Alle schreckten hoch, als die Lautsprecheranlage des Busses zu pfeifen begann und Monsieur Dufayel sich anschließend mit einem leisen Lachen dafür entschuldigte.
»Gut, wo wir schon einmal alle wach sind: Packt eure Sachen zusammen, wir sind in zehn Minuten da.«
Das Räumen begann und die wunderbare Stille starb im Stimmengewirr der Schüler, die alle bereits die Nase voll davon hatten, in dem beengten Bus zu sitzen. Sie spekulierten lieber, was sie in dem Lager erwarten würde.
Lucien, der nichts ausgepackt hatte, sah dem Treiben unbeteiligt zu. Er hatte keine Lust, sich irgendwo hinzubewegen, auszusteigen und auf das zu warten, was noch kommen würde. Am liebsten wäre er sitzen geblieben und direkt wieder nach Hause zurückgefahren.
Er seufzte lustlos, als der Bus durch ein hölzernes Tor fuhr, über dem ein Schild angebracht war, dessen Aufschrift der Junge aufgrund der nassen Scheiben nicht lesen konnte. Ein Feriencamp für Jugendliche. Na toll. Wenn sie wenigstens in Hütten statt Zelten schlafen würden.
Bei regnerischem Wetter in einem Unterschlupf aus Plane zu pennen, war nicht gerade das, was Lucien unter ‚gemütlich’ verstand.
»Schau’ nicht so, da wird ja die Milch sauer«, riss Mathieu den Rothaarigen aus seiner Lethargie und der Junge schaute den Blonden finster an.
»Und? Wenn du jetzt behauptest, du hättest Lust hier drauf, bist du ein Lügner!«
Der Schulsprecher, der gerade sein Buch in seiner Tasche verstaute und die Windjacke über seinen Pulli zog, zuckte mit den Schultern. »Na, wenn es zu regnen aufhört, ist es vielleicht ganz lustig.«
»Und wenn nicht?«
»Dann werden wir das auch überleben. Los, beweg’ dich.«
Mathieu stand auf und ging durch den Gang an die Tür. Er hatte in seiner Position dem Lehrer zu helfen, mit den anderen Schülern fertigzuwerden.
Mit einem Knurren schob sich Lucien vom Sitz, als der Bus schließlich auf einem Platz hielt, der mit Kies bedeckt und von Bäumen eingerahmt war. Die eine oder andere Hütte war zwischen diesen zu erkennen und Laternen waren eingeschaltet worden.
Obwohl es noch nicht 17 Uhr war, herrschte ein dämmriges Licht, denn der Himmel verdunkelte sich allmählich und die ausladenden Kronen der Laubbäume trugen ebenfalls ihren Teil bei.
Mit der Kapuze über den roten Haaren schulterte der Junge seinen Rucksack und stieg aus. Auch der zweite Bus mit den Schülern der zehnten Klasse war soeben eingetroffen und der Jugendliche konnte Mathieus Schwester Celeste bereits wieder meckern hören.
Zu seiner Überraschung schienen sie und Lucien allerdings die Einzigen zu sein, die sich an etwas störten. Alle anderen, in deren Gesichter der Junge blickte, machten einen müden, aber aufgeregten und neugierigen Eindruck.
Aber das war ja auch kein Kunststück, immerhin hatten sie freiwillig an diesem Ausflug teilgenommen.
Nachdem jeder sein Gepäck hatte und versuchte, die mitgebrachten Decken und Schlafsäcke vor dem unangenehmen Nieselregen zu schützen, kam ein pummeliger Mann auf sie zu und begrüßte die Lehrer. Sie wechselten ein paar Worte miteinander, bevor der Verantwortliche des Lagers die Jugendlichen willkommen hieß.
»Also dann, lasst uns unsere Unterkünfte beziehen, bevor es Zeit fürs Essen ist.« Monsieur Dufayel klatschte einmal laut in die Hände und im Gänsemarsch folgten ihm die vierzig Schüler einen Weg durch die Bäume entlang. Der dicke Camp-Mitarbeiter ging an der Spitze.
