Anders als seine Maman hatte Luciens Vater Gregoire es gut gefunden, wie der Jugendliche sich auf dem Ausflug verhalten hatte. Obwohl auch er zuerst besorgt reagiert hatte, als er von dem Zusammenbruch gehört hatte, war Gregoire stolz darauf gewesen, wie selbstlos sich sein Sohn benommen hatte. Inzwischen war eine Woche vergangen und Lucien hatte angenommen, dass es längst um die Ecke herum war, doch die nachtragende Ader seiner Mutter war beim samstäglichen Abendessen munter am Rotieren. Sie konnte es nicht gut sein lassen.
»Ich kann ja sagen, was ich will und mir Sorgen machen. Solange ihr beiden das super findet, nicht wahr ...«, Muriel Walace setzte einen Gesichtsausdruck auf, der Desinteresse ausdrücken sollte, doch genau das Gegenteil bewirkte. Es wirkte spöttisch und aufstachelnd, als würde sie regelrecht nach einem Grund suchen, sich mit Gregoire oder auch mit Lucien zu streiten.
»Cherie, bitte«, murmelte ihr Mann und wischte sich mit der Serviette den Mund ab. Er hatte eine anstrengende Woche mit mehreren Transatlantikflügen hinter sich und wollte das freie Wochenende genießen.
Der Jugendliche stellte sein Geschirr zusammen und räumte es in die Spülmaschine. »Auf so eine Abendgestaltung hab ich keine Lust. Wenn ihr streiten wollt, obwohl Mum genau weiß, dass nichts schlimmer geworden ist, dann tut das. Aber ohne mich. Keinen Bock. Ich geh’ lieber mit Sasha eine Runde um den Block.«
»In fünfzehn Minuten bist du wieder hier!«, bestimmte Madame Walace.
»Wie soll ich das denn machen? Außerdem ist Samstag und noch nicht mal Neun.«
»Und dunkel draußen!«
»Ich bin siebzehn!«
»Und?« Muriel hatte ihre Finger in der Tischdecke verkrallt und sah aus wie eine festgebissene Bulldogge.
»Werde ich jetzt eingesperrt? Weißt du, Mum, andere Leute würden sagen ‚Toll, was du gemacht hast’ und es einem nicht vorhalten.«
»Andere stecken auch nicht in deiner Haut.«
»Ganz genau!«, rief Lucien. »Meine verdammte Haut. Mein verdammter Tumor. Mein verfickter Schmerz.«
»Achte auf deine Ausdrucksweise, Lucien«, warf Gregoire ruhig ein. »Geh’ mit dem Hund spazieren. Du bist vor Mitternacht wieder zuhause.«
Ohne den verkniffenen Blick von seiner Mutter abzuwenden, nickte der Jugendliche. »Danke.«
»Gregoire!«
»Er hat Recht. Jugendliche in seinem Alter verbringen den Samstag nicht zuhause mit ihren Eltern. Wenn er raus gehen will, dann lass’ ihn gehen. Du hättest nichts davon, wenn er bleibt, nur ein bockiges Kind hinter einer verschlossenen Zimmertür, das uns mit viel zu lauter Musik bestrafen würde.«
Muriel schob grob den Stuhl nach hinten und verzog sich ohne weiteren Blick durch die französischen Türen, die die Räume voneinander trennten, ins Wohnzimmer. Gregoire seufzte und erhob sich ebenfalls. Wortlos begann er, den Tisch abzuräumen.
»Na los, hau’ schon ab, bevor deine Mutter noch einen Weg findet, damit du nicht gehst. Aber denk’ dran. Vor Mitternacht. Nimm’ das Handy dieses Mal mit.«
Lucien nickte nur und machte kehrt. Mit der Leine in der Hand und dem Mobiltelefon in der Hosentasche sprang er die Treppe runter und verließ das Mehrfamilienhaus in Biarritz’ Innenstadt.
Sasha, der Rottweiler, lag auf der Hundehütte des umzäunten Auslaufes im Innenhof und hob sofort den schweren Kopf, als sich die Hintertür des Gebäudes öffnete. Bald würde es zu kalt werden, um hier draußen zu übernachten und der Rüde durfte zum Überwintern in die Wohnung hinauf. Das bedeutete für Sasha Schlafen in Luciens Bett. Aber auch häufigere Schaumbäder, was das Tier wiederum nicht so toll fand.
»Na Dicker. Wollen wir ne Runde gehen?« Der Rothaarige rasselte mit der Leine und der Hund ließ einen seiner grollenden Kläffer los. Er stürzte sich auf sein jugendliches Herrchen, kaum dass die Tür des Auslaufes offen war und sprang herum wie ein Welpe.
