen in seinem Elternhaus aufzunehmen.
Zu seiner großen Überraschung war sein Vater am Bahnhof, als er schließlich in Biarritz angekommen war und in die Halle trat. Mathieu hatte eigentlich fest damit gerechnet, dass er den Bus würde nehmen müssen, weil sich sonst eigentlich nie jemand die Mühe machte, ihn von irgendwo abzuholen, während Celeste selbst den Kilometer bis zur Schule manchmal gefahren wurde.
»Da bist du ja«, begrüßte ihn Auguste brummig und geschäftsmäßig.
»Ja. Pardon, der Zug stand eine Weile an einem Zwischenbahnhof.« Der Jugendliche spürte bereits wieder einen kleinen Klumpen in seinem Magen, verdrängte das Gefühl aber. Seine Laune war einfach zu gut, um sie sich nehmen zu lassen.
»Hattest du Spaß?«
»Oh ja. Ich hab noch nie so viel Fisch gegessen«, schmunzelte der Blonde.
»Nun denn. Lass’ uns aufbrechen.«
Wie schon auf der Hinfahrt zum Bahnhof verlief die Rückfahrt nahezu schweigend und als sie in dem etwas ruhigeren Viertel ankamen und die zurückversetzte Auffahrt zu ihrem Haus hochfuhren, fühlte sich Mathieu froh, wieder daheim zu sein.
»Ach ja, deine ... deine Stellvertreterin war da, während du weg warst. Sie hat irgendwelches Zeug für die Weihnachtsfeier gebracht. Heiligabend ist noch fast zwei Monate hin, welch ein Wahnsinn. Wir haben gerade Anfang November.«
Der Schulsprecher nickte leicht. »Zwei Monate ist wenig, wenn man was organisieren soll. Besser mehr als zu wenig Zeit, das ist voll Stress. Wie die blöde Halloweenparty. Gerade mal zwei Wochen, und das nur, weil ich auf den Ausflug mit sollte ...«
»Jetzt beschwer’ dich mal nicht über deine Privilegien«, murrte Auguste und Mathieu verstummte wegen seines Tons. Privilegien ... an ihm blieb alles hängen und alle verließen sich darauf, dass er die Arbeit machte. Lucien hatte wieder mal Recht, dieser Arsch. Und Monsieur Grantaine bezeichnete das als eine Vergünstigung. Dass Mathieu nicht lachte. Wenn es sich nicht unglaublich gut für eine Uni-Bewerbung machen würde, würde der Blonde sich das alles gar nicht antun.
Verstummt stieg er aus, nahm seine Tasche vom Rücksitz und betrat nach seinem Vater die Villa, in der ein feiner Zitronenduft in der Luft hing. Fatma, die Haushälterin, war offenbar gerade beim Hausputz.
»Pack’ aus, dann wird deine schmutzige Wäsche auch gleich gemacht«, bestimmte Auguste, wandte sich um und verschwand im Wohnsalon.
So viel zu der herzlichen Begrüßung seiner Familie. Außer der Haushälterin und seinem Vater schien niemand da zu sein. Mathieu seufzte und stiefelte die Treppe hoch. Was er sich jedes Mal aufs Neue erhoffte. Er sollte doch inzwischen wissen, dass er hier die zweite Geige spielte. Oben packte er seine getragenen Kleider aus, verstaute das, was noch sauber war, wieder im Schrank und räumte auf, bevor er den Kram in die Waschküche trug.
Was sollte er nun mit dem angefangenen Nachmittag anfangen?
»Mathieu?!« Sein Vater stand am Fuß der Treppe und rief nach oben.
