In dieser ersten Nacht an Bord blieb ihr der Platz neben dem Steuermann erhalten. Niemand schien sich daran zu stören, dass sie sich nicht bei den anderen Frauen im Stafn(2) des Bootes aufhielt. Rúna aber war viel zu ausgelaugt, als dass sie ihren Platz freiwillig aufgegeben hätte. Die Rinderhaut wärmte trotz des noch immer feucht auf der Haut klebenden Kleides und schneller als gedacht, war sie eingeschlafen.
Noch war die Sonne nicht richtig aufgegangen, lagen feine Nebelschwaden über dem Wasser, als lautes Wutgebrüll die letzten Schläfer weckte. Erschrocken fuhr Rúna von ihrem Lager hoch und brauchte einen langen Augenblick, bevor sie sich an den gestrigen Tag erinnerte und an das Schiff, das träge durch die kleinen Wellen zog. Alle Ruderer hatten ihre Riemen niedergelegt und starrten auf einen Punkt im Meer.
Durch den morgendlichen Dunst hindurch konnte Rúna gegen die aufgehende Sonne nur wenig erkennen. Doch die zornigen Rufe und bitteren Kommentare ließen keinen anderen Schluss zu - einer der Gefangenen war ins Wasser gesprungen und schwamm nun um sein Leben. Östlich von ihnen, im hellen Licht dunkel schimmernd konnte man eine Küste erkennen und dorthin strebte der Flüchtige.
Leben kam auf unter den Nordmännern und die junge Frau sah ungläubig dabei zu, wie sie das kleine Beiboot heranholten, um dem Entflohenen zu folgen. Hoffentlich, so wünschte es sich Rúna, würden sie lange genug brauchen, damit der Junge den Strand erreichte. Doch die Wikinger waren schnell und bald wurde sie Zeuge einer gnadenlosen Hetzjagd.
Die zurückgebliebenen Männer, unter ihnen der bärtige Steuermann und auch Ragnar, feuerten die Ruderer an. Für sie war es wohl eine Art Wettkampf, ein Rennen um Ehre und Anerkennung. Das Leben des Jungen schien keine Rolle mehr zu spielen, auch wenn sie dessen Schnelligkeit bewunderten. Schon hatte der junge Mann das strandnahe Flachwasser erreicht und versuchte auf die Beine zu kommen. Doch seine Verfolger waren schneller! Sie mussten nicht erst auf dem glitschigen Ufer Fuß fassen. Geschickt setzte das kleine Boot auf Land und während sich der Schwimmer der Bedrohung zuzuwenden versuchte, flog bereits eine der Kriegsäxte, deren verheerende Wirkung von allen Völkern, die an der Vesterhav(3) lebten, gefürchtet war.
Die schwere Waffe wirbelte durch die Luft und senkte sich zwischen die Rippen des Flüchtigen. Getroffen sank der junge Mann zu Boden und die anlandenden Wellen färbten sich dunkel. Derjenige aber, der die Axt geschleudert hatte, sprang als einziger an den Strand und ging siegessicher zu seinem Opfer. Mit einer Hebelbewegung, deren widerliches Schmatzen und Knarren Rúna bis zur Ragnarsúð zu klingen schien, nahm er seine Waffe wieder an sich. Mit der Fußspitze drehte er den Getroffenen dann auf den Rücken und versicherte sich offenbar, dass der Tod wirklich eingetreten war. Ein Winken für die Zuschauer an Bord und am Strand bestätigte Rúna, dass es so war. Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte der Barbar einen Unbewaffneten umgebracht.
Starr vor Grauen stand die junge Frau an ihrem Platz und nahm von ihrer nächsten Umgebung nichts mehr wahr. Erst, als sie eine grobe Hand wie einen Hund im Nacken packte und sie zurück in den Stafn schob, erwachte sie aus ihrer Starre. Schon waren die Männer dabei, ihre verbliebenen Gefangenen zu fesseln und sicher an Bord zu vertäuen. Auch Rúnas Hände wurden von Ragnar wieder zusammengebunden. Dabei musterte der Krieger sie aufmerksam. Seine Blicke widerten die junge Frau an.
"Ihr seid feige Mörder!", fuhr sie den Mann ohne nachzudenken an. "Er hatte keine Chance, sich auch nur im Geringsten zu verteidigen. Feiglinge seid ihr, denen das Leben anderer nichts bedeutet!"
Endlich liefen Rúna die Tränen über die Wangen, die sie noch vor wenigen Momenten nicht hatte weinen können. Nun aber brachen sich ihre Hilflosigkeit und ihre Wut eine Bahn. Ragnar aber, dem einerseits diese unbändige Seite an der Frau gefiel, der aber andererseits nichts weniger leiden konnte als Widerspruch gegen eine seiner Entscheidungen, packte das wehrlose Mädchen grob an ihrem langen Zopf und bog ihren Kopf so weit nach hinten, wie es ihm möglich war, ohne sie zu verletzen. Von schräg oben sah er ihr spöttisch in die Augen, die sie offenbar trotz aller Angst nicht abwenden konnte.