Aufgeregtes Schnattern und Kichern zog sich durch die Jugendlichen, denn das Lager hatte etwas sehr Ursprüngliches und Wildes. Die Bewaldung war hier und dort von Pfaden durchbrochen, die von Laternen erhellt wurden, Lichtungen, auf denen kleine erleuchtete Hütten versammelt waren, waren zu erkennen, Plätze, auf denen man Sport machen konnte. Es duftete nach Holz, Harz und feuchten Sägespänen und Lucien musste sich eingestehen, dass es bei Tag und Sonne bestimmt nett war. Wenn man so etwas mochte.
Er hingegen war lieber in einem Hotel oder einer netten und sauberen Bungalow-Anlage, am besten mit einem Pool. Doch zum Schwimmen war es ohnehin inzwischen zu kalt geworden.
Sie hielten auf einer weiteren winzigen Lichtung, auf der zwanzig khakifarbene Zelte im Kreis um eine große gemauerte Feuerstelle, über der ein Grillrost hing, aufgebaut worden waren. Ein größeres, das wohl für die Lehrer bestimmt war, stand etwas abseits. Hölzerne Tische und Bänke sollten als Sitz- und Essgelegenheit dienen und Laternen erhellten den Platz spärlich.
Die Unterkünfte waren größer als die normalen Iglus, die man zu Privatzwecken kaufen konnte; man würde, wenn man sich etwas bückte, sogar in ihnen stehen können. Sie waren jedoch kleiner als Armeezelte.
Lucien verkniff sich ein Knurren. Er und Grantaine würden also nicht Rücken an Rücken pennen müssen, aber der Abstand zwischen ihnen würde auch kleiner sein, als er gehofft hatte. Sein Blick traf den von Mathieu und der verzog den Mund.
Offenbar waren sie sich erneut einig. Das wurde langsam unheimlich!
»Jeder hat zu Beginn der Fahrt seine Nummer beziehungsweise seinen Buchstaben gezogen. Ihr seht, die Zelte sind entsprechend beschriftet. Findet euch zusammen und packt aus, dann zeigt man uns die Waschräume und wir feuern den Grill für’s Abendessen an. Zum Glück hat der Regen ja inzwischen aufgehört.«
»Soll das heißen, wir essen fünf Tage nur Gegrilltes?«, ertönte die ungläubige Stimme von Celeste, die die Hände in die Hüften gestemmt hatte. »Ich werde davon fett!«
Lucien und alle anderen sahen zu dem blonden Mädchen, deren pinkfarbener Parka und die hellen Stiefel so gar nicht in diese Umgebung passen wollten. Einige lachten, aber andere sahen Monsieur Dufayel nun fragend an.
»Natürlich nicht, Celeste. Jedoch ist es doch kein Campingausflug, wenn man nicht wenigstens ein oder zwei Mal so etwas macht, nicht? Und du wirst hier so viel Bewegung haben, dass du froh sein wirst über jeden Happen, den du bekommst. An den anderen Tagen werden wir hier im Speiseraum verköstigt wie alle anderen. Die Zeiten teile ich euch noch mit.«
Das Mädchen verzog die nass glänzenden Lippen. »Na was das für Fraß ist, bin ich ja mal gespannt.«
»Ist gut jetzt!«, fuhr Mathieu seiner Schwester über den Mund. Es war ihm unangenehm, dass sie, kaum dass sie angekommen waren, schon über alles herzuziehen begann, während der Mitarbeiter des Camps noch dabei stand. Sie konnte sich einfach nicht benehmen.
»Es wird jedenfalls keiner von euch verhungern, das kann ich euch versprechen«, sagte der Sportlehrer. »Und jetzt, bitte. Bevor es ganz dunkel ist.«
Die Jugendlichen fanden sich in ihrer Paarung zusammen und das Suchen nach den Zelten begann.
