Liebe Leserinnen,
nachdem ich euch im letzten Kapitel erzählt habe, wie die Bewohner mit dem Brand zurechtkamen, schauen wir heute mal, was sich in der Schildhalle tut. Rollos Sklavin wird sterben, daran geht kein Weg vorbei. Selbst heute noch sind schwere Brandverletzungen äußerst bedrohlich, auch wenn wir über moderne Brandverletztenzentren verfügen. Zur damaligen Zeit, ganz ohne Antibiotika und effektive Schmerzmittel war sicher alles, was großflächig über Grad II (also Brandblasen) und kleinflächig über Grad III (Schaden an Haut, Unterhaut und Nerven) hinausging tödlich. Doch zur Ausbildung einer Heilerin gehört eben auch der Tod.
Ich hoffe, das neue Kapitel gefällt euch dennoch. Es enthält ja auch mehr als nur diesen Handlungsstrang.
Viel Spaß!
Eure Sophie
P.S.: Wer sich fragt, woher Jorunn Opium hat: Es ist nachgewiesen, dass die Handelsbeziehungen der Wikinger bis in den Orient reichten. Allein Konstantinopel wurde von ihnen zwischen 813 und 906 3x belagert.
Auf einer Tafel an der Hagia Sophia finden sich nordische Runen aus dem neunten Jh. :-)
(Hier ein Foto dazu: http://www.wikinger-normannen.ch/index.php/die-waraeger/miklagard-konstantinopel )
Sie werden wohl nicht mit leeren Schiffen zurückgefahren sein.
GLG
Auch Thorstein hatte sich merklich entspannt, als Ragnar seinen Bruder so entschlossen zur Tür hinaus schob. Auch, wenn man sich auf Rollo im Kampf verlassen konnte und er ein furchtloser, überlegener Krieger war, so konnte er, anders als seine Mitstreiter, seine Brutalität und seine Machtgier nicht ablegen, wenn die Schlacht dann geschlagen war.
Ihn mit erhobener Faust vor Rúna stehen zu sehen und rein gar nicht tun zu können, war für den Steuermann eine Qual gewesen. Dann, als er entgegen seinem Verstand versucht hatte, hochzukommen und Rollo seine Meinung zu sagen, war ein mörderischer Schmerz durch seine linke Seite gefahren. Nur mit großer Selbstbeherrschung gelang es ihm, nicht laut aufzuschreien. Atmen, wies er sich selber an. Atmen! Atmen! Dann, als der Schmerz ein wenig nachließ, war Ragnar längst dazwischen gegangen und hatte entschieden, dass das Kind der sterbenden Sklavin bei Rúna bleiben solle. Rúna mit einem Säugling im Arm! Obwohl er sich gerade ziemlich quälte, musste Thorstein lächeln. So konnte es später einmal aussehen, wenn sie sein Kind hielt.
Dann schlug die Tür hinter den drei Kriegern zu und es trat Stille ein, Stille, die jedoch bald von neuen, beunruhigenden Lauten unterbrochen wurde. Das keuchende Atmen aus dem kleinen Bündel in Rúnas Armen vernahm Thorstein zuerst. Das Kleine hatte sicherlich Rauch eingeatmet. Von dem Lager der neu eingetroffenen Frau kam ebenfalls ein leises, gequältes Wimmern, das aber schnell wieder verstummte.
Thorstein blieb ganz ruhig. Die beiden Heilerinnen würden vollauf mit den beiden Neuzugängen beschäftigt sein. Da sollte er sich noch eine Weile still verhalten. Wenn er flach und langsam atmete, konnte er auch wirklich halbwegs schmerzfrei liegen.
Die Blicke des Kriegers schweiften zwischen den beiden Heilerinnen hin und her und je länger er den Frauen zusah, umso mehr Hochachtung bekam er vor Jorunn und sein Respekt für Rúna wuchs. Sie ging umsichtig und flink zu Werke und schien dennoch vollkommen ruhig und ausgeglichen, als sie das Wickelkind zu Asbirgs Lager brachte. Dass sie das kleine Mädchen dort versorgte, hatte einen guten Grund, den Thorstein nur allzu bald einsah. Die Beschäftigung mit dem Säugling lenkte das größere Kind erfolgreich von dem ab, was Jorunn tat. Diese hatte mit einem Messer die letzten verbliebenen Fetzen vom Leib der verbrannten Sklavin geschnitten und betrachtete nur deren furchtbare Wunden.
