»Du ... bist ziemlich ... also, ziemlich forsch«, murmelte Lucien perplex über Mathieus Bekenntnis.
»Warum? Ist es nicht normal? Ist es wirklich so viel anders als wenn einer von uns beiden ein Mädchen wäre? Ich mein’ ... auch wenn es kaum einer je bemerkt, aber ich bin ein Kerl. Und ich bin genauso neugierig auf das ganze Zeug. Nur weil ich mir nicht jeden Abend einen runterhole, wie andere das vielleicht machen, heißt das nicht, dass ich kein ... Interesse habe.«
»Du ... na ja, bei uns würde das aber anders laufen ...«
»Das ist doch vollkommen egal. Ich will keine Analyse über irgendwelche Anatomie anfertigen, ich möchte einfach ...«, der Blonde bemerkte, wovon er eigentlich sprach und lief knallrot an. »Entschuldige ... Oh Gott, bin ich doof. Es tut mir leid.«
Lucien hielt ihn fest, als er sich abwenden wollte und zog ihn in seine Arme. »Bist du nicht. Hörst du mein Herz?«
Mathieu nickte.
»Wenn ich nicht an dem Tumor sterbe, dann weil du mich immer wieder aufs Neue überraschst, Grantaine.«
»Ich wollte keinen Druck machen«, murmelte der Blonde in den Stoff von Luciens Sweater.
»Ich weiß. Ich sagte dir schon, dass ich nichts überstürzen möchte. Aber ich bin auch ... na, eben auch ein Kerl und ticke da genauso wie du. Da ist es umso besser, wenn wir uns einig sind, oder?«
»Wir sind total durchgeknallt. Nach nur einem Tag reden wir schon über so was ...«
Der Rothaarige sah Mathieu ins Gesicht und grinste. »Na, genauso genommen geht das mit uns schon ein bisschen länger als einen Tag. Du hättest es am liebsten schon auf dem Spielplatz gemacht, erinnerst du dich?«
Der Blonde presste verlegen die Lippen zusammen und nickte. »Wie könnte ich nicht.«
»Und das davor ... in meinem Bett ... also ...«
»Das war schön. Überraschend, aber schön.«
»Ja, das war es. Ich würde das jederzeit wiederholen, so oft du willst.«
Mathieu drückte sein Gesicht an Luciens Hals und kicherte. »Hör’ jetzt auf. Mir ist peinlich genug, dass ich damit überhaupt angefangen habe. Jetzt stehe ich da, als wäre ich notgeil. Genauso läufig wie Celeste andauernd, wenn sie davon redet, dass du sie entjungfern sollst ...«
»Was, die hat noch nicht? Da bin ich aber überrascht jetzt.« Lucien machte ein verwundertes Gesicht.
»Genauso überrascht wie sie es wäre, wenn sie wüsste, dass du es auch noch nicht gemacht hast. Sie denkt Wunder, was du für Erfahrungen gemacht hast.«
»Ach, ist doch alles unwichtig«, murmelte der Rothaarige. »Mir geht es nur um dich.«
Der Schulsprecher spürte, wie eine wohlige Gänsehaut über seinen Rücken kroch, als Luciens warme Lippen sein Ohrläppchen streichelten, und fühlte sich auf einmal sehr zufrieden und wohl.
»Lass’ uns fertig werden, Grantaine, ich hab keine Lust mehr, hier rumzuhängen.«
»Mit mir, meinst du?«
»Doofkopp. Mit dir schon, nur nicht mehr hier. Mich juckt's überall.«
»Geht’s dir nicht gut?«
»Doch«, entgegnete der Rothaarige. »Der Schwindel ist weg.«
»Und Kopfweh?«
Lucien lächelte. »Nein. Du bist mein Schmerzmittel.«
»Wie das?«
»Na ja ... Etienne meinte, dass ... Glückshormone körperliche Beschwerden lindern und ... na ja ... wir knutschen ziemlich viel und das hat denselben Effekt, nicht? Ich bin nicht so gut in Bio ...«
Mathieu musste grinsen. Lucien war süß, wenn er herumdruckste. Das war der Blonde von ihm nicht gewöhnt und obwohl er sich immer damit brüstete, dass er frei heraus sagte, was er dachte, schien es ihm nicht so leicht zu fallen, wenn es um seine eigenen Gefühle ging. Andererseits hatte Lucien Mathieu ja erst am Tag zuvor gestanden, dass er in diesen Dingen kaum Selbstbewusstsein besaß.
