Es war fast Zehn, als Mathieu sein Elternhaus betrat. Es war still, nicht mal im Wohnzimmer lief mehr der Fernseher. Seine Maman musste sich bereits zurückgezogen haben. Erleichtert legte der Jugendliche die Tabletten und das Wechselgeld in der Küche auf den Tresen und goss sich etwas Wasser ein. Mathieu konnte seinen Magen knurren hören, doch das Abendessen hatte er verpasst.
Während er im Kühlschrank nach ein paar Snacks suchte, konnte er die Schwingtüre hören und roch gleich darauf das süße Parfüm seiner Schwester, die viel zu viel davon nahm, weil es angeblich so toll war. Nur, weil der Name eines Designers drauf stand.
»Auch mal da? Papa war ziemlich sauer.« Celeste feixte, der Jugendliche konnte es förmlich körperlich spüren.
»Wenn ich Ärger habe, findest du das geil, oder?«, brummte Mathieu, ohne sein Gesicht vom Kühlschrank abzuwenden.
»Selbst Schuld. Und einen muss es treffen. Sorry, Bruder, aber lieber dich als mich.«
Der Blonde hob nun doch den Kopf. »Mit dir möchte ich niemals einen Flugzeugabsturz oder so überleben wollen. Du würdest andere töten, Hauptsache, du rettest deinen Arsch, oder?«
Das Mädchen lächelte nur milde. »Jeder ist sich selbst der nächste, sagt man doch. Andererseits ist es scheiße, wenn du dir irgendwelchen dämlichen Ärger einhandelst, weil du einfach ein Opfer bist. Dann ist Papa nämlich sauer und ich guck doof.«
»Dafür brauch’ ich keinen Stress zu kriegen«, murmelte der Schulsprecher und griff sich neben einer Packung Würstchen noch einen Joghurt und einen Apfel.
»Was hast du gesagt?«
»Du bist cool, mehr nicht.«
»Verarschst du mich?« Celeste fauchte.
»Würdest du es denn überhaupt mitkriegen, wenn’s so wär’ oder übersteigt das deinen Horizont? Was willst du eigentlich? Du bist bestimmt nicht runtergekommen, um mich freundlich zu begrüßen, oder?«
Schnaubend schob das blonde Mädchen seinen Bruder zur Seite und nahm sich eine Wasserflasche, bevor es die Kühlschranktür geräuschvoll zuschlug. »Bild’ dir nur nichts ein!«
»Würde mir bei dir im Traum nicht einfallen. Bei deiner Egozentrik haben alle anderen eh keinen Platz. Merkt man ja schon daran, dass ich eine Woche nicht da war und dir nicht mal eingefallen ist, mich willkommen zu heißen.«
»Wozu? Du bist morgen auch noch da.«
Mathieu seufzte leise und dachte an Lucien. »Wenn du wüsstest, wie schnell alles vorbei sein kann, würdest du das, was du hast, mehr schätzen. Aber was sage ich das ausgerechnet dir?!«
Der Blonde wollte an Celeste vorbeigehen, als diese ihn am Arm festhielt. Mathieu dachte schon, sie hätte irgendetwas Geistreiches oder Nettes zu sagen, doch stattdessen starrte sie ihn an, beugte sich leicht vor und roch an ihm.
»Was geht?«, fragte er sie irritiert und machte sich los.
»Du riechst nach Lucien!«
»Was?!«, Für den Bruchteil einer Sekunde überschlug sich die Stimme des Jugendlichen und er war froh, dass er das Licht in der Küche nicht eingeschaltet hatte. Nur die Beleuchtung des Aquariums war da und die war bei Weitem nicht hell genug, um zu zeigen, wie krebsrot Mathieu geworden sein musste. Hitze brannte in seinem Körper und mehr als überdeutlich kehrte die Erinnerung an das Gefühl der sinnlichen Küsserei zurück. Hatte sich der Duft des Rothaarigen durch ihre Schmuserei auf ihn übertragen und war seine Schwester tatsächlich so ein Bluthund, dass sie den Geruch ihres Schwarms so gut kannte, um ihn an ihrem Bruder wiederzuerkennen?