"Lass bitte das Kleine einen Moment lang bei Asbirg und komm zu mir!", forderte die Völva dann ihre Helferin überraschend auf. "Du, Asbirg, passt genau auf, dass der Säugling nicht von deinem Lager rollt. Leg deine Beine so, dass sie eine Grenze zwischen ihm und der Kante bilden."
Thorstein sah, dass Rúna Jorunns Befehl sofort folgte. Selbst ihr leise gemurmeltes "Ja, Herrin!" verstand er. Es erschien ihm selbstverständlich, bis Jorunn unzufrieden brummte.
"Du sollst das lassen!", knurrte sie ungehalten. "Alle anderen kannst du 'Herr' nennen. Ich aber bin die Völva und nichts anderes. Du kannst mich auch Jorunn nennen."
"Verzeiht, Frau Jorunn!" Nun war Rúnas Flüstern wohl noch ein wenig leiser. Sie trat schnell zu der Heilerin und Thorstein beobachtete, wie seine Geliebte erschrocken die Luft einsog. "Bei Yggdrasil! …" Sie sprach nicht weiter, sondern starrte entsetzt auf den entblößten Körper, der vor ihr lag. Jorunn erwiderte ihren Blick.
"Das, meine liebe Rúna, ist die Folge, wenn ein Mann die Grenzen seiner Macht nicht akzeptiert." Mit einer ausholenden Geste ließ sie ihre Hand knapp über dem verletzten Körper schweben.
"Sie ist ohne Bewusstsein und kann uns nicht hören", ergänzte sie dann. "Doch das, was du hier siehst, überschreitet unsere Möglichkeiten als Heiler, auch wenn wir uns noch so sehr bemühten oder an die Güte der Götter appellierten. Es ist wichtig für dich, das zu sehen, denn das Wichtigste, was du als gute Heilerin kennen musst, sind deine eigenen Grenzen. Nichts beunruhigt die dir anvertrauten Menschen mehr als ein Versprechen von Heilung, das du nicht einhalten kannst."
Jorunn machte sich nun, während sie weitersprach, an den Kräutern aus ihrem Bündel zu schaffen.
"Solange sie so wie jetzt dahindämmert, werden wir sie in Ruhe lassen. Sollte sie aber noch einmal erwachen, ist es unsere Pflicht, ihr eine letzte Gnade zu erweisen."
Sie zog ein Beutelchen aus der Kräutersammlung und öffnete die Verschnürung. "Ich werde das hier selber tun, Rúna, doch du sollst wissen, was hier passiert und warum."
Der kleine Lederbeutel lag nun offen in der Hand der Völva. Er enthielt zwei Dosen aus einem matten Metall, die Jorunn nun vorsichtig herausnahm.
"Dies, Rúna, ist die größte Macht, die eine Völva besitzen kann, aber auch ihr schlimmster Fluch." Die Alte kratzte sich am Kopf beim Sprechen und starrte nachdenklich auf die beiden Behältnisse. "Am Ende deiner Ausbildung wirst du beides können - Leben geben, aber auch Leben nehmen. Doch nicht das Können ist das alles Entscheidende, sondern die Weisheit, zu entscheiden, wann das Eine oder Andere getan werden muss."
Jorunn ging mit ihren Schätzen zum Feuer und schöpfte einen Becher Wasser aus dem dampfenden Kessel. "Drei Unzen Schierling und eine Unze Mohn vermischt mit Honig und Wein in einem kleinen Becher kochendem Wasser, gezogen so lange wie möglich und warm getrunken, führen einen unheilbar Verletzten schmerzfrei und traumlos in die Anderwelt." Sie sah auf und Thorstein schien es bei ihrem intensiven Blick, als würde die Völva Rúnas Gedanken lesen.
"Wenn gar nichts mehr hilft und es keine Hoffnung gibt, dann und nur dann Rúna, hast du das Recht, dieses Mittel anzuwenden." Sie maß die junge Frau mit einem letzten Blick bevor sie sich der Zubereitung des Tranks zuwandte. "Es mag verlockend sein und dir manchmal ganz unumgänglich erscheinen, doch diesen Becher zu verabreichen, um einen gesunden, lebenswilligen Menschen zu töten, wird dir selbst Hel nicht vergeben."