»Ja, das Gehirn schüttet in solchen Fällen Endorphine aus, die berauschen, machen glücklich, lindern Schmerzen und verursachen das Gefühl des ... Verliebtseins ... Denselben Effekt hat man auch beim Essen von Schokolade«, der Schulsprecher lächelte leicht und musste plötzlich lachen. »Aber Knutschen ist mir lieber als dieser Süßkram.«
»Mir auch. Das macht nicht dick.«
»Vielleicht schon?«
»Wir sollten es ausprobieren«, grinste Lucien frech und packte Mathieu erneut, als plötzlich die Klinke heruntergedrückt wurde.
Erschrocken sprangen die beiden Jungen auseinander und starrten die Tür an, die der Schulsprecher nach seinem Reinkommen wieder abgeschlossen hatte.
»Verdammt, Walace, mach’ die Türe auf!«
»Oh Shit, Cartier. Setz’ dich irgendwo hin und tu’ so, als hättest du nicht geholfen, sonst reißt der Alte dir den Arsch auf«, zischte Lucien und schob Mathieu an einen der Tische, wo dieser sich setzte und seinen Kalender aus der Tasche nahm.
Der Rothaarige packte den feuchten Schwamm und schloss auf. Der Geografielehrer stieß die Tür so plötzlich auf, dass er Lucien beinahe an der Schulter traf, und sah sich misstrauisch in dem Raum um.
»Ich wollte mal sehen, ob du hier Däumchen drehst oder tatsächlich was tust. Warum schließt du ab?«
»Damit nicht alle fünf Minuten jemand reinkommt und stört!«, knurrte der Rothaarige patzig und warf den Tafelschwamm in den Eimer, um ihn erneut anzufeuchten.
Monsieur Cartier ließ den Blick schweifen und entdeckte schließlich Mathieu in der Ecke, der mit farbigen Markern seine Hausaufgaben anstrich.
»Was tust du hier, Grantaine?«
»Ich beaufsichtige Luciens Nachsitzen, Monsieur«, entgegnete der Blonde geschäftsmäßig und routiniert.
»Du willst mir weismachen, dass er das hier allein geschafft hat in der letzten Stunde?«
»Ja, Monsieur.«
»Beim Zustand der Arbeitsmaterialien hier sollte ich Lohn für die Scheiße verlangen«, brummte Lucien und wischte ein zweites Mal über die Tafel, die endlich sauber zu werden schien.
»Dein Lohn ist die Disziplin, die du dadurch lernst!«, donnerte Monsieur Cartier.
»Dann sollten Sie Nachhilfe bei meiner Mutter nehmen, wenn Sie mich so was lehren wollen. Das hier ist pure Zeitverschwendung, die ich genauso gut zum Lernen hätte verwenden können. Aber nein, Sie wissen ja jetzt, dass das bei mir ohnehin keinen Sinn mehr macht, nicht?« Lucien deutete mit den Fingern eine Pistole an, die er sich an die Schläfe hielt.
»Wenn du denkst, damit bei mir irgendetwas zu erreichen, Walace, hast du dich geschnitten. Es ist mir vollkommen egal, was für ein Leiden du mit dir herumträgst. Solange du in diese Schule und in meinen Unterricht gehst, bekommst du keine Extrawurst. Das Gleiche gilt für den Schulsprecher. Man lässt euch Halbstarken ohnehin viel zu viel durchgehen.«
»Na, wenn Sie das sagen, dann muss es stimmen. Kann ich dann weitermachen? Ich muss mir noch einen Pockenvirus in dem versifften Kartenzimmer einfangen, nachdem ich schon die Schwindsucht vom Schwamm bekommen habe.«
Mathieu prustete in seinen Kalender und Monsieur Cartier sah von Einem zum Anderen.
»Unglaublich!«, knurrte der Mann und verließ den Raum mit einem Türenkrachen wieder.
»Was ist mit dem, Alter? Der tut gerade so, als hätte er unter Hitler oder Napoleon die Schulbank gedrückt. Bei dem Riesenstock in seinem Arsch wundert mich, dass er sich überhaupt bewegen kann ... Da ist ja das Mathe-Walross entspannter. Cartier bekommt bestimmt keinen Sex von seiner Alten, ich sag’s dir.«
»Vielleicht sind seine Arme zu kurz und er kommt nicht ran, um es selbst zu machen«, meinte Mathieu und brachte Lucien damit zum Lachen.
»So, hier sind wir fertig.« Der Rothaarige strich sich einige verirrte Strähnen aus dem Gesicht und zog sich seinen Pullover über den Kopf. Als dabei das T-Shirt ein Stück mit hochrutschte, konnte Lucien den Schulsprecher scherzhaft miauen hören.
