Lathgertha saß stocksteif am Lager ihres Gefährten und versuchte zu verstehen, was Ragnar ihr gerade gestanden hatte. Sie wusste, dass beinahe jeder der Krieger irgendwann eine oder auch - wie Rollo - mehrere Frauen, Sklavinnen oder nicht, auf den Raubzügen zum Beischlaf gezwungen hatte. Und obwohl er nie darüber sprach, war ihr klar gewesen, dass auch Ragnar dabei keine Ausnahme machte. Doch jene Frauen waren weit weg, irgendwo in feindlichen Dörfern oder Siedlungen, am anderen Ende des Meeres. Sie hatten kein Gesicht und waren zu weit weg, als dass sie ihnen Gefühle entgegenbringen konnte.
Rúna aber … Die Schildmaid hatte miterlebt, wie sie an dem Übergriff, den ihr Gefährte also zu verantworten hatte, fast zerbrochen war. Die junge Frau hatte nur wenig darüber erzählt … wie hätten sie auch über eine solche Monstrosität plaudern können? Und wenn sie Ragnar gedeckt hatte und wusste, wer ihr Peiniger gewesen war, gab es um so weniger, was sie ihr hätte sagen können, war sie, Lathgertha, doch die engste Vertraute des gefürchteten Mannes.
Die Gefährtin des Jarls erhob sich langsam von ihrem Platz. Nur mühsam konnte sie sich selbst davon abhalten, voller Zorn und Hilflosigkeit auf Ragnar einzuprügeln. Es war so unglaublich, so weit entfernt von allem, was sie geglaubt hatte zu ahnen …
Doch sie hatte auch den Schnitt an Rúnas Hals gesehen, das geschwollene, fleckig blaue Gesicht und die Male starker, gnadenloser Finger an ihren Handgelenken. Konnte sie mit einem Mann, der das ihrer Freundin angetan hatte, weiterleben? Die Schildmaid wusste es nicht. Im Moment wünschte sie sich nur noch ganz weit weg. Weg von Ragnar, weg von Straumfjorður, weg von dem ungewollten Wissen über die Abgründe im Verhalten ihres Mannes. Weg auch von Rúna, die sie zwangsläufig vor eine unmögliche Entscheidung stellte. Mit dem Wissen, dass es Ragnar gewesen war, konnte sie der jüngeren, sanften Frau nie wieder unter die Augen treten, ohne sich für ihren Gefährten zu schämen.
Unentschlossen schritt Lathgertha langsam durch den Raum, dabei mit den Fingern unbewusst über die Bänke und Felle streichend, die ihren Weg begrenzten. Ja, sie hatte Ragnar schon im Kampf gesehen. Sie wusste, welche Ausstrahlung er hatte, wenn er in den Rausch der Krieger verfiel. Und auch sie selbst hatte das Gefühl grenzenloser Macht bereits verspürt, wenn sie mit dem Schert in der Hand in den Augenblicken vor dem Kampf ihrem Gegner in die Augen sah. Aber das war nicht dasselbe. Ihre Gegner waren nie wehrlos!
Doch gab es kein Bild, dass es ihr ermöglichte, sich den Jarl als einen gnadenlosen, lustgesteuerten Besitzer und Herren vorzustellen, der eine schmale, sanfte Frau wie Rúna so machtvoll unter sich begrub, dass ihr jegliche Gegenwehr versagt war.
Und doch …
"Ich …" Lathgertha fand überhaupt keine Worte, um auszudrücken, welches Chaos gerade in ihren Gedanken herrschte. Erneut nahm sie ihr ruheloses Hin-und-Her auf. Dann, als sie einen ersten Entschluss getroffen hatte, baute sie sich vor dem schuldbewussten Jarl auf.
"Ich weiß gerade nicht, was ich sagen soll", gab sie zu. "Was du getan hast, enttäuscht mich zutiefst. Es widerspricht allem, was ich bisher von dir gedacht habe. Und es ist nicht so sehr der Betrug an Thorstein, der mich verwirrt. Doch was du Rúna angetan hast …" Lathgertha musste schlucken und schwieg dann, um sich zu sammeln.
"Ich kann gerade nicht mit dir unter einem Dach sein", ließ sie Ragnar wissen. "Ich werde ein paar Tage mit Björn auf den Hof meines Bruders gehen. Wenn ich weiß, wie es weitergehen soll, lasse ich es dich wissen."
Ragnar nickte ergeben. Irgendwie hatte er gewusst, dass sie gehen würde, vielleicht weniger ruhig, weniger distanziert. Lathgertha konnte vieles sein: stark, mutig bis hin zur Waghalsigkeit, tapfer, loyal. Eines aber war sie nicht - gefühllos. Und wenn er sich etwas nach dem Verrat an den Göttern am meisten vorwerfen musste, dann, dass er auch sie betrogen und hintergangen hatte. Er wünschte, sie würde ihn anschreien oder würde weinen, damit er sie trösten konnte. Wenn sie so verschlossen wie gerade eben war, gab es nichts, was ihm zu tun blieb, um ein wenig von dem zu retten, was er gerade zerstört hatte.
"Es tut mir wirklich leid, Gertha", gab er leise zu. "Und ich wünschte, ich hätte Rúna niemals in diese Scheune gezogen. Doch auch ich kann die Zeit nicht umkehren und wenn du heute gehen musst, so werde ich das akzeptieren."