Lucien folgte Mathieu missmutig in das mit der Nummer 2 und sah sich um. Er musste sich bei seinen 1,81 m Körpergröße schon etwas bücken. Der Schulsprecher, der wenige Zentimeter kleiner war als der Rothaarige, stieß mit dem Kopf an die Dachstange.
»Hm ... ich hatte gehofft, dass wenigstens Pritschen da wären. Am Boden pennen, im Herbst ...«, der Blonde murmelte vor sich hin, während Lucien ihn zur Seite schob und seine Sachen auf die linke Hälfte warf.
»Keine Iso-Matte dabei? Stand doch alles auf der blöden Liste.«
Mathieu brummte, nickte dann aber. Es war selbstverständlich, dass er alles Erforderliche dabei hatte. Eine Campinglampe, die in der Mitte hing, versperrte ihm die Sicht auf Lucien, der sich hingehockt hatte.
»Da lob’ ich mir die Paranoia meiner Mutter. Ich hab mehr dabei als gebraucht wurde.« Der Jugendliche tastete die glatte Plane des Zeltbodens ab. »Oh schau an, das scheint schon isoliert zu sein. Ist viel weicher als der Boden draußen.«
Der Schulsprecher hockte sich auf seine Tasche. »Ich find’ gut, dass die Schrägen nicht bis zum Boden gehen. Ich hab es immer gehasst, morgens nen nassen Schlafsack zu haben, weil das Wasser von der Schräge ins Zelt getropft ist.«
Lucien schnaubte. »Das letzte Mal, dass du beim Campen gewesen warst, war in der sechsten Klasse, oder? Wo wir vor den Ferien die Klassenfahrt im Freibad verbracht haben.«
Der blonde Junge verzog den Mund, nickte aber. »Na und? Es war auch vorher trotzdem jedes Mal so gewesen und das ist doch scheiße.«
Der Rothaarige nickte. Er wusste das auch noch. Das war jedoch eine der Fahrten gewesen, die ihm am meisten Spaß gemacht hatten von allen. Auch wenn sie nur wenige Kilometer aus Biarritz weg gefahren waren und es absolut unspektakulär war. Damals war Etienne noch nicht an ihrer Schule gewesen und Lucien und Mathieu hatten sich besser verstanden als heute. Überhaupt hatte es damals noch nicht diese Grüppchenbildung gegeben. Sie waren alle befreundet und hatten alle Spaß gehabt. Und es war Sommer gewesen und somit warm und gar nicht schlimm, dass die Zelte frühs feucht waren.
»Das war eine gute Fahrt«, murmelte Lucien.
Mathieu nickte leicht. Er und der Andere hatten damals auch in einem Zelt schlafen müssen.
Lucien rollte das Bündel auseinander, das er dabei hatte und legte eine breite Isomatte und eine dicke Wolldecke auf dem sauberen Boden aus, bevor er den Schlafsack ausrollte, ein kleines Kissen an das Kopfende warf und die zweite Decke, die seine Mutter ihm aufgeschwatzt hatte, dazu packte.
»Du bist heute ordentlicher als früher«, bemerkte der blonde Jugendliche und tat es ihm gleich.
»Inzwischen hab ich den Vorteil von etwas Ordnung begriffen«, knurrte Lucien und schob den Rucksack und seine Reisetasche an die Seite neben dem Eingang.
»Gut so. Dann brauch’ ich mich darüber ja schon mal nicht aufregen.«
»Ich find’ schon was, über das du dich ärgern kannst«, der Rothaarige zog einen Flunsch und beobachtete Mathieu bei seinen routinierten Handgriffen.
»Hast du nur eine Decke?«
Der Blonde nickte und breitete diese einmal zusammengefaltet über seiner eigenen Isomatte aus. »Sollte eigentlich reichen. Ich hab einen guten Schlafsack. Mein Onkel hatte den im Himalaya dabei. Der hält wohl gut warm.«
»Jammer’ nich, wenn du frierst. In meinen kommst du nich’.«
Mathieu wandte sich mit einem verwirrten Gesichtsausdruck zu Lucien um, der auf seine Finger blickte.
