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Sonnenaufgang
Die Sonne ging gerade erst auf und die Wellen rollten flüsternd auf den Strand. Nach dem stürmischen Herbst schwieg der Ostwind nun. Die wenigen, kleinen Schneekristalle sanken gemütlich zur Erde, ungestörte Glitzerpunkte vor dem Rosa des weiten Himmels über der See.
Nougat fand es ein bisschen zu kalt und war froh, dass Frauchen keine Anstalten machte, stehen zu bleiben. Sie ging weiter, die Greifpfoten in den Falten ihres Überzugs vergraben, den Kopf gesenkt. Sie hustete und schniefte. Das machten Menschen, wenn es kälter wurde.
Wieder sah Nougat zum Meer und dem flachen Strand herüber. Beides ging weich ineinander über, doch etwas höher am Strand wand sich eine dicke Schlange aus köstlich stinkendem Seetang neben der Brandung her.
Früher hätte er versucht, Frauchen zu entwischen, um dort zu spielen.
Ja … früher. Da wäre Frauchen stehen geblieben, um das Meer anzusehen, oder hätte die Frisbee geworfen. Nougat wäre ins Meer gelaufen, um zu schwimmen, oder er hätte eben versucht, den Seetang nach Krabben zu durchwühlen, bis Frauchen geschimpft und gelacht und geschimpft hätte.
Aber jetzt ging das nicht. Sie würden erst wieder spielen und auf das Meer sehen, wenn Herrchen zurück wäre. Das konnte jetzt nicht mehr lange dauern, denn Herrchen war schon lange weg, so lange, dass das Haus kaum noch nach ihm roch. Und Herrchen war noch nie so lange fort gewesen, also musste er bald zurückkehren.
Ein Ruck am Halsband. Frauchen war weitergegangen und die Leine spannte. Nougat holte in lockerem Trab auf, bis er neben ihr lief, so, wie er es gelernt hatte.
Herrchen hatte ihm gezeigt, wie man richtig bei Fuß lief. So, wie Menschen im Rudel liefen, ein wenig anders, als Hunde unter sich laufen würden. Nougat war stolz darauf, wie schnell er das gelernt hatte.
Frauchen sagte nichts, als Nougat neben ihr herlief. Das war ein wenig traurig, denn Herrchen hatte sich immer gefreut, wenn Nougat brav war. Aber Frauchen war abgelenkt von dem weißen Ding, das sie sich vor das Gesicht hielt und in das sie jetzt hinein trötete. Ein lustiges Geräusch. Nougat bellte.
„Aus.“ Nougat erkannte zwar die Worte, war aber nicht überzeugt von dem Tonfall. Das war kein befehlendes Bellen, das war ja eher ein Winseln! Als Frauchen an der Leine zog, verstummte Nougat trotzdem.
Vielleicht war ja etwas mit Frauchens Hals nicht in Ordnung, weshalb sie so leise bellte. Sie würde bestimmt bald wieder gesund werden. Vielleicht vermisste sie Herrchen ja auch, denn seitdem er weg war, war auch ihre Stimme so ruhig geworden. Nougat leckte an der Hand, die die Leine hielt, und Frauchen tappte auf seinen Kopf und zog die Greifpfote weg.
Plötzlich spitzte Nougat die Ohren und blieb wie angewurzelt stehen. Er hörte einen fernen Ruf.
Er klang ein bisschen wie ein anderer Hund, aber nur ein bisschen.
Es ruckte an der Leine.
„Bei Fuß“, bellte Frauchen. Ihre Stimme war angespannt, ungeduldig, doch Nougat spitzte die Ohren stärker.
Das war nicht einfach nur ein anderer Hund oder Mensch, der ihn rief – das war ein anderes Wesen in Not!
Nougat bellte, riss an der Leine und machte ein paar Schritte auf das Meer zu.
„Nougat!“, rief Frauchen ärgerlich. Ihr Bellen war jetzt doch lauter als bisher. Vielleicht heilte ihr Hals?
Sie zog an der Leine und machte die Schritte weg vom Meer, die Nougat sagten, dass sie wieder einmal die kurze Runde gehen wollte. Wie lange waren sie nicht mehr den langen Weg gelaufen? Ein kalter Windstoß fuhr durch sein