Er blickte auf und Lathgertha sah den Schmerz in seinen Augen. Gerade hatte er die volle Wahrheit gesprochen. Auch sie fühlte sich nicht wohl, wenn sie nun ihr Zuhause verließ. Doch das Wissen um diese neue, unberechenbare Seite ihres Gefährten konnte sie nicht verdrängen. Sie wollte allein sein, wollte Ruhe um sich haben und über alles gründlich nachdenken. Es war unmöglich, die Tat Ragnars einfach zu übersehen, wie sie es mit seinen kleinen Sklavenweibchen gemacht hatte. Das Vergehen an Rúna wog zu schwer, als dass sie darüber hinwegsehen konnte.
"Ich werde ein paar Tage wegbleiben und in Ruhe über alles nachdenken", antwortete sie. "Am liebsten würde ich es wie ein Krieger machen und mich so richtig mit dir schlagen." Ein Gedanke kam ihr in den Sinn und sie trat einen Schritt zurück. Ganz offenbar wusste zumindest eine weitere Person neben Jorunn über Ragnars Tat Bescheid. Sich selbst bestätigend nickte sie.
"Doch Rollo ist mir da wohl schon zuvor gekommen. Nicht wahr?" Die Schildmaid kniff die Augen zusammen und versuchte dadurch, ihre Enttäuschung und ihre Wut in den Griff zu bekommen. Es half jedoch kaum.
"Bis zur Wintersonnenwende werde ich zurück sein", versicherte sie abschließend. "Doch ich möchte nicht, dass du mir nachkommst oder auf mir einem anderen Weg zu nahe rückst. Mir vorzustellen, wie sich Rúna unter dir gefühlt haben muss, widert mich zutiefst an. Im Augenblick kann ich dich wirklich nicht länger ertragen!"
Die Gefährtin des Jarl wandte sich ab und ließ den niedergeschlagenen Jarl auf seinem Lager allein zurück.
Nur kurze Zeit später verteilte die Schildmaid deutliche Befehle. Kleider wurden gefaltet und Packen wurden geschnürt. Im Stall machte man den leichten Karren des Jarls reisefertig. Diese letzte Nacht schlief Lathgertha mit ihrem Sohn noch im Haus ihres Gefährten, wenn auch nur auf einer der Gästebänke. Am nächsten Morgen aber brach sie frühzeitig ins Hinterland auf. Kein Bitten und keine Entschuldigung Ragnars konnte sie davon abhalten, so viel wie möglich Abstand zwischen ihn und sich zu bringen. Ja, es war wahrscheinlicher, dass sie in nächster Zeit zu Thorstein und Rúna stieß, denen der Nachbarhof neben dem Besitz ihres Bruders gehörte, als dass sie ins Haus des Jarls vor der Wintersonnenwende zurückkehrte.
Am nächsten Morgen sah Ragnar hilflos der Abreise seiner Familie zu. Sein kleiner Sohn weinte herzzerreisend und klammerte sich an ihn, als er sich verabschieden sollte. Und auch seine Gertha hatte Tränen in den Augen. Dennoch blieb sie hart und er verstand sie nur zu gut.
Also löste er Björns weiche Finger vorsichtig von seinem Hals und übergab seinen Sohn an dessen Mutter. "Sei lieb, mein Kleiner", forderte er das Kind noch auf, während ihm der Schmerz die Kehle zuschnürte. "Sei lieb und pass auf deine Mutter auf. Wir sehen uns spätestens zum Julfest(1) wieder."
Er nahm auch Lathgertha noch einmal vorsichtig in den Arm, ohne sich davon abhalten zu lassen, dass sie den kleinen Björn hielt.
"Pass auf dich auf, Gertha!", bat er sie. "Pass auf dich auf und wenn du irgendwie kannst, dann vergib mir!"
Die blonde Frau nickte. "Pass auch du auf dich auf", erwiderte sie. "Wir sehen uns zum Julfest."
Dann schwang sie sich auf den Kutschbock neben den wartenden Knecht und mit einem leisen Knallen der Peitsche zogen die Ochsen vor dem Karren an und nahmen ihren Weg ins Landesinnere auf. Die Frau neben dem Kutscher wandte sich nicht mehr um.
Ragnar aber blieb stehen und sah dem immer kleiner werdenden Gefährt hinterher. Irgendwann war es hinter der letzten Wegbiegung verschwunden. Doch der Jarl verharrte noch lange regungslos und starrte in die Leere.
(1) Julfest (Wintersonnenwende): Ende Dezember (21.- 22.12.) / erste Januar Woche. Jul bedeutet soviel wie Sonnenrad / Besprechung mit den Toten. Einige im Norden gepflegte Weihnachtsbräuche haben ihren Ursprung in dem Julfest – z.B. das Verbrennen des Julblockes am Herdfeuer oder das zauberkräftige Julbrot. In Schweden gibt es heute noch den Julklapp, ein Geschenk das heimlich vorbereitet und anschließend mit einem lautem Schrei in die Stube geworfen wird. Während der Jultage wurden auch die Juleide ( Eidsbruderschaften, Gemeinschaftsbindungen und Militärische Bündnisse) neu geschworen, damit sie auch im neuen Jahr Bestand hatten. Im Allgemeinen wurden Freyr und Odin sehr verehrt. Der letzte Tag des Julfestes jedoch war der Frigg oder Freyja gewidmet.
(Quelle: http://www.drangur.de/seiten/wikinger/wissen/feiertage.htm)