Mathieu klapperte mit seinem Kuli herum und starrte den Zeiger der Uhr an, als könnte er ihn dadurch dazu überreden, schneller zu ticken. Die Stunde wollte und wollte nicht vergehen und der Stoff, den Monsieur Cartier vorbetete, war so elend langweilig, dass selbst der Blonde Schwierigkeiten hatte, bei der Sache zu bleiben.
Es verging eine Weile, bis Mathieu den Blick Etiennes spürte, der die unruhige Kuli-Spielerei bemerkt hatte und jetzt nachdenklich vor sich hin schmunzelte.
»Ist etwas?«, flüsterte der Schulsprecher sehr leise. »Kann ich dir helfen?«
Der Junge mit dem mausgrauen Haar vertiefte sein sinnendes Lächeln und schüttelte nur den Kopf.
Verwirrt darüber, sah Mathieu wieder nach vorn und versuchte, sich in den letzten Minuten etwas zusammenzueißen. Seufzend betrachtete er seine Handschrift. Das Blatt war eine Katastrophe, als wäre eine Krähe mit Tinte an den Füßen darüber gerannt. Er hatte lange nicht mehr so geschmiert, er hasste es, wenn seine Aufzeichnungen nicht ordentlich waren. Doch dafür brauchte es ein Mindestmaß an Konzentration und das hatte er nicht. Nicht mehr, nachdem Lucien das Klassenzimmer verlassen und ihm vorher den Zettel dagelassen hatte. Die Vorfreude, nach einer Woche wieder mit dem Rothaarigen allein sein zu können, hatte alles in Mathieus Gehirn verdrängt und endlich, zum ersten Mal in seinem Leben, verstand der Jugendliche, warum einem plötzlich alles andere so unwichtig wurde, wenn man jemanden gefunden hatte, den man gern hatte. Er hatte das vorher einfach nicht geglaubt, doch auch er hatte das Bedürfnis, alle seine Pflichten schleifen zu lassen, um jede Minute frei mit Lucien verplanen zu können.
Seufzend legte der Blonde seine Stirn auf die kühle Tischplatte. Was fuhr er eigentlich für einen rosaroten Kitschfilm? Es war ja nicht so, als wäre der Rothaarige sein fester Freund oder so. Sie knutschten hin und wieder. Über mehr hatten sie doch noch gar nicht gesprochen. Oder musste man das vielleicht gar nicht, weil man es einfach irgendwie wusste?
Als es klingelte, rutschte Mathieu das Herz in die Hose. Er packte sein Zeug zusammen, fahrig, ließ seinen Stift fallen und hatte plötzlich ein ganzes Ameisennest in seinem Bauch, das wuselte und kribbelte.
»Hier, vergiss’ den nicht«, drang die sanfte Stimme Etiennes in sein Ohr, der den Kuli wieder aufgehoben hatte.
Der hochgewachsene Junge hatte etwas ungemein Beruhigendes an sich und Mathieu lächelte.
»Ihr habt es gut, ihr aus dem Wirtschaftszweig. Ihr habt jetzt eine Freistunde. Ich bin richtig neidisch«, sinnierte Etienne und Mathieu wurde das Gefühl nicht los, dass der Junge ihm irgendetwas sagen wollte. Oder andeuten. Wusste Etienne etwa, dass Lucien ihm einen Zettel geschrieben hatte?
»Was«, setzte der Blonde an, musste sich aber räuspern, »was hast du denn dafür jetzt?«
»Literatur«, antwortete der Aschblonde mit einem Gesicht, als wäre das für ihn die pure Wonne. »Vielleicht beneide ich euch doch nicht.« Etienne grinste leicht, nickte Mathieu zu und verließ das Klassenzimmer. Der Schulsprecher sah ihm einen Moment nach, zog die Augenbraue hoch und schüttelte schließlich den Kopf. Sie alle wussten, dass Etienne manchmal ein Sonderling war, den man nur schwer durchschauen konnte.
Mit dem Rucksack über der Schulter machte der Blonde sich auf den Weg. Während der Freistunden konnte man sich in der Pausenhalle, der Cafeteria oder der Bibliothek aufhalten. Bei dem kühlen Seewetter ging kaum einer nach draußen, obwohl die Temperaturen nur nachts unter fünfzehn Grad fielen. Es war windig und es roch selbst an der Schule noch nach Meer.