»Was?«
»Nix.« Der Rothaarige erhob sich und knurrte, als er an die Decke des Zeltes stieß, bevor er es verließ.
Der Schulsprecher sah ihm nach und konnte nicht verhindern, dass das merkwürdige Gefühl, das er vor einigen Tagen schon einmal gehabt hatte, wieder zurückkam. Eines, das anders war als das, was er normalerweise fühlte, wenn er an Lucien und seine unverschämte Art dachte. Eines, das nichts mit dem Ärger zu tun hatte, den er sonst empfand.
Mathieu schüttelte den Kopf. Als würde er in Luciens Schlafsack kriechen wollen, nur weil er fror. Was dachte der sich? Er war doch nicht schwul!
Lucien blickte über den Platz, auf dem alle damit beschäftigt waren, ihre Unterkünfte zu beziehen. Monsieur Dufayel war dabei, die Feuerstelle zu reinigen, damit sie trocken war. Sonst würde das Grillen ausfallen müssen.
Der Jugendliche erinnerte sich daran, dass ein kleiner Extrabetrag eingesammelt worden war für Verpflegung. Erst hatten sich alle darüber gewundert. Aber natürlich, Fleisch und alles, was man noch so für eine ordentliche Grillparty brauchte, bekam man nicht von der Lagerleitung, das musste extra eingekauft werden.
Lucien seufzte. Warum hatte er das zu Mathieu gesagt? Warum sollte der zu ihm kommen, wenn es zu kalt war? Es war ja nicht so, als würden sie sich irgendwie nahe stehen. Sie mochten sich noch nicht einmal wirklich. Mal ganz abgesehen davon, dass der Jugendliche den Blonden immerhin gut genug kannte, um zu wissen, wie stolz er war. Er würde niemals um Hilfe bitten in einem solchen Fall.
Ganz genau so, wie der Rothaarige das nicht tun würde. Nicht ihn, nicht Mathieu. Sie waren beide so stolz, dass sie lieber am nächsten Morgen krank sein würden.
Der Jugendliche setzte sich auf eine der Holzbänke und kramte in der Jackentasche nach seinen Zigaretten. Seine Mutter hasste diese Angewohnheit, aber da er im Grunde ohnehin bereits tot war und Tabak das Glioblastom in seinem Kopf nicht schlimmer machen würde, hatte sie es aufgegeben, etwas dagegen zu sagen.
Er steckte sich eine Kippe an und inhalierte tief. Die ganze Busfahrt über hatte er den Drang danach gehabt und spürte nun, wie er sich entspannte. Es half ihm, nicht weiter über den dummen Spruch nachzudenken. Er und Mathieu in einem Schlafsack. Lächerlich!
»Das reduzierst du aber, solange wir hier sind, oder?« Der Sportlehrer, der ihn allein dort sitzen sah, riss Lucien aus seinen Gedanken.
»Wie?«
»Das Rauchen. Ich glaube, das ist hier nicht uneingeschränkt erlaubt.«
Der Jugendliche zuckte mit den Schultern, nickte aber. Er hatte ohnehin nur eine Schachtel dabei und würde damit haushalten müssen. Andererseits ging es Monsieur Dufayel nichts an, wie viel er wann und wo qualmte.
»Wir haben ein aktives Wochenende vor uns. Ich weiß ja, dass du vom Sport befreit bist. Also wenn es zu viel für dich wird, dann sag mir das bitte, einverstanden?«
Lucien drehte den Kopf zu dem massigen Mann herum. Ob er wohl auch wusste, warum er freigestellt war? Die Direktorin hatte es den Lehrkräften des Fachbereichs Sport immerhin mitteilen wollen.
»Ist bestimmt keine leichte Situation, in der du da steckst. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie du damit zurecht kommst ...«, beantwortete der Lehrer die Vermutung des Jugendlichen.
Lucien wandte sich wieder ab. »Sie haben Recht. Sie haben keine Ahnung.« Ohne ein weiteres Wort stand er auf und ging davon.