Ich tappe auf bloßen Füßen vorsichtig durch den Flur. Ich spüre die kalten Fliesen unangenehm unter meinen Sohlen und friere in meinem dünnen Schlafanzug. Eigentlich sollte ich schon längst in meinem Bett unter der warmen Decke liegen und schlafen. Naja, aber man hat halt so seine Bedürfnisse und ich bin eben nochmal aufgestanden, um schnell auf die Toilette zu flitzen, bevor ich mich ins lang ersehnte Reich der Träume begebe.
Plötzlich merke ich, wie etwas nach meinem Fußknöchelgreift. Im Schatten blitzen gemein glühende Augen auf. Ich schreie erstickt auf und renne ins Bad, schalte das Licht ein, ziehe die Tür zu und lasse mich langsam unkontrolliert zitternd zu Boden sinken. So geht das schon seit einigen Jahren. Ich weiß nicht, wann es angefangen hat. Als ich noch kleiner war als jetzt, da gab es eine Zeit, in der ich noch keine Schattenwesen gesehen habe. Daran kann ich mich aber kaum noch erinnern. Gefühlt sind sie schon immer ein Teil meines Lebens. Egal ob Tag oder Nacht, egal wo ich bin und was ich mache, ich bin nie komplett alleine. In jedem Schatten verstecken sich blitzende Augen und schwammige Umrisse von Körperlosen Wesen, die mich verfolgen. Einige sind bösartig und versuchen mit ihren schlierenartigen Armen nach mir zu greifen und zischen gemeine Dinge durch ihre Fratzen. Auch wenn ich meine Ohren mit den Händen fest zuhalte und meine Augen geschlossen zusammenpresse, kann ich sie noch hören und sehen. Ich würde vielleicht vor Angst verrückt werden, wären da nicht die Schattenwesen, die ein wenig mehr hellgrau wären. Die Hellgrauen helfen mir, sie vertreiben die Tiefschwarzen Schatten und spenden mir Trost, sie Freunde für mich.
Ich bin fertig mit meinem Toilettengang und schlüpfe schnell ins Bett zurück unter die Schützende Decke. Bei meinem Rückweg gab es glücklicherweise keinen Zwischenfall, die Wesen haben mich in Ruhe gelassen.
Früher hat mich meine Mutter immer ans Bett gebracht und lange bei mir gesessen, weil ich so Angst vor den Schatten unter meinem Bett hatte. Als ich größer wurde hat sie mir nur noch lachend über den Kopf gestrichen und gesagt, dass es keine bösen Monster unter dem Bett gebe, wenn ich ihr Abends mal wieder mit zittriger Stimme von meinen Ängsten erzählt habe. Ich glaube, sie kann die Schattenwesen nicht sehen.
Früher habe ich meiner Mutter auch mal von den Hellgrauen erzählt, mit denen ich spiele. Da hat sie mein Gesicht zwischen ihre Hände genommen, mich ganz ernst angeschaut und gesagt, dass ich aufpassen soll und so ein Fantasiefreund nicht real sein. Einmal, als ich im Zimmer gespielt habe und mit den Hellgrauen redete, kam meine Mutter leise ins Zimmer. Sie hat wohl eine Weile unbemerkt zugehört und verstanden, dass ich noch immer an die Schattenwesen glaube. Sie fing an mich anzuschreien, dass ich endlich mit dem Unsinn aufhören soll, weil es keine Schattenwesen gebe. Später habe ich gehört, wie sie zu meinem Vater gesagt hat, dass ich ihr manchmal echt Angst mache, wenn ich so wirres Zeug rede. Das hat mich unglaublich traurig gemacht. Ich wünschte, sie würde mich verstehen. Ich kann ja auch nichts dafür, dass ich so etwas sehe. Ich wünschte mir, sie würde mich verstehen.
In der Schule ist es genauso schrecklich. Als ich meiner besten Freundin vor einiger Zeit in mein Geheimnis eingeweiht hat, erwiderte sie nur, dass wir zu alt für solche Babygeschichten seien. Kurze Zeit später wusste die ganze Klasse mein Geheimnis und hat sich darüber lustig gemacht. Also erzähle ich niemanden mehr von dem, was ich sehe.
An manchen Tagen ist es kaum zu ertragen, die Schattenwesen alleine auszuhalten und geheim zu halten, wenn sie sich mal wieder etwas mehr aus ihrem dunklen Zuhause raustrauen und mich schikanieren. Wenn ich Angst bekomme oder was sage, schauen mich alle anderen nur komisch an. Ich muss versuchen, alles für mich zu behalten und mir nichts anmerken zu lassen. Aber wie soll ich das bitte anstellen? Wenn eine Schliere aus dem Schatten nach mir greift, dann kann ich nicht dasitzen und es still über mich ergehen lassen. Ich habe so Angst, dass die Tiefschwarzen mich erwischen und in ihre Welt ziehen.