Verlegen blieb Mathieu in der Nähe der Kellertüren stehen. Eigentlich war es den Schülern nicht erlaubt, da hinunter zu gehen, doch viele taten es, um heimlich zu rauchen. Auch Lucien hatte man da schon einige Male erwischt und immer dann war der Fall bei Mathieu gelandet, auf den der schon immer so sture, damals noch schwarzhaarige Jugendliche nie gehört hatte. Irgendwie schien das dem Schulsprecher ein ganzes Leben her zu sein. So viel hatte sich verändert, seit das neue Trimester begonnen hatte.
Mathieu wartete, bis die letzten Schüler in ihren Klassenzimmern verschwunden waren und der Flur leer da lag. Leises Stimmengewirr drang aus der Pausenhalle am Ende des Ganges, aber das war egal. Rasch öffnete der Jugendliche die schwere Tür und fragte sich beiläufig, warum die Lehrer sie nicht einfach abschlossen, wenn sie nicht wollten, dass die Kids dort hinunter gingen.
Bereits im vorderen Bereich des Kellers konnte Mathieu den Geruch einer mit Menthol versetzten Zigarette riechen und wusste, dass Lucien hier irgendwo war. Der Blonde konnte jedoch nicht sagen, dass er dieses Gewölbe sehr gemütlich fand. Es war kühl und irgendwo tropfte ein Wasserhahn.
Langsam ging der Schulsprecher den Korridor entlang, der wie ein langer Flur unter der Schule entlang führte und Gerümpel aus den Jahren, die das Gebäude bereits stand, enthielt. Er erschrak ziemlich, als aus einer Nische plötzlich ein Arm hervorschoss, ein Hauch von Zimt und Minze ihn einhüllte und im nächsten Moment warme und weiche Lippen auf seinen lagen. Perplex ließ er sofort die instinktive Gegenwehr fallen, sein Rucksack rutschte ihm vom Rücken und kam dumpf auf dem Betonboden zum Liegen und Mathieu hob die Arme, um sie Lucien um den Nacken zu legen.
»Hmmm«, schnurrte dieser und presste den Blonden an die Wand. Das Gefühl, die stumme Gewissheit, dass Lucien ihn vermisst hatte, erregte Mathieu, was ihn gleichzeitig verlegen machte. Immerhin waren sie in der Schule und sollten sich besser unter Kontrolle behalten. Mit dem Gedanken im Kopf unterbrach der Blonde den Kuss und räusperte sich.
»Stimmt was nicht?«
»Doch. Doch, nur ... oh Gott, wir sollten uns zusammenreißen.« Mathieu wischte sich leicht über den Mund, während Lucien den Kopf schief legte und schließlich grinste.
»Keine Sorge, Minou, an so einem Ort werde ich dir nicht die Klamotten runterreißen. Du denkst auch, ich hab’ gar keinen Stil, oder?«
»Ich weiß gar nicht mehr, was ich denken soll, wenn ich ehrlich bin«, der Blonde zog sich einen alten Stuhl heran und setzte sich. »Ich verstehe nicht mal, was hier mit uns passiert.«
Der Rothaarige lächelte leicht. »Ich würde sagen, wir können uns gut riechen. Das ist wichtig für die ... Sympathie und so«, er rieb sich den Nacken und wandte den Blick ab.
»Sympathie? Nur das?«
»Nein, Mathieu. Es ist nicht nur das. Doch ich will ehrlich sein: Ich habe dir nichts zu bieten, das weißt du selbst ... und wenn ... wenn du mich nimmst, dann ...« Lucien biss sich auf die Lippe. »Ich weiß nicht, ob es fair von mir ist, überhaupt an so etwas zu denken. Wer will schon beschädigte Ware haben ...«
»Wo ist dein Selbstbewusstsein hin, Monsieur Walace?«, schmunzelte Mathieu und musste tief durchatmen, um seinen Puls zu beruhigen. Was der Rothaarige sagte, brachte sein Herz zum Rasen.
»Ich hab keins. Nicht auf diesem Gebiet. Noch nicht bemerkt? Ich glaub‘, ich bin nur so lange locker, wie ich nicht selbst betroffen bin. Bei Celeste oder den anderen Weibern, die mich nicht die Bohne interessieren, selbst wenn sie mir freiheraus ihre Möpse präsentieren würden, geht das wunderbar. Weil sie mich eben null interessieren.« Mathieu bemerkte, dass Luciens Hände zitterten, als er sich eine Haarsträhne hinter das Ohr strich. Er hatte auch etwas Farbe im Gesicht verloren, doch das konnte auch an der kläglichen Notbeleuchtung liegen.
»Ist dir schlecht?«
»Ja. Aber nicht wegen des Tumors«, murmelte Lucien leise.