»Reg’ dich mal ab, Sash. Wir waren doch heute Mittag erst ...«, kicherte Lucien und verließ den Hof, der Rüde lief artig bei Fuß, ganz ohne Leine. Jedoch legte der Jugendliche diese an, kaum dass sie auf dem Gehweg waren. Sasha war vertrauenswürdig und würde niemals jemanden angreifen, solange niemand Lucien bedrohte. Doch den Menschen konnte man nicht trauen. Sie fürchteten sich, fühlten sich bedroht, unsicher und reagierten dann oft falsch auf einen so großen Hund. Und der Jugendliche hatte keine Lust, die Strafe zu kassieren, weil irgendein Passant sich aggressiv benommen und Sasha damit provoziert hatte. Denn im Zweifelsfall würde immer der Hundehalter die Schuld bekommen, aber niemals das vermeintliche Opfer.
Sich eine Zigarette ansteckend, schlenderte Lucien durch den Abend. Biarritz pulsierte, wie jedes Wochenende. Die Lokale und Restaurants an der Promenade hatten jetzt ihre Höchstzeit und die Menschen, Touristen wie Einheimische, zogen durch die Nachtclubs oder amüsierten sich in dem Casino oder den zahlreichen Spielhallen der Stadt. Der Jugendliche konnte diesen Vergnügungen nichts abgewinnen. Irgendwie waren wilde Partys in verrauchten Räumen, auf denen man sich betrank, krumm zu viel zu lauter Musik tanzte und anderen Menschen im Alkoholrausch die Zunge in den Hals steckte, nicht seine Welt. Ihm genügten die Schulfeiern, die, auch wenn er immer lauthals dagegen protestierte, ihm mehr Spaß machten als Abzappeln in einer überfüllten Disco umgeben von lauter Fremden.
Unbewusst hatten seine Schritte ihn zum Lycée geführt und er wartete geduldig, als Sasha ausgiebig an einem der Bäume zu schnüffeln begann. Der Jugendliche wunderte sich, dass das Hoftor zwar verschlossen war, aber die Nebentür offen stand. Der Hausmeister war eigentlich sehr gewissenhaft und ließ so etwas nicht durchgehen.
»Uhuu«, kicherte Lucien seinem Hund scherzhaft zu. »Da gehen doch nicht etwa Geister um in der Schule? Komm, wir schauen mal.« Über seinen eigenen Scherz grinsend betrat der Junge den Schulhof und fand die Tür zum Gebäude tatsächlich offen vor.
Leise und Sasha an der kurzen Leine haltend blickte Lucien sich im Flur um. Er war noch nie nach Einbruch der Dunkelheit allein in der Schule gewesen. Selbst das längste Nachsitzen dauerte nie länger als bis halb sieben und die kleine Bibliothek, die für alle Schüler auch nach dem Unterricht zugänglich war, schloss um Acht Uhr abends. Da wurde normalerweise auch das Gebäude verschlossen. Wenn es jetzt noch offen stand, konnte das nur einen Grund haben: Jemand, der einen Schlüssel besaß, war noch da.
Lucien spürte, wie sein Gesicht entgleiste und sich ein spöttisches Grinsen darauf legte. Er kannte nur eine Person, die verrückt genug wäre, sich die Nacht hier um die Ohren zu schlagen. Nicht einmal die Lehrer waren so engagiert und die wurden für Überstunden bezahlt.
Sasha etwas mehr Luft lassend wanderte der Rothaarige leise über den verlassenen Flur. Es war dunkel und nur die Notbeleuchtung erhellte den Gang. Würde jetzt irgendwo eine Tür klappen, ein Fenster zuknallen, irgendein Geräusch ertönen, das dort nicht hingehörte, würde der Jugendliche sich vermutlich in die Hose machen, so angespannt fühlte er sich. Er konnte kaum glauben, wie unheimlich die vertrauten Gänge waren, wenn man allein und es finster war.
Lucien zischte Sasha leise zu, damit dieser stehen blieb, als sie an der Tür zum Raum der Schülervertretung ankamen. Durch den schmalen Spalt darunter konnte der Jugendliche einen Lichtstreifen erkennen und er schüttelte den Kopf.
»Verrückter Penner«, murmelte er und drückte sachte die Klinke herunter. Eine solche Gelegenheit, den Schulsprecher zu erschrecken, bot sich nicht alle Tage. Doch Lucien hatte kaum den Raum betreten, als er bemerkte, dass es nichts werden würde.
Mathieu lag mit dem Kopf auf den Bastelutensilien, mit denen er und die Leute des Festkomitees den Nachmittag über Plakate und Deko für die Halloweenparty gestaltet hatten. Stapelweise Poster lagen auf einem Beistelltisch und etliche, mit alten Laken und Luftballons gebastelte Gespenster hingen an einer extra dafür gespannten Leine.