»Ich bin hier unten, Papa«, antwortete der Jugendliche, als er aus der Kellertür kam. »Was ist?«
»Ich hab ganz vergessen, dass ich ein Rezept für deine Mutter einlösen sollte. Würdest du gehen? Ich muss einen wichtigen Schriftsatz fürs Gericht vorbereiten.«
»Klar. Ich hab eh nichts vor. Wo ist es?«
»Hier. Und hier hast du ...«, Monsieur zog die Brieftasche hervor, die er immer in der Hosentasche trug, »zwanzig Euro. Du musst bestimmt zuzahlen.«
Der Blonde schaute auf den kleinen Beleg und bekam einen trockenen Mund. Er kannte die Apotheke, die das Medikament ausgeben sollte. In dem gleichen Haus wohnte Lucien. Mathieu konnte es nicht verhindern, sein Herz begann zu rasen.
»O-okay. Ich bin unterwegs.«
»Trödle nicht herum.«
Der Jugendliche schob die Sachen in seine Tasche und nahm seine Jacke. Es war zwar nicht wirklich kalt, das wurde es in Biarritz fast nie, doch der Wind vom Meer war frisch.
»Bis später«, rief Mathieu ins Foyer zurück, holte sein Rad und machte sich auf den Weg. Je näher er der Apotheke kam, umso unruhiger wurde er. Er spürte deutlich, dass seine Hände feucht wurden und sein Blick zu der Feuerleiter wanderte, die auf eine schmale Gasse zwischen dem Haus und einem weiteren hinausging. Die Gardinen waren zugezogen und es stand auch kein Fenster offen. Nichts deutete darauf hin, dass Lucien zuhause war.
Pflichtbewusst erledigte Mathieu den Auftrag und löste das Rezept für seine Mutter ein. Es waren ihre Tabletten gegen schlechte Laune, wie sie die Antidepressiva nannte, die sie manchmal einnahm. Sie hatte ihnen diesen dummen Namen gegeben, damit ihre Kinder nicht mitbekamen, dass sie manchmal düstere Phasen hatte - als wären Mathieu und Celeste erst drei und zu unreif, um zu verstehen, was »Gute Laune-Pillen« waren. Die kleine Packung verstaute er zusammen mit dem Wechselgeld in seiner Brusttasche und wollte gerade das Rad wieder aus dem Fahrradständer herausziehen, als das dröhnende Bellen eines Hundes seine Aufmerksamkeit erweckte.
Oh weh, hoffentlich kam Luciens Riesenkampftöle jetzt nicht um die Ecke. Der Hund kannte Mathieu inzwischen und würde ihn bestimmt anspringen. Doch Sasha wog fast mehr als der Jugendliche selbst. Andererseits würde der Rothaarige sein geliebtes Tier schon zu dessen eigener Sicherheit nicht frei und ohne Aufsicht herumrennen lassen.
Und tatsächlich, Mathieu wollte sich gerade wieder auf das Rad schwingen, als er die bekannte Stimme hinter sich hörte.
»Verfolgst du mich jetzt schon bis nach Hause, Grantaine? Ich dachte, das machen nur Hunde.«
Lucien lachte und Sasha ließ ein erneutes Bellen hören, ein sonderbar kieksendes, als wäre es als eine freundliche Begrüßung gemeint und nicht als Drohung, seinen Herrn nicht zu belästigen.
Der Blonde, der die ganze Zeit einen angespannten Rücken gehabt hatte, lächelte leicht und spürte, wie die Verkrampfung nachließ und er endlich die Schultern sinken lassen konnte. Er drehte sich zu dem Anderen um, dessen dunkelrotes Haar verwegen in sein Gesicht fiel und in der blassen Sonne kühl schimmerte. Mathieu war immer wieder erstaunt, wie gut Lucien aussah, ganz ohne sich darum zu bemühen.
»Ob du es glaubst oder nicht, ich war nicht deinetwegen hier.«
»So ein Jammer«, grinste der Rothaarige, steckte sich eine Zigarette an und blieb auf der Höhe des Blonden stehen, bevor er murmelte: »Ich dachte, du hättest gern eine Wiederholung von neulich gehabt.«
Lucien lachte schelmisch und ging weiter, während Mathieu feuerrot anlief und ihm folgte.