Obwohl ich mich so unauffällig wie möglich verhalten habe, hat meine Mutter wohl trotzdem gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Seit einiger Zeit schleppt sie mich zu unzähligen Ärzten. Diese reden ganze Zeit auf mich ein, machen seltsame Test mit mir und erklären meiner Mutter irgendwelche angeblichen Ursachen für mein Verhalten. Ich verstehe gar nichts mehr, erst Recht nichts von den ganzen Fachwörtern, die mir um die Ohren gehauen werden. Keiner will mir so wirklich erklären, was los ist. Ich glaube, dass das sowieso nichts bringt. Wenn sie mir schon nicht zuhören und meine geheime Welt als Unsinn abtun, wie sollen sie mir dann helfen?!
Wenn mir alles zu viel wird, flüchte ich mit meinen Gedanken einfach in meine Welt, zurück zu meinen hellgrauen Freunden, die mich auffangen. Ich wüsste nicht, was ich ohne sie tun sollte. Selbst in meinen Träumen sind die Hellgrauen bei mir und schützen mich vor den tiefschwarzen Schatten.
Seit einigen Tagen muss ich längliche bunte Pillen nehmen, welche mir von einem Arzt verschrieben wurden. Jeden Tag muss ich morgens und abends eins dieser Dinger runterwürgen. Sie sind viel zu groß und liegen sperrig in meinem Mund, ich bekomme sie kaum geschluckt und habe das Gefühl, an ihnen zu ersticken. Erst habe ich keine Wirkung gespürt. Aber heute früh als ich aufgewacht bin habe ich sofort gespürt, dass etwas anders ist als sonst. Mein Zimmer sah plötzlich kalt und leer aus. Nicht nur mein Zimmer, alles um mich herum wirkte trostlos und verlassen. Ich merkte sogleich warum. Alle Schatten, die mich mein ganzes Leben lang begleitet haben schienen verschwunden. Ich hatte keinen Zugang zu meiner geheimen Welt mehr. Es war, als wäre ein Teil von mir einfach aus meinem Herzen gerissen, mit den Schattenwesen verschwunden.
Es muss an den Tabletten liegen, sie haben meine Welt zerstört. Die Tage sind trostlos und langweilig, ich weiß nichts mehr mit mir anzufangen. Obwohl auch die Tiefschwarzen Schatten die mir immer Angst machten verschwunden sind, fühle ich mich schlechter als zuvor. Ich kann es nicht wirklich erklären, ich fühle mich einfach durchgängig schwer und traurig. Nichts macht mir mehr Spaß, ich sehne mich nach meiner geheimen Welt zurück. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll, ohne sie kann ich einfach nicht mehr.
Meine Mutter scheint wieder zu merken, dass es mir schlecht geht. Sie versucht mit allen möglichen Mitteln mich aufzumuntern. Zudem hat sie mir erklärt, dass es normal ist, wenn man von den Tabletten anfangs etwas trauriger wird, das sind einfach so Nebenwirkungen. Das soll aber nach einigen Wochen verschwinden, oder ich bekomme zusätzliche neue Tabletten gegen die Traurigkeit. Da sieht man wieder, wie wenig meine Mutter und die Ärzte mich und meine geheime Welt verstehen. Als ob man alles einfach mit Tabletten therapieren könnte, was ist das nur für eine sinnlose und dämliche Idee.
Deswegen habe ich beschlossen, meine Tabletten nicht mehr zu nehmen. Zum Glück vertraut mir meine Mutter soweit, dass ich die Tabletten alleine einnehmen darf. Damit es nicht auffällt. spüle ich sie einfach Tag für Tag die Toilette hinunter. Und mein Plan hat funktioniert. Nach einiger unerträglich langen Zeit habe ich langsam wieder Einblicke in meine geheime Welt bekommen. Erst nur hier und da in den Ecken blasse Schemen. Dann wurden die Schattenwesen immer deutlicher sichtbar. Endlich. Viel zu lange war ich von meiner Welt abgeschnitten.
Es ist schon leicht dämmrig draußen. Ein lauwarmer Abend und ich gehe zum Fenster, um etwas Luft in mein Zimmer zu lassen. Ich beuge mich leicht aus dem Fenster und lasse den Wind um mein Gesicht streichen. Mein Zimmer liegt im dritten Stock und ich habe einen weiten Ausblick über die Straßen und Dächer der Häuser unter mir, die sich eng aneinanderreihen. Unten im Hof sehe ich auf einmal einige hellgrauen Schattenwesen. Sie scheinen auf mich gewartet zu haben, lachen und winken mich zu sich. Ich klettre zögerlich raus auf mein Fensterbrett und lasse die Beine runter baumeln. Ganz schön hoch ist es hier, ich fühle mich schwach und unsicher. Aber meine hellgrauen Freunde winken mir vertrauensvoll zu und deuten an, dass ich endlich zu ihnen runterspringen soll. Nach kurzem Zögern rutsche ich etwas weiter an den letzten Rand des Fensterbretts. Bevor ich es mir wieder anders überlege, gebe ich mir einen Ruck stoße ich mich vom Fensterbrett ab. Ich merke wie ich falle, mein Herz rast und alles rauscht an meinen Augen vorbei. Ich habe trotzdem keine Angst, denn ich weiß, dass die Hellgrauen unten auf mich warten und mich auffangen werden. Bei ihnen werde ich sicher sein. Ich lächle und schließe meine Augen. Gleich werde ich zurück sein, zurück in meiner geheimen Welt.