Nachdem sich alle eingerichtet hatten, ging die Führung weiter. Monsieur Dufayel, der einen Plan des Camps besaß, marschierte mit den Schülern seines Jahrgangs als erstes zu den Waschräumen, die erstaunlich sauber und modern waren. Die Jugendlichen hatten es auf anderen Klassenausflügen auch schon anders erlebt. Die sanitären Anlagen waren nicht sehr weit von der kleinen Zeltlichtung entfernt und in zwei Gebäuden in Hüttenoptik untergebracht, nach Männern und Frauen getrennt. Es gab einen großen und hellen Gemeinschaftsduschraum und einige abgeschlossene Kabinen für die, die es vorzogen, dabei allein zu sein. Eine Reihe Waschbecken komplettierte das Ganze. Im Nebenraum befanden sich ein Dutzend abschließbare WC-Kabinen sowie einige Urinale und weitere Becken zur Handreinigung.
»Die stehen zu eurer freien Verfügung, aber es ist logisch, dass Wasserverschwendung und sonstige Albernheiten zu unterlassen sind. Das ist doch klar, oder?« Der Mann ließ seinen strengen Blick über seine Schüler wandern, die nickten.
»Jeder hinterlässt den Raum ordentlich, wie er ihn vorgefunden hat, es wird nichts an die Wände geschmiert, kein Dreck hinterlassen und wer nicht spült – erlebe ich etwas davon während unseres Aufenthaltes hier von euch, bekommt ihr alle Nachsitzen verpasst! Wir sind keine Schweine, also verhalten wir uns nicht so.«
Einige der Jugendlichen lachten, doch der Lehrer hatte schon Sachen erlebt, die es inzwischen notwendig machten, diese Dinge gezielt zu betonen.
»Gut. Kommt, wir schauen uns noch den Speiseraum an, damit wir uns morgen zurecht finden.«
Dieser befand sich in dem bisher größten Bauwerk. Sie waren fast bis an den Platz zurückgelaufen, an dem noch immer die Busse standen. Die Fahrer hatten beschlossen, ihre vorgeschriebene Ruhezeit dort abzuwarten.
Das Gebäude, die große Hütte, die sie als erstes gesehen hatten bei ihrer Ankunft, enthielt auch die Verwaltung des Camps, die jedoch einen gesonderten Eingang hatte.
Der Speiseraum war vielleicht um die Hälfte größer als ein normales Klassenzimmer ihrer Schule und in langen Reihen standen dort hölzerne Tische und Bänke vor einem Tresen, an dem das Essen ausgegeben wurde. Hinter diesem konnte man durch eine Glastrennwand in die Küche sehen.
»Also ... wenn wir nicht selbst grillen, werden wir hier essen, drei Mahlzeiten, außer wir sind so beschäftigt, dass wir es nicht schaffen. Es gibt hier auch die Möglichkeit, sich zwischendurch Kleinigkeiten wie Würstchen zu kaufen. Außerdem, habt ihr vielleicht gesehen, gibt es im Flur Snack- und Getränkeautomaten. Aber gebt nicht euer ganzes Geld dafür aus.«
»Sind denn noch viele andere hier außer uns?« Valerie, die angeblich in ihrer Funktion als Reporterin der Schülerzeitung mitgefahren war, aber vermutlich nur scharf auf Klatsch und Tratsch war, sah sich neugierig um, denn es verwunderte sie, dass der große Raum leer war.
»Wir sind hier nicht ganz allein, nein. Aber ich sagte ja, es gibt hier vieles, was man tun kann. Es wird hier erst gegen 19 Uhr voller, wenn das Abendessen ausgegeben wird.« Monsieur Dufayel guckte in die Runde. »Die sind genauso beschäftigt, wie wir es sein werden. Wir werden Wanderungen durch den Wald machen, Klettern ... zum Schippern auf dem See oder gar zum Schwimmen ist es wohl leider schon etwas zu kalt ...«
»Klettern?« Thomas, der flippigere der beiden Zwillinge, guckte überrascht.
»Ja. Es gibt hier einen Hochseilgarten. Das könnte Spaß machen, meint ihr nicht?«
»Mann, dann brauchen wir nach dem Wochenende ja Urlaub«, murrte Luca, Thomas‘ dunkelhaariger Bruder, während Philippe, der sportbegeisterte Armeefreak, leuchtende Augen bekam.