»Ja. Du riechst nach Zimt. Nach einem dieser ekligen Kaugummis. Lucien ist ja echt geil, aber wenn er erst mal mein Freund ist, verbiete ich ihm, die zu kauen. Da bekommt man ja das Kotzen, wenn man ihn knutschen will. Und das habe ich vor. Ausgiebig! Denn er ist soooo verdammt gut darin!«
Da musste Mathieu ihr zustimmen, Lucien war wirklich ein fantastischer Küsser, auch wenn der Blonde keine Vergleichsmöglichkeiten hatte. Er machte noch einen Schritt von Celeste weg. »Das ist doch gar nicht wahr!«
»Was, bitte?«, feixte das Mädchen. »Dass du das Kaugummi von ihm hast, dass Knutschen mit so einem Ding widerlich ist oder dass Lucien das geil kann?« Sie durchbohrte ihn förmlich mit ihren kühlen, eisblauen Augen.
»Agh«, knurrte Mathieu, »was weiß ich, ob der gut im Spucke austauschen ist, Mann!« Die Hitze in ihm brannte noch immer heiß. Die verteidigende Antwort war ihm herausgerutscht und nun hatte er keine Erklärung dafür. Er konnte Celeste kaum sagen, dass er es eben nicht als eklig empfand, Lucien zu küssen, wenn der nach Zimt schmeckte, sondern dass gerade das ihm besonders gefiel.
Das Mädchen machte den Eindruck, als wäre sein Gesicht zu Stein geworden, bevor sie leise fauchte: »Mir ist egal, ob du mein Bruder bist, Mathieu. Für dich gilt das Gleiche wie für alle anderen. Lass’ deine Pfoten von ihm, du kleine Schwuchtel, oder ich sag’s Papa und dann wirst du schon sehen, was du davon hast!«
»Dasselbe, was du erleben wirst, wenn er herausbekommt, dass du nur zu gern die Beine für Lucien breit machen wollen würdest, meinst du nicht?«
»Ha! Du streitest es nicht mal mehr ab!«
Mathieu zog eine Augenbraue hoch. »Leugnen tun nur die Leute, die was zu verbergen haben und das habe ich nicht. Ja, ich habe ein Kaugummi von ihm bekommen. Ich hab ihn vorhin getroffen, er wohnt direkt bei Mamans Apotheke. Und? In der Schule sehe ich ihn jeden Tag und hab’ mehr mit ihm zu tun als du, weil er nur Ärger macht. Im Grunde bist du nur neidisch und dichtest mir jetzt etwas an, damit ich Stress bekomme, aber dadurch wirst du Lucien auch nicht für dich gewinnen. Er mag dich nicht mal, begreif’ das doch endlich. Du machst dich zum Affen.«
»Und warum hat er dann...?«
»Weil Typen nun mal so sind, Mann!«, fiel der Blonde seiner Schwester ins Wort, »Sie knutschen und poppen mit Mädels, weil sie es können und die Mädchen das zulassen, in der Hoffnung, dass der Typ sich in sie verliebt. So läuft das aber nicht. Du kannst dir Liebe nicht mit deinem Körper erkaufen und Luciens Verhalten dir gegenüber ist ja wohl deutlich genug, oder?«
»Warum höre ich mir eigentlich dein doofes Gerede an, du hast doch am ehesten von nix ‘ne Ahnung.« Celeste verzog hochmütig das Gesicht.
Mathieu musterte sie einen Moment schweigend, bevor er leise seufzte. »Du kennst mich nicht, Schwester hin oder her. Also wage es nicht, mich zu beurteilen. Ich kenne Lucien besser als du und wenn ich dir sage, dass du es aufgeben solltest, dann kannst du mir ruhig glauben. Ansonsten hol’ dir weiter eine blutige Nase, scheint dich ja irgendwie anzuturnen. Ich höre mir diese kindischen Anfeindungen wegen eines Jungen jedenfalls nicht mehr an. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich habe Hunger und möchte noch etwas fernsehen.«
»Du wirst schon noch sehen, du Spinner.«
»Wenn du dich da mal nicht täuschst!«, fauchte Mathieu zurück. Am liebsten hätte er Celeste die Wahrheit über Lucien ins Gesicht geschmiert, einfach, damit sie endlich Ruhe gab. Mit der wilden Küsserei zwischen dem Rothaarigen und ihm als hübsches Sahnehäubchen. Doch Mathieu tat es nicht. Luciens Geheimnisse waren bei ihm sicher und ihr besonderes Verhältnis gehörte nur ihnen beiden allein. Mathieu würde es nicht herabwürdigen, indem er es als Waffe gegen seine dusselige Schwester benutzte.
Er ließ sie einfach stehen und stapfte gereizt die Treppe hoch, wo er in seinem Zimmer verschwand. Diese dumme Kuh!