»Ich wusste es, Tiger«, grinste der Rothaarige, fummelte einen Zopfgummi aus der Hosentasche und zwirbelte sein Haar zusammen. »Also dann ... Pocken, ich komme. Es kribbelt jetzt schon in der Nase.«
»Warte, ich helf’ dir.«
»Du willst mich nur schwitzen sehen.«
»Eher dabei zusehen, wie du dich bewegst.«
»Wer bespannert jetzt wen?«, grinste Lucien. »Ich bin dir entgegen gekommen, denn ich habe mich ausgezogen.«
Mathieu lächelte schelmisch und strich im Vorbeigehen mit seiner Hand über den Hintern des Rothaarigen. »Du hast noch zu viel an.«
Lucien schluckte schwer und folgte dem Blonden ins Kartenzimmer, wo dieser schließlich nicht nur zusah, sondern tatkräftig mit anpackte. Der Raum war nach zwanzig Minuten kaum wiederzuerkennen und nachdem sie das Fenster geöffnet hatten, war auch ein Großteil des Staubs nach draußen getragen worden.
»Wie lange hat dieses Nachsitzen jetzt gedauert?«, fragte der Rothaarige, nachdem sie fertig waren und sich an dem Waschbecken mit ein paar Taschentüchern wuschen. Mathieu sah auf die Uhr. »Es ist halb fünf. Zwei Stunden.«
»Sorry, dass du hier rumgehangen hast anstatt deinen Schulsprecherkram zu machen«, murmelte Lucien und wusch sich das Gesicht.
»Ach was, dafür hab’ ich doch unter anderem Anais, damit ich nicht alles allein machen muss.«
»Aber du machst das Meiste selbst ...?«
»Na, ich bin wohl irgendwie ein bisschen zu manisch. Mein Vater predigt immer ‘Wenn du willst, dass etwas richtig gemacht wird, dann mach es selbst’ und ich glaube, das ist irgendwie hängen geblieben.«
»Du musst lernen, mal die Kontrolle abzugeben, sonst stirbst du an einem Herzinfarkt, weil du so verkrampft bist.«
»Ich weiß, das hast du mir im Camp schon einmal gesagt, wenn du dich erinnerst.«
»Ich möchte lieber nicht daran denken, was ich da für Mist gebaut habe, wenn ich ehrlich bin ...«
Mathieu lehnte sich leicht an den Rothaarigen. »Ich finde, das hat erstmals das Eis gebrochen, findest du nicht?«
»Weil ich deinen schweren Arsch durch den Wald getragen habe?«
»Das war unter anderem eine intensive Erfahrung, die ich gern vergessen wollen würde. Nicht wegen dem, was du getan hast, sondern wegen der Angst, die ich ausgestanden habe, bevor du mich gefunden hast ... und dem Schreck, dass du meinetwegen zusammengebrochen bist. Wenn ich damals gewusst hätte, dass du krank bist, hätte ich das nie zugelassen!«
»Mit ein Grund, warum du es nie hättest erfahren sollen«, murmelte Lucien und rieb sich das Gesicht und die Hände trocken.
»Bedauerst du, dass ich es weiß?«
»Nein. Nicht mehr. Ich ... find’s nur schade, dass du damit leben musst ... später.«
»Meinst du, wenn ich es nicht gewusst hätte, hätte mich der Verlust meines Lieblingsfeindes weniger getroffen?«
»Vielleicht ...«
»Da kennst du mich aber schlecht, Lucien.«
»Das stimmt. Ich weiß zu wenig über dich.«
Mathieu lächelte. »Dann ändern wir das halt. Los, zieh’ dich an, du Schnecke. Ich muss noch mal in mein Zimmer, dann können wir. Außerdem müssen wir Cartier Bescheid sagen, dass du fertig bist.«
Während Lucien die ganze Zeit nörgelte, dass er das Gefühl von Wanzen unter seiner Kleidung hatte, gingen sie zum Lehrerzimmer, um sich abzumelden. Monsieur Cartier, der über ein paar Arbeiten zu sitzen schien, erhob sich schnaufend und ging, um sich den Raum anzusehen, während der Rothaarige Mathieu zum Zimmer der Schülervertretung folgte. Es war abgeschlossen, was bedeutete, dass Anais längst weg war.
»Gott, ich will duschen, jetzt sofort«, maulte Lucien und kratzte sich ungeniert, was den Schulsprecher zum Lachen brachte.