Der Schulsprecher schluckte schwer. Er glaubte, den Halt unter den Füßen verloren zu haben, denn irgendwie schien sich alles zu drehen. Er konnte nicht glauben, was Lucien da sagte. Er, der wie ein Prinz aus Schnee und Eis jede Verehrerin der letzten zwei Jahre gnadenlos abgeschmettert hatte und Celeste bei jeder sich bietenden Gelegenheit die kalte und fiese Schulter zeigte, druckste nun herum wie ein kleiner Junge, der bei einer Missetat ertappt worden war, wie ein Kind, das einem anderen die Freundschaft anbot und Angst davor hatte, weggeschickt zu werden. Und das alles wegen ihm, Mathieu!
»Na, also weißt du ...«, setzte der Blonde an und hörte, wie Lucien die Luft ausstieß und den Rücken versteifte.
»Schon gut, du musst nicht mehr sagen. Ich ... dachte mir so was schon. Das ist okay. Wir können gern nur ... nur so wie jetzt weiter machen, wenn ... wenn du magst. Ich versteh’ das ...« Er nahm seinen Rucksack von einem alten Bücherregal und wollte in den Gang gehen, als Mathieu ihn am Ärmel festhielt.
»Was wird das?«
»Ich geh’ nach oben zurück?«
»Ohne mich ausreden zu lassen?«
Lucien musterte Mathieu ruhig. »Ist es nicht klar, was du sagen willst?«
»Ist es das? Ich weiß es nämlich nicht. Also erhelle mich, wenn du Gedanken lesen kannst.«
Die Lippen zusammenpressend, wandte der Rothaarige den Blick ab. Er wirkte irgendwie verloren. Noch mehr als sonst in den Momenten, in denen er sich unbeobachtet fühlte.
»Hör’ zu, ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber ich hab’ dich gern, Lucien. Ein bisschen mehr als das. Ich weiß nicht, was es ist, sondern nur, dass ich nicht will, dass es aufhört. Das alles macht mir eine tierische Angst, okay? Nicht wegen dem, was mir blüht, wenn das einer mitbekommt, sondern weil ich noch nie so ... so gefühlt habe. Für mich bist du keine beschädigte Ware, denn du bist kein olles Möbelstück. Also, wenn du jetzt abhaust, dann ... dann bist es vielleicht du, der es gar nicht erst probieren will, sondern nur schicke Reden schwingt ...«
»Ich war mir einer Sache noch nie so sicher, Mathieu«, murmelte Lucien leise. »Ich könnte dich dafür hassen, dass ausgerechnet du mir auf dem Endspurt noch solche Schwierigkeiten machst, aber das tue ich nicht. Ich hab es mir einzureden versucht, die ganze Zeit, aber vergeblich. Ich wollte nicht, dass du hinter mein Geheimnis kommst, denn dann hättest du auch alles andere herausfinden können. Seit der Diagnose steht einfach alles auf dem Kopf.«
Mathieu plumpste wieder auf den Stuhl. »Soll das heißen, du hast schon, bevor du wusstest, dass du krank bist, so über mich gedacht?«
Schulterzuckend lehnte sich Lucien an die Wand. »Keine Ahnung. Vielleicht. Ich hab nicht drauf geachtet. Ich habe eigentlich auf gar nichts geachtet. Wie du schon sagtest, ich dachte, ich sei Lucien und das würde bedeuten, ich dürfte alles und könnte mir alles herausnehmen. Und wenn das bedeutete, den Lahmarsch von Schulsprecher zur Weißglut zu bringen, dann eben auch das. Insgeheim hab’ ich’s wohl schon damals genossen, in deiner Nähe zu sein. Aber ich dachte, ich hätte unendlich viel Zeit für alles und könnte es mir leisten, den Unnahbaren zu spielen. Und jetzt schau, wo ich stehe. Ich bin beliebt, hab’ aber außer Etienne nicht einen wirklich guten Freund. Jeder kennt meinen Namen, doch nicht einer kennt mich. Ich habe ein Dutzend Verehrerinnen an der Hand, aber hatte erst eine Freundin, ich habe kein bisschen Selbstbewusstsein, wenn es um Liebesdinge geht und außerdem null Erfahrung, außer es geht ums Knutschen. Jetzt rennt mir die Zeit davon und da kommst du ...« Der Rothaarige brach ab und wischte sich mit der Hand über ein Auge, bevor er die Nase hochzog. »... machst auf den letzten Metern doch noch ‘nen Schwulen aus mir ...«
»Tut mir leid ...« Es stimmte Mathieu traurig, diese Selbsterkenntnisse des sonst so starken und selbstbewussten Lucien zu hören.