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Die zweite Ferienwoche verlief ereignislos, da Luciens Gesundheit ihm einen Strich durch jede potentielle Planung gemacht hatte. Statt sich mit Sasha am Strand herumzutreiben, lag er einige Tage mit Dauermigräne im Bett und war etwa so anschmiegsam wie ein Igel. Lucien hatte andere Medikamente bekommen, deren Nebenwirkungen in den ersten Tagen zu Unwohlsein, Appetitlosigkeit und Durchfall geführt hatten, weswegen der Jugendliche im Allgemeinen nicht besonders gut drauf war.
Das änderte sich kurzzeitig, als sein Vater ihm am Freitag das erste Tütchen medizinisches Marihuana mitbrachte. Der Effekt war bahnbrechend gewesen, denn zum ersten Mal in dieser Woche war der dumpfe Schmerz im Kopf des Jungen komplett gedämpft und das Gras gab ihm das Gefühl, auf einer Wolke zu sitzen. Er war jedoch dadurch so breit, dass er kaum ansprechbar war und wegen den unsinnigsten Sachen irre zu kichern begann. Der tiefe Fall ließ auch nicht lange auf sich warten, denn als die Wirkung nachließ, hatte Lucien nicht nur Kopfschmerzen, ihm war auch schlecht und er war so durstig, als hätte er Tage nichts Gescheites getrunken.
»Also, das können wir uns auch klemmen«, nuschelte der Jugendliche müde in das Sofakissen im Wohnzimmer, als er sich am Samstag endlich von dem Trip erholt hatte. »Das ist ja anstrengender als die Schmerzen einfach auszuhalten.«
»Vielleicht kaufe ich dir etwas einfachen Tabak zum Zigarettendrehen und wir strecken den etwas mit dem Marihuana. Die volle Dröhnung des Joints war für dich als ungeübten Konsumenten offenbar viel zu stark.«
»Kann man versuchen«, murmelte Lucien nur. Er mochte keine normalen Kippen, aber das Gras hatte schon etwas geholfen, es war nur tatsächlich zu heftig für ihn gewesen, das pur zu rauchen. Mal abgesehen davon, dass er breit wie ein Woodstock-Hippie auch nie in die Schule würde gehen können. Lucien würde den Lehrern und allen anderen vermutlich ungefiltert alles ins Gesicht sagen, was ihm in den Sinn kam und was sein vernünftiger Verstand verhinderte, dass er es aussprach. Und dabei würde er sich vermutlich bepissen vor Lachen. Oder er würde Grantaine mitten auf dem Schulhof vor allen anderen abknutschen und ihm ein schwülstiges und kitschiges Liebesgeständnis machen, das sich in seinem Kopf mega angehört haben würde und in der Realität dann vermutlich wie das Gestammel eines Wahnsinnigen - oder eben eines total breiten Kiffers - klang.
Nein, Lucien musste sich einen Teil, einen großen Teil seiner Kontrolle bewahren.
»Mann, ich fühle mich, als hätte ich eine Woche durchgefeiert. Wie halten die Leute, die so’n Zeug täglich paffen, das nur aus?«
»Alles eine Frage der Gewohnheit. Das ist wie bei dir, als du dir angewöhnt hast, auf Lunge zu rauchen. Damals tat es weh, heute merkst du das nicht mehr.« Gregoire klopfte seinem Sohn, der zu einem Ball gerollt neben ihm lag, aufs Knie. Der Junge nickte nur matt.
»Möchtest du einen Tee, Luci?«
»Nein, danke, Maman. Aber ich glaube, ich gehe ins Bett. Ich bin echt saufertig. Wenn ich das gewusst hätte. Ich fühl mich schlapper als nach dem Gewaltmarsch durch den Wald, mit Grantaine huckepack. Das hier ist zehnmal schlimmer.«
Die Eltern des Rothaarigen sahen einander nur zweifelnd an, als der vom Sofa aufstand, schnaufte und sich langsam auf den Weg in sein Zimmer machte. Leise klappte die Tür hinter ihm ins Schloss.
»Nicht, dass wir ihm mit dem Gras geschadet haben«, murmelte Muriel, doch Gregoire winkte ab.
»Vermutlich nicht. Er hat nur einen tierischen Kater. Ich werd ihm das strecken und leichtere Tütchen machen, die er rauchen kann, wenn die Tabletten mal nicht anschlagen wollen. Das Zeug senkt wohl auch das Risiko von tumorbedingten Krampfanfällen.«
»Oh Gott«, hauchte Madame Walace leise, doch ihr Mann strich ihr liebevoll über den Rücken.
Währenddessen plumpste Lucien auf sein Bett und schob sich in die Kissen. Sein Kopf war groß wie eine Melone, als hätte er allein zwei Flaschen Whiskey gekillt - billigen, voller Fuselstoffe, die einen richtig dumm im Kopf werden ließen und einen Kater ausbrüteten, so groß wie ein bengalischer Tiger!
Er zog sein Handy heran und während er mit einem Auge und einem Finger ein buntes Spielchen spielte, musste er grinsen. Grantaine hätte Vergnügen gehabt, wenn Lucien im Camp so umgelegen hätte wie er es jetzt tat. Zum Glück war es nicht so gewesen, sonst hätte der spitzfindige blonde Schnüffler das mit dem Tumor vielleicht noch früher herausbekommen.
Inzwischen hatte der Jugendliche den Ärger darüber, dass Mathieu es wusste, völlig verloren. Er war eher einem Bedauern gewichen, denn wenn der Schulsprecher es nicht wissen würde, könnte er ganz beruhigt einfach weiterleben, wenn Lucien erst abgetreten war. So lebte Mathieu, wie der Rothaarige, dessen Familie und bester Freund auch, mit der Gewissheit, dass das Unweigerliche kommen würde und musste zusehen, wie er das verarbeitete, ohne komplett die Nerven zu verlieren. Denn Mathieu schien wie Etienne etwas emotionaler an die Sache heranzugehen. Vielleicht sogar auf eine noch andere Art als Luciens bester Freund, denn der hatte nichts Intimes, nichts Körperliches mit dem Rothaarigen am Laufen.
Das Einzige, das diesen inzwischen noch ärgerte, war die Tatsache, dass er diese Menschen mit seiner Krankheit und seinem Schicksal belastete und dass er ihnen ihre Gesundheit und Zukunft so sehr neidete, dass er sie bei aller Zuneigung manchmal regelrecht hasste, diese Stimmung sich auch immer öfter durchsetzte und zeigte. Der Jugendliche hielt nichts von dem Gerede, ein Schicksal klaglos anzunehmen, er hatte keine Lust, die ‚andere Wange’ hinzuhalten und zu akzeptieren, was mit ihm geschehen sollte. Ob es Gott oder einfach die Natur war, die ihm das angehängt hatten, er hasste sie dafür. Er hasste die ganze Welt, doch verlassen wollte er sie nicht.
Erschöpft schlief er ein und als er das nächste Mal erwachte, musste er zu seinem Schock feststellen, dass über sechzehn Stunden vergangen waren. Es war bereits zehn Uhr morgens und sein Wecker zeigte ‘Sonntag‚.
»Oh Shit«, presste Lucien mit rauem Hals hervor und verzog die Lippen. Der Geschmack in seinem Mund war ekelerregend und er hatte solchen Durst, dass er kaum schlucken konnte. Ein bisschen desorientiert sah er sich um. Irgendjemand, bestimmt seine Maman, musste ihn am Abend zugedeckt haben, denn seine Wolldecke lag über ihm.
Trotz des Tieres, das in seinem Rachen verendet sein musste, fühlte er sich sonderbar ausgeruht. Er hatte keine Schmerzen, auch der komische Schwindel durch das Hasch war verschwunden. Nach einer erfrischenden Morgentoilette und einer Zahnbürste fühlte der Jugendliche sich fast wie neu geboren.
Er schlurfte leise über den Flur in die Küche und es verwunderte ihn nicht, seinen Vater am Esstisch sitzen zu sehen. Gregoire löste gern das Rätsel in der Sonntagszeitung. Muriel war noch nicht zu sehen, sie schlief am Wochenende gern etwas länger.
»Na, Kumpel?«, schmunzelte der Mann, als er seinen noch etwas verpennten Sohn zu Gesicht bekam. »Warst ganz schön geschafft, huh?«
»Muss wohl. Aber jetzt fühl ich mich echt gut.« Lucien nahm sich einen Kaffee und verdünnte ihn stark mit Milch, um seinen Tumor durch zu viel Koffein nicht zu provozieren. »Ich werd’ wohl ‘ne Runde mit Sasha machen. Eine kleine. Um etwas Luft zu tanken.« Der Jugendliche setzte sich und linste auf das Kreuzworträtsel, aber er kam sich zu doof vor, denn er hatte nicht eine Antwort parat. Grantaine bräuchte dafür bestimmt nur zehn Minuten.
Lucien musste unwillkürlich lächeln. Morgen war Montag, die Ferien vorbei. Der Rothaarige hatte Mathieu wegen seines Unwohlseins seit dem Abend auf dem Spielplatz nicht mehr gesehen und konnte es nicht einmal vor sich selbst verbergen - er freute sich darauf, den Schulsprecher wiederzusehen.