Der Lehrer lachte. »Na dachtet ihr, ihr würdet hier vier Tage nichts tun? Wenn wir Dienstagfrüh wieder abfahren, werdet ihr euch wie neugeboren fühlen.«
Lucien verzog die Lippen. Neu geboren. Das wäre schön. Vielleicht dann ohne Bombe im Gehirn. Er wandte den Blick ab, als Monsieur Dufayel ihn einen Moment ansah.
Der Jugendliche wollte nicht, dass irgendjemand ihn anders behandelte, nur weil über ihm ein Schwert pendelte. Und schon gar nicht wollte er diese blöden mitleidigen Blicke.
»Ja«, murrte Luca, »oder wir sind alle so kaputt, dass wir uns nicht rühren können.«
»Na dann tragen wir dich eben in den Bus«, entgegnete der Lehrer trocken. »Genug gemeckert. Ab, zum Platz zurück. Der Grill heizt sich nicht von selbst an und ihr habt doch sicher alle Hunger, nicht?«
Zustimmendes Nicken kam von allen. Einige nutzten die Gelegenheit, sich noch eine oder zwei Getränkeflaschen für den Abend aus dem Automaten zu ziehen und gemeinsam gingen sie zu den Zelten zurück.
Der Platz war leer, denn die Zehnte war offenbar noch nicht von der Erkundungstour zurück.
Lucien, der sich erschöpft fühlte, setzte sich auf eine Bank und rieb sich die Augen. Der Tag war unglaublich lang gewesen, obwohl es erst früher Abend war und sie nichts getan hatten als im Bus zu sitzen.
»Na, hast du wieder Migräne?«
Der Rothaarige zuckte zusammen und wandte den Kopf herum. Mathieu saß neben ihm, sah ihn aber nicht an.
»Wie kommst du darauf?«
»Du hast supermiese Laune und bist blass. Nur eine Vermutung.«
Lucien murrte. Ihm tat zum Glück nichts weh, sondern hatte nur einen unangenehmen Druck im Kopf. Auch etwas, von dem die Ärzte gemeint hatten, dass das passieren konnte. Der Tumor hatte unter der Schädeldecke nur wenig Platz und an manchen Tagen, wenn das Ding besonders mies drauf war, dehnte es sich und verursachte statt der üblichen Schmerzen ein drückendes Taubheitsgefühl, das Lucien duselig werden lassen konnte.
»Nee, hab ich nicht. Ich bin nur total fertig.«
»Hier.« Mathieu kramte in seiner Jackentasche und hielt ihm anschließend ein kleines Snickers hin.
»Was soll ich damit?« Lucien wunderte sich, dass der Schulsprecher, der Süßigkeiten ganz entschieden hasste, so etwas überhaupt bei sich hatte.
»Na essen, du Esel. Dein Blutzucker ist bestimmt total im Keller. Ich wette, du hast seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, hm? Und auch nicht richtig getrunken.«
Der Jugendliche spürte, wie sich die Wärme in seinen Wangen ausbreitete. Er fühlte sich ertappt, aber Mathieu hatte Recht. Es war Stunden her, seit er zuletzt etwas zu sich genommen hatte.
Lucien nahm den Schokoriegel und wickelte ihn aus. Geschickt brach er ihn in zwei Hälften, denn es kam ihm aus irgendeinem Grund nicht richtig vor, ihn allein zu essen. Er hielt dem Blonden das Stück hin, der dankend ablehnte.
»Nein. Nimm alles. Ich hab ihn Celeste vorhin abgenommen. Die wollte damit nur wieder Unsinn anstellen.«
Lucien schob sich eine Hälfte in den Mund und konnte nicht verhindern, dass er genüsslich brummen musste, als die Süßigkeit seine Zunge berührte. Mathieu schmunzelte.
»Wie treibt man Unsinn mit einem Stück Schokolade?«, fragte der Rothaarige schließlich.
»Indem man es durch den Bus wirft, es in den Fingern schmilzt und Leuten auf die Kleidung oder in die Haare schmiert ... du würdest dich wundern. Sie isst doch so was nicht. Sie könnte ein Gramm zunehmen, weißt du doch.«
»Weiber«, knurrte Lucien und knüllte das Papier in den Fingern zusammen.