»Wären wir allein in der Schule, würde ich sagen, geh’ in die Turnhalle, aber ...«
»Neee, ich leg’ hier keinen Strip hin, ich mach’ das hübsch zuhause, wo ich staubfreie Klamotten habe. Magst du mitkommen? Also ...«, der Rothaarige kicherte etwas verlegen, »zu mir, nicht mit unter die Dusche ...«
»Damit ich mich wieder über die Feuerleiter schleichen muss?«
»Das war doch nur, weil wir eingepennt sind und meine Mum uns ertappt hätte. Wenn wir wach sind, könnte man es auf Hausaufgaben oder so schieben.«
»Und das würde sie glauben? Ich meine, sie weiß doch, dass du im Grunde dieses ganze Zeug gar nicht machen müsstest. Oder würde sie dieses Spiel mitspielen, weil sie glauben muss, ich wüsste nicht Bescheid?«
Lucien schürzte die Lippen. »Sie war schon total sauer, dass ich es Etienne erzählt habe. Aber sie kann nicht erwarten, dass ich es meinem besten Freund nicht sage, oder? Einerseits würde sie es am liebsten wie ein schändliches Geheimnis vertuschen, andererseits mich am liebsten in Watte packen und mich nicht mehr aus dem Haus lassen, es jedem erzählen, damit mich jeder wie ein rohes Ei behandelt. Von mir aus soll sie ruhig wissen, dass du es weißt. Sie denkt ja eh, wir hätten an dem Tag, als du bei uns warst, fast in meinem Bett gevögelt ...«
Mathieu machte große Augen. »Wie bitte?«
»Die Kratzer, Mathieu. Ich hatte kein Shirt an, wenn du dich erinnerst. Sie hat die gesehen, hatte ich dir gesagt. Was denkst du, was sie meinem Vater alles erzählt haben könnte, was los war? Und als ich im Krankenhaus war in den Ferien, hat sie versucht, mich auszuhorchen, ob du mich wohl besuchen kämst und so.«
»Wenn ich da gewesen wäre und es gewusst hätte, hätte ich es bestimmt getan.«
»Passt schon, du hättest nicht viel von mir gehabt, ich war die ersten drei Tage eh total weggetreten, wie ich erzählt hab. Hätte sich nicht gelohnt, nur eine finstere Aussicht auf das, was irgendwann kommt.« Der Jugendliche warf sich auf einen Stuhl und begann, sich mit seinem Hausschlüssel die Fingernägel sauber zu machen.
»Hmmm«, entgegnete der Blonde und räumte seine Bücher aus dem Schrank in seine Tasche, um sie für die Hausaufgaben zuhause zu haben.
Sie zuckten beide zusammen, als die Tür ohne Anklopfen aufgerissen wurde und Monsieur Cartier eintrat.
»Ja, bitte?«, sprach ihn Mathieu beinahe huldvoll an, wie ein König, immerhin war dies sein Zimmer.
»Sind Sie mit meiner Arbeit nicht zufrieden, Monsieur? Dann sollten Sie demnächst wieder die Putzkolonne ranlassen.«
»Deine Frechheiten werden dir irgendwann auch noch vergehen, Walace.«
»Oh, da können Sie sich drauf verlassen. In etwa einem Jahr dann, wenn ich sterbe. Aber vielleicht auch schon morgen, wer weiß das in meinem Zustand schon so genau. Erfreuen Sie sich lieber noch etwas an mir, solange Sie mich haben, bevor Sie vor Langeweile umkommen.«
Der Geografielehrer ließ zutiefst irritiert den Blick zwischen den beiden Jungen hin und her wandern. Mathieu ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihn das Gerede seines Freundes selbst traf und wie groß seine Angst um Lucien war, denn das ging den Mann vor sich absolut nichts an. Dieser zog ein Blatt Papier aus einer Mappe und hielt es dem Schulsprecher hin. Es war die Bestätigung für die abgeleisteten Strafstunden.
»Ihr solltet jetzt gehen, ihr habt sicher Hausaufgaben zu erledigen«, knurrte Monsieur Cartier und verließ mit einem Türenschlagen den Raum wieder.
»Junge, den haben sie in einer Scheune aufgezogen, der weiß nicht, was Klinken sind«, brummte der Rothaarige und sah zu Mathieu, der ihn missmutig ansah.
»Ist etwas?«
»Warum sagst du solche Sachen?«
»Was genau?«
»Du weißt schon, dieses Gequatsche davon, dass du morgen sterben könntest!«
Lucien stand auf und streckte sich, bevor er auf den Blonden zuging und ihn bei der Hand nahm. »Weil es wahr ist. Etwas übertrieben vielleicht, aber soll sich der Spinner ruhig ein bisschen blöd vorkommen.«
»Ich bin es, der sich blöd vorkommt! Du machst dir keine Vorstellung, wie sehr du ...«, Mathieu brach ab und drehte sich von dem Rothaarigen weg. Dieser seufzte und legte seine Wange auf die Schulter des Blonden.
»Tut mir leid ...«
»Macht ... macht es dir was aus, mich nicht ständig daran zu erinnern?«
»Ich geb’ mir Mühe.«
»Gut, dann lass’ uns gehen. Ich würde gern noch etwas mit zu dir kommen, wenn ich darf.«