"Du hast recht!", stimmte er ihr zu. "Euer Leben bedeutet uns nichts." Er lachte auf und es klang hölzerner und bitterer, als er es beabsichtigt hatte. "Und nun, da du es gesehen hast, verhalte dich danach. Füge dich und du wirst am Leben bleiben. Unterwirfst du dich nicht, triffst du ihn", er wies mit der Hand flüchtig in Richtung Strand, "bald bei Hel wieder."
Ein kleiner Stoß brachte Rúna zum straucheln und sie ließ sich resigniert zwischen den anderen drei Frauen nieder. Ragnar aber richtete sich elegant auf und sah auf das Häuflein Menschen zu seinen Füßen herab. "Das gilt für euch alle. Wer versucht zu fliehen oder uns auf irgendeine Weise zu hintergehen, wird das nicht überleben. Haltet euch daran!"
Das kleine Boot kam zurück und wurde wieder am Heck der Ragnarsúð vertäut. Der Steuermann nahm seinen Platz ein und bald darauf zerschnitten die Ruder die Wellen als sei nichts gewesen. Rúna aber und die anderen hockten schweigend und ängstlich an ihren Plätzen. Kein Wort fiel mehr und die trügerische Friedlichkeit des vergangenen Abends war vollkommen verflogen.
Als irgendwann später - die Sonne stand schon fast im Zenit - Ragnar zurückkam und an die Gefangenen ein wenig Wasser und Trockenfisch verteilte, trank Rúna zwar ein paar Schlucke, ließ ihren Anteil an der Mahlzeit aber unberührt. Der Appetit war ihr gründlich vergangen. Der kleine Fisch war schnell unter den anderen verteilt und so fiel es keinem der Männer auf, dass eine ihrer Gefangenen nichts aß. Rúna aber hieß die Apathie, die sich bald durch den Mangel an Schlaf und Nahrung einstellte, willkommen. Sie wollte nichts mehr von dem sehen, was um sie herum vorging. Sie wollte nicht hier sein, sie wollte tot sein oder weit, weit weg. Und vielleicht würde ihr dieser Wunsch, zu Hel gehen zu dürfen, bald erfüllt. Denn am Abend dieses Tages wurde die junge Frau von einem heftigen Fieber geschüttelt.
Nun wurden auch Ragnar und dessen Freund auf das Problem aufmerksam.
"Hab ich dir nicht gesagt, du sollst kein Fieber gekommen?", brummte der Steuermann ungehalten, während er Rúnas Fesseln löste. "Und nun sieh dir an, wie du auf meinen Befehl gehört hast." Wieder wurde die junge Frau aus der Stafn weggeholt, doch sie bekam nur noch wenig von dem mit, was sich um sie herum ereignete. Teilnahmslos schluckte sie, als Ragnar ihr erneut Wein einflößte und ließ sich ebenso unbeteiligt in ein paar wärmende Decken einhüllen. Dass der Jarl deshalb in dieser Nacht ohne Schutz vor der Kälte auskommen musste, bekam sie in ihren wirren Fieberträumen gar nicht mit. Selbst als dessen Freund Thorstein eine der Frauen aus dem Stafn holte, damit sie sich um Rúna kümmern sollte, dämmerte sie weiter apathisch vor sich hin.
Ragnar aber, der wieder das Steuer übernommen hatte, beobachtete das Treiben auf seinem Schiff genau. Und er sah, dass Thorstein sich um das Überleben der jungen Frau bemühte. Ebenso fiel ihm aber auf, dass die andere Gefangene, die jener zu Hilfe geholt hatte, sich nicht mehr als nötig um die Kranke kümmerte. Viel mehr schien sie es darauf anzulegen, Thorstein schöne Augen zu machen und ihm ihre Reize vorzuführen. Hatte sie dessen Freundlichkeit gegenüber dem Mädchen Rúna beobachtet und wollte nun die Gutmütigkeit des Mannes ausnutzen und seine Aufmerksamkeit erringen? Hatte er hier eines dieser Weiber an Bord, die aus jeder noch so geringen Kleinigkeit einen Vorteil zu ziehen versuchten?
Ragnar prägte sich die Züge der Frau gründlich ein. Sie gehörte einem der Krieger aus dem Nachbardorf Straumfjorðurs. Er, der Jarl, würde schon dafür sorgen, dass dieser sie auch wirklich dorthin mitnahm. Oft handelten die Krieger noch untereinander oder verspielten ihre Beute bei Wetten und Kraftproben. Doch dieses Weib wollte er nicht in seiner Siedlung wissen.
Die Nacht war lang und bis zum Morgen blieb dem Jarl viel Zeit nachzudenken und Pläne zu schmieden. Es bleib dabei. Sollte die Kleine das Fieber überleben, würde er sie Thorstein schenken, sobald sich eine gute Gelegenheit dazu ergab. Doch dazu musste sie erst einmal wieder auf die Beine kommen!
(2) Stafn - Bezeichnung für eine leichte Erhöhung im Bug der Wikingerschiffe. Mehr zur Schiffbauweise der Wikinger findest Du u.a. bei der allwissenden wiki:
http://de.wikipedia.org/wiki/Wikingerschiffbau
(3) Vesterhav - alter dänischer Name für Nordsee