»Nein, das sollte es nicht. Ich wünschte, ich hätte früher ... also ... hm, jetzt verstehe ich, wenn Leute sagen, dass am Ende des Lebens das große Bereuen kommt ...«
»Noch bist du nicht am Ende.«
»Aber zu nah dran, um etwas Neues zu beginnen. Es tut mir leid, Mathieu. Ich ... ich hätte das gar nicht erst anfangen dürfen.«
Der Blonde stand auf und nahm Luciens Hand, zog sie an sein Gesicht und küsste sie. »Ich bin da, so lange es dauert. Wenn du mich willst.«
Der Rothaarige warf die Arme um Mathieu und drückte sein Gesicht an dessen Schulter. Weil der Schulsprecher glaubte, Lucien würde seine Augen verstecken wollen, machte er einen Schritt zurück und legte seine Hände an das Gesicht des Anderen, um ihn so zu zwingen, ihn anzusehen.
»Gut, bekomme ich den rotzigen Lucien wieder? Der steht dir besser. Du hast jeden Grund, dich beschissen zu fühlen, aber bitte nicht wegen mir oder dem hier. Okay? Eigentlich sollte das Gegenteil der Fall sein, meinst du nicht?«
»Das ist es doch, du Lauchkörper! Ich fühle mich vollkommen anders als sonst. Also lass’ mir diesen Moment der Schwäche.« Der Rothaarige lächelte leicht und legte seine Stirn auf Mathieus Schulter, die Arme noch immer um ihn geschlungen.
Der Blonde spürte, wie sich ein dümmliches Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete, legte Lucien die Hände in den Nacken und erwiderte die Umarmung, einfach nur, um den Moment zu genießen.
Kurz bevor es klingelte, verließen die beiden den Keller durch unterschiedliche Eingänge. Auch wenn sie sich einig waren, was sie und ihre Beziehung zueinander anging, bedeutete das nicht, dass sie vorhatten, sich vor der gesamten Schule zu outen. Besonders für Mathieu war das nicht so einfach. Lucien war sich sicher, dass seine eigenen Eltern ihn aufgrund seiner Situation mit Standpauken über ‘Jungs müssen mit Mädchen zusammensein’ und diesem Kram verschonen würden. Wen würde in ein paar Monaten schon noch interessieren, dass der Sohn der Walaces einen Freund statt einer Freundin gehabt hatte? Das war doch alles eh nicht mehr wichtig. Vielleicht würden es Lucien und Mathieu keine zwei Wochen als Pärchen miteinander aushalten, das konnte niemand vorhersagen. Doch das bedeutete nicht, dass man es deswegen nicht versuchen sollte.
Lucien verließ das Schulgebäude und hob das Gesicht in die blasse Sonne. Er fühlte sich als hätte man eine tonnenschwere Last von ihm genommen, nachdem all die irrationale Angst vor Zurückweisung, die er unbewusst mit sich herumgetragen hatte, von ihm abgefallen war.
Er rauchte gerade den Rest seiner Zigarette, als er Etienne an der Tür stehen und winken sah. Die Pause war vorbei und sie mussten zur nächsten Stunde.
»Na, du grinst als hätte Shakespeare persönlich dir die Hand geschüttelt?«, schmunzelte der Rothaarige, als er zu seinem besten Freund kam.
»Das wäre creepy, du. Der Mann ist seit vierhundert Jahren tot.«
»Witzkanone«, schnaubte Lucien.
»Aber so was von. Aber wie kommt’s, dass du so happy wirkst? Ich hab dich beobachtet, bevor ich dich gerufen hab. Du hast die ganze Zeit gegrinst.«
Die beiden Jungs passierten Celeste und ihren Mini-Harem aus Nguyen, Margerite und einer kleinen Auswahl von Tussis, die gern in die Superzicken-Clique aufgenommen werden wollten. Die standen so omnipräsent mitten im Korridor, dass Lucien ohne mit der Wimper zu zucken mitten durch sie hindurch ging, während Etienne den eleganteren Weg wählte und drum herum lief.
»Sagen wir einfach, es hat sich da was ergeben«, sagte der Rothaarige über die Köpfe der Mädchen hinweg, die ihn anfauchten oder auch anhimmelten. Bei Celeste war es schwer zu sagen, sie versuchte wohl eher zu ergründen, wovon das Gespräch der Jungen handelte.
»Etwas, das du mir erzählst oder lieber für dich behältst?«, fragte der Aschblonde, als sie den Tussi-Harem hinter sich gelassen hatten.
»Ich erzähl’s dir, wenn die Zeit reif ist.«