»Einerseits angeblich so erwachsen, um im Sommer mit ihren Freundinnen in den Urlaub zu fahren und andererseits so kindisch, Leuten Süßkram irgendwo hin zu schmieren. Werd’ daraus mal schlau.«
»Sie war allein weg?«
»Nee«, schüttelte Mathieu den Kopf, »aber sie wollte. Nach Korsika. Angeblich ist sie alt und reif genug dafür. Meine Eltern haben es verboten. Wir ... waren dann zusammen dort.«
Lucien machte ein unbestimmtes Geräusch. Mathieus Familie war komisch. Sie prangerten bei ihm alles an und ließen Celeste alles durchgehen.
»Besser als nix«, murmelte der Rothaarige.
Als sie bemerkten, dass sie sich bereits seit einigen Minuten unterhielten, ohne sich zu streiten, kam ihnen beiden das so merkwürdig vor, dass der Schulsprecher schließlich aufstand, um dem Lehrer dabei zu helfen, die Kohle auf die Feuerstelle zu schichten.
Lucien musste unwillkürlich lächeln. Es war ja nicht so, dass er den Blonden hasste. Sie hatten einander früher sogar recht gern gemocht. Bevor aus Mathieu so ein spießiges Bürschchen geworden war, das um jeden Preis jedem gefallen wollte.
Der Jugendliche rieb sich über die roten Haare. Der Schokoriegel hatte geholfen, doch er war noch immer erschöpft und müde. Es tat nicht gut, so viele Stunden bewegungslos in einem Bus zu sitzen. Langsam erhob er sich, streckte den Rücken und betrat das dunkle Zelt. Die Campingfunzel gab so spärliches Licht, dass es Lucien noch müder werden ließ.
Mit einem Schnaufen machte er sich auf seinem Lager lang und sah an die khakifarbene Decke.
Wandern, Klettern, Hochseilgarten ... das konnte ja was werden. Würde er nicht bei der kleinsten Anstrengung rasende Kopfschmerzen bekommen, würde er sich über die Aussichten freuen wie ein Kind. Er stand eigentlich auf solche Sachen. Vielleicht nicht gerade durch den Wald rennen und hinterher voller Zecken und Spinnen zu sein, aber die Kletterei war interessant.
Gut, dass der Jugendliche einen Riesenvorrat seiner Medikamente dabei hatte, ganz unten in einer Kulturtasche versteckt. Der Schulsprecher musste nicht noch einmal eine Packung davon in die Finger bekommen. Lucien traute dem glatt zu, danach zu googlen.
Er nickte ein und schrak nach einer Weile hoch, als er eine Hand an seiner Schulter spürte. Wie ein Hammerschlag fuhr es durch seinen Kopf und er keuchte laut auf.
»Verzeihung. Ich wollte dich nicht erschrecken. Aber die erste Ladung Fleisch und Toast ist fertig. Ich dachte, du solltest vielleicht was Ordentliches essen ...« Mathieu, der sich über den Schmerzenslaut des Rothaarigen erschrocken hatte, hielt die Hände unschlüssig in der Luft und hatte einen besorgten Ausdruck im Gesicht.
»Boah, mach das nie wieder, Minou«, fauchte Lucien und schob den Blonden weg, damit er aufstehen konnte. Seine Knie waren wackelig, aber so schnell der Schmerz gekommen war, so schnell flaute er auch wieder ab.
Lucien atmete tief durch und spürte ein heißes Ziehen in seinem Magen. Er hatte Hunger wie ein Wolf.
»Miezekätzchen«, knurrte Mathieu und der Rothaarige grinste.
»Was? Nicht deine Lieblingstiere? Von Katzenviechern muss ich niesen.«
»Ich aber nicht. Und ich nenn’ dich auch nicht Hündchen. Komm’ jetzt, sonst musst du warten ...«
Mit so hoch erhobenem Haupt wie es das Zelt zuließ, ging der Schulsprecher voran und Lucien musste lachen. Er fand es immer noch komisch, den Anderen damit aufzuziehen, ihm diesen wenig männlichen Spitznamen anzuhängen, den sogar einige andere schon übernommen hatten. Mathieu hasste es und umso lustiger fand es Lucien.
Es ließ annehmen, dass der Schulsprecher süß und damit wenig maskulin war. Doch er vergaß offenbar, dass Katzen sehr aggressiv und wehrhaft sein konnten. Wie Mathieu ja auch.
Der Duft von Steaks und Würstchen hing köstlich über der kleinen Zeltlichtung und alle Jugendlichen hatten sich entweder an den Holztischen verteilt oder hockten vor ihren Unterkünften auf den Planen und mampften vor sich hin.