Es würde Lucien nicht einmal wundern, wenn der Schulsprecher den ganzen Kram allein gemacht hätte, nachdem die, die ihm eigentlich helfen sollten, ins Wochenende abgehauen waren. Mathieu war nun mal ein Freak. Ein Dussel, der sich für andere aufopferte und dafür nicht einmal ein Dankeschön bekam. Kein Wunder, dass er so erschöpft war, dass er mit dem Gesicht auf einem Stapel Bastelkarton eingepennt war.
Lucien löste leise Sashas Leine von dessen Halsband, hockte sich neben das massive Tier und deutete auf den Schlafenden. Der Jugendliche hatte sich den Hund so abgerichtet, dass schon Gesten ausreichten, damit dieser verstand. Und Sasha war so verdusselt und verspielt, dass niemand ernsthaft Angst zu haben brauchte, dass er einem etwas tat.
Mit wedelnder Rute spazierte der Rottweiler auf Mathieu zu, hob die Vorläufe auf den Tisch und leckte dem Schlafenden ohne Federlesen über das Gesicht.
Der Schulsprecher reagierte prompt und mit einem erschrockenen Aufheulen zuckte er zurück und fiel rückwärts vom Stuhl, während Sasha artig Platz machte und bellte.
»Bah!«, jaulte Mathieu und Lucien verschränkte die Arme vor der Brust.
»Hast du kein Zuhause?«, schnarrte er grinsend, während Mathieu sich umständlich aufrappelte und zu dem Waschbecken ging, das in einer Ecke des Zimmers angebracht war. Angewidert wusch er sich das Gesicht und wischte sich dieses anschließend an seinem Hemd trocken.
»Hast du sie nicht mehr alle?«, fauchte er den Rothaarigen anschließend an. Man konnte sehen, dass der Schreck ihm in die Knochen gefahren war. Er war blass und Lucien bemerkte das Zittern seiner Hände. Seine Augen und Wangen wirkten hingegen gerötet, als würde er jeden Moment zu heulen anfangen.
»Du bekommst jetzt aber keinen Nervenzusammenbruch, oder?«, murmelte Lucien mit einem Anflug von schlechtem Gewissen. Mathieu hatte Angst vor Hunden und der Scherz erschien dem Rothaarigen schon nicht mehr so lustig wie zu Anfang.
»Nein«, fauchte der Schulsprecher und funkelte den grinsenden Rottweiler an. »Ich kann mir nur was besseres vorstellen, als von Hundeatem geweckt zu werden ...«, der Blonde blickte sich etwas orientierungslos um, bis sein Blick auf die Uhr fiel und seine honigfarbenen Augen sich weiteten.
»Fuck!«
»Also bitte, Mathieu. Vorher solltest du mich wenigstens mal auf einen Kaffee einladen«, entgegnete Lucien und fing zu grinsen an. Der Blonde brauchte einen Moment, um die Anspielung zu verstehen und rieb sich dann über das Gesicht. Er war zu erledigt dafür.
»Wenn wir nicht wirklich aufhören, uns immer so zu treffen, fangen die Leute echt noch an, zu reden«, schmunzelte er. Der Rothaarige zuckte nur mit den Schultern und trat an einen der Tische, um sich die Plakate anzuschauen.
»Hast du die allein gemacht? Würde ich dir zutrauen.«
»Nein ... aber ich wollte noch ein bisschen weiter machen. Die Anderen sind so gegen Sieben abgehauen. Und jetzt ist es gleich Zehn. Gott, das setzt was ...«, Mathieu zog sein Handy aus der Tasche und blickte darauf. Lucien bemerkte seinen Gesichtsausdruck und seufzte leise. Offenbar hatte niemand versucht, den Schulsprecher anzurufen oder zu erreichen, obwohl es bereits spät abends war. Mathieu bemerkte nicht, dass der Andere etwas mitbekommen hatte und steckte schweigend das Telefon wieder weg.
»Sag mal, du weißt schon, dass Hunde im Schulgebäude nicht erlaubt sind, oder?«
»Und? Meine Haarfarbe auch nicht. Außerdem sind wir hier zu zweit. Wer will mich verpetzen? Du? Willst du das meiner Akte hinzufügen?«
»Ich könnte schon.«
»Willst du streiten, Grantaine?«
»Eigentlich nicht ...«
»Gut. Denn meine Mum geht mir schon genug auf die Eier.«
Mathieu verkniff sich ein Grinsen. »Und ich wette, das hat nichts damit zu tun, dass du ihr ebenso auf die Nerven gehst.«
»Was weißt du schon, Grantaine«, murmelte Lucien und zupfte an einem der Luftballongeister.