Urplötzlich hob Jorunn den Kopf und sah mit einem wissenden Lächeln zu Thorsteins Lager. "Und nun, da auch du mir zugehört hast, mein lieber Thorstein, sei es noch einmal gesagt - für euch beide: Je mehr die Macht in euren Händen zunimmt, umso mehr muss auch eure Weisheit und eure Güte wachsen. Tritt Macht ohne Mitgefühl auf, dann verführt sie zu Gewalt und hinterlässt nichts als Zerstörung."
Zufrieden sah die Alte, wie der Steuermann ertappt errötete, obwohl sie bei ihrer Rede gar nicht an ihn als den Gewalttätigen gedacht hatte. Rúna aber hatte ein glückliches Strahlen im Gesicht, als sie begriff, dass Thorstein wieder erwacht war. Auch das sah die Völva. Dennoch fuhr sie ungerührt fort: "Benutzt ihr aber euren Verstand und hört auf euer Herz, kann auch eure Macht die Dinge zum Besseren führen."
Sie ließ den Schlafmohn in ihren Sud rieseln und sah dann erneut zu Rúna auf.
"Der Brand in Straumfjorður wird die Zukunft verändern, daran lässt sich nicht rütteln. Und auch, wenn es uns heute unbedeutend erscheint, reicht schon dieses kleine Feuer aus, um den Verlauf von Jahren umzuschreiben. Darüber solltest du einmal nachdenken, wenn die Zeiten wieder ruhiger sind. Heute aber bedeutet es für uns, dass du so schnell wie möglich so viel wie möglich lernen musst! Die Zeit, die wir zusammen verbringen werden, wird erst einmal knapp. Also nimm so viel in dich auf wie du kannst!"
Sie lachte leise, als sie in Rúnas staunendes Gesicht sah und die Hochachtung der jungen Frau für sich darin las.
"Ich werde mich um dieses bedauernswerte Geschöpf kümmern und versuchen, ihr die letzten Stunden so erträglich wie möglich zu machen. Du aber musst dich um das Kleine kümmern. Ein bisschen Huflattich und Gundelrebe in einem schönen Honigtee würden bestimmt helfen. Und du solltest diesem duldsamen Krieger eine Schale von unserem Kräuterwein und ein wenig Haferbrei reichen. Das wird ihm die schlimmsten Schmerzen nehmen, seinen Magen füllen und er wird dennoch nicht den ganzen Tag verschlafen, wo er uns doch viel lieber Gesellschaft leisten möchte. "
Jorunn wies schwungvoll auf Thorstein.
"So ist es doch, Steuermann, oder? Du willst ein wachsames Auge darauf haben, wer hier kommt und geht, nicht wahr? Ich weiß, dass du Rollos Auftritt mitgehört hast. Doch sei unbesorgt! Er wird hier keine Unruhe stiften, nicht, solange ich die Völva in Straumfjorður bin. Dies ist ein Lager für Kranke und keine Arena!"
Der so Angesprochene lachte auf, fuhr sich dann aber mit schmerzverzerrtem Gesicht sofort zu seinen Rippen. Schnell war Rúna nun bei ihm und hielt vorsichtig beide Hände auf die verletzten Knochen. Ganz vorsichtig drückte sie dagegen, während sich Thorsteins Atmung beruhigte.
"Das habe ich gestern schon getan", versicherte sie ihm leise, als Thorstein sie fragend ansah. Dass ihre Hände gegen die Schmerzen halfen, verstand er nicht. Doch Rúna hatte dafür eine gute Erklärung.
"Es hält die zerbrochenen Rippen an ihrem Ort, während Ihr atmet, Herr", ließ sie ihn wissen. "So haben wir euch geholfen, bis ihr so wach wart, dass ihr einen Becher Bilsenwein trinken konntet." Sie sah schüchtern zu Thorstein auf und ließ dann ihre Hände von seinem Brustkorb gleiten.
"Danach habt ihr sehr lange geschlafen und ich hatte schon Sorge …" Sie vollendete den Satz nicht, doch Thorstein ahnte, was sie sagen wollte.
Rúna aber biss sich auf die Zunge. Was machte sie denn hier? Sie konnte doch Thorstein nicht sagen, dass sie Angst gehabt hatte, er könne sterben. Was für eine Pflegerin gab sie mit solchen Worten denn ab? Sie schluckte und fand dann ein sanftere Art, ihm zu sagen, was sie dachte: "Ich bin wirklich froh, dass ihr erwacht seid!"