Mathieu drückte Lucien mit eisigem Gesicht einen Pappteller in die Hand, denn er half dem Lehrer bei der Ausgabe des Essens.
»Danke, Chaton«, sagte der Rothaarige und lächelte honigsüß. Der Blonde funkelte ihn an.
»Noch ein Kätzchen? Reicht es nicht langsam?«
»Bei dir? Niemals.« Lucien prustete.
Monsieur Dufayel, der nur einige Schritte von den beiden entfernt stand, fing zu grinsen an.
»Ihr wisst, wie man sagt? ‚Was sich neckt, das liebt sich’? Vielleicht solltet ihr ... ein wenig zurückhaltender sein, wenn ihr nicht wollt, dass man das von euch sagt.«
Der Schulsprecher und Lucien sahen erst den Sportlehrer und dann einander an, bevor sie beide das Gesicht verzogen.
Der Rothaarige wandte sich ab, um sich vor das Zelt zu setzen, innerlich über den Spruch des Lehrers lachend. Ja, er neckte Mathieu, zog ihn auf, ärgerte ihn. Aber das tat er sicher nicht, weil er ihn so geil fand. Sondern weil es lustig war, wie der Schulsprecher anschwoll, rot wurde und zu meckern anfing. Wie ein Ochsenfrosch, der vor sich hin quakte.
Lucien machte sich nur einen Spaß daraus. Das sollte doch erlaubt sein, ganz ohne dass es irgendwas zu bedeuten hatte. Die Leute mussten immer bei allem gleich etwas anderes denken, das nervte doch. Er war kein Homo. Und Mathieu ... na, wer wusste das schon ...
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Der Abend endete für die Schüler ziemlich früh. Da es alle ziemlich erschöpft hatte, den ganzen Tag auf der Straße zu sein, war es noch nicht einmal 21 Uhr, als sich Stille über den Platz legte.
Der Schulsprecher hatte mit einigen anderen, die Monsieur Dufayel zum Reinigungsdienst eingeteilt hatte, die benutzten Teller zusammengesammelt und Klar Schiff gemacht, während die anderen Schüler nach und nach aus den Waschräumen zurückgekehrt und in ihren Zelten verschwunden waren.
Einer der Ersten, die sich hingelegt hatten, war Lucien gewesen, nachdem er sich einen Nachschlag geholt hatte. Als das Verlangen des Magens gestillt war, hatten sich die Kopfschmerzen wieder in sein Bewusstsein geschlichen und nachdem er seine Medikamente genommen hatte, wollte er nur noch seine Ruhe haben und schlafen. Selbst den Gang in den Waschraum hatte er sich geschenkt. Duschen konnte er sich auch am Morgen noch, wen kümmerte es schon.
Er schlief tief und fest unter dem spärlichen Licht der Campingfunzel, als Mathieu ins Zelt kam und seine Klamotten gegen einen Trainingsanzug tauschte. Der Abend war kühl und der blonde Jugendliche war froh, ein extradickes Paar Wollsocken von seiner Großmutter eingepackt zu haben.
Im geisterhaften Licht der Lampe betrachtete er seinen Zeltnachbarn einen Moment grübelnd. Auch er hatte nach dem Satz des Lehrers eine Weile darüber nachgedacht. Er und Lucien neckten sich tatsächlich wie ein altes Ehepaar und eigentlich, unter all den Reibereien, mochten sie einander immer noch. Es fühlte sich zumindest für Mathieu manchmal so an. In der Grundschule zumindest taten sie es. Wunderlich, wie die Zeit manche Dinge verändern konnte.
Und er konnte noch immer nicht fassen, was es war, das ihn störte. Irgendetwas war da, was vorher nicht da gewesen war. Nicht nur ein komisches Gefühl Lucien gegenüber. Auch an dem Rothaarigen selbst war irgendetwas, das Mathieu keine Ruhe ließ. Wie ein leises Zwicken in seinem Hinterkopf, das ihn zwang, immer wieder darüber nachzudenken.
Mathieu knipste die Funzel aus und legte sich in seinen Schlafsack. Der Duft von Luciens Parfum hing leicht in der Luft und der Blonde konnte nicht anders als tief einzuatmen. Es gefiel ihm.
Erschöpft sank er in einen tiefen Schlaf.