»Wenigstens weißt du, dass sich deine Maman für dich interessiert. Sonst würde sie dich nicht nerven ...«
Der Rothaarige wandte den Kopf herum und betrachtete Mathieu eine Weile schweigend, hielt den Blick lange ruhig auf ihn gerichtet, wodurch dem Blonden zum ersten Mal auffiel, dass in den dunkelgrauen Augen Luciens kleine helle Reflexe drin waren, wie die Splitter eines Edelsteins, heller als der Rest der Iris, funkelnd und lebhaft.
»Hm, vielleicht«, entgegnete der Rothaarige schließlich und zuckte die Schultern. »Ich weiß zumindest, dass meine Eltern mir den Arsch bis zum Kragen aufreißen würden, wenn ich bis zehn Uhr abends nicht zuhause bin und nicht Bescheid sage. Mein Handy würde explodieren.«
Mathieu presste leicht die Lippen zusammen. »Meine Eltern sind ... nicht zuhause, glaube ich. Irgendeine ... Veranstaltung in der Kanzlei. Vermutlich haben sie noch gar nicht gemerkt, dass ich nicht da bin, weil sie es auch nicht sind ...« Er räusperte sich, doch Lucien konnte sehen, dass die Spitzen seiner Ohren sich verfärbten. Mathieu log, ganz eindeutig.
Gleichmütig lehnte der Rothaarige sich neben den Schulsprecher mit dem Hintern gegen einen der Tische und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Traurig, echt. Für alle der Hampelmann, aber keiner da für dich. Was läuft nur falsch bei dir, dass selbst deine Familie dich für einen Freak hält ...«
»Spinnst du?«
»Was? Ich sage nur, was ich denke. Du reißt dir den Arsch auf, damit alle dich mögen. Aber genaugenommen ruhen sich nur alle darauf aus, dass du das schon machst. Du merkst nicht mal, dass jeder dich nur ausnutzt. Du bist ein Trottel.«
Mathieu lief rot an, als er mit verkniffenem Gesicht die Hand hob, um Lucien einen Schlag zu verpassen. Doch er kam nicht weit, da der Rothaarige schneller war und sein Handgelenk packte. Er drückte es fest und baute sich vor dem Blonden auf, dessen Lippen zitterten. Mathieus Augen glitzerten und die zusammengezogenen Augenbrauen konnten vieles bedeuten, doch Lucien tippte darauf, dass er den Schulsprecher wütend gemacht hatte.
»Kannst du dich einmal ... nur ein verdammtes Mal ... nicht wie ein Arsch aufführen?«, presste Mathieu zwischen den Zähnen hervor und das Beben seiner Stimme war überdeutlich zu hören.
»Tue ich das?«, knurrte Lucien und der blonde Jugendliche wandte die Augen ab.
»Andauernd.«
»Wenn du anfängst, dich weniger wie ein Trottel aufzuführen.«
Mathieu stieß ein Geräusch aus, das der Rothaarige nicht zuordnen konnte, doch es berührte etwas in ihm. Energisch versuchte der Schulsprecher, sein Handgelenk aus der Umklammerung zu befreien.
»Lass’ mich los, verdammt!«
»Warum? Ich hatte bislang nicht das Gefühl, dass dir meine Nähe unangenehm wäre.«
Und tatsächlich bemerkte Mathieu erst jetzt, wie nahe sie eigentlich beieinander standen. Es fehlte nicht viel und ihre Körper würden einander auf Hüfthöhe berühren, der Blonde konnte Luciens Parfum riechen und sogar die Wärme spüren, die dessen Körper ausstrahlte. Obwohl der Griff des Rothaarigen um sein Handgelenk fest und kräftig war, war er nicht unangenehm. Überhaupt war dies das erste Mal seit langer Zeit, dass jemand ihn, Mathieu, berührte. Er konnte spüren, wie ihm das Herz gegen die Rippen schlug.
Mit einem leisen Seufzen ließ Mathieu die Gegenwehr fallen und senkte die Hände, wodurch Lucien ihn losließ.
»Ich glaube manchmal, ich verliere den Verstand«, murmelte der Blonde. »Ich ... verstehe so viele Dinge nicht.«
»Zum Beispiel?« Luciens Stimme war leise, beinahe sanft. So hatte Mathieu ihn sonst nur mit seinem Hund sprechen hören.
Der Schulsprecher zog für einen Moment die Stirn kraus und es schien ein Ruck durch seinen Körper zu gehen, bevor er nach der Hand des Rothaarigen griff und sie festhielt.
»Sag’ mir, dass ich mir das nur einbilde. Dieses ... komische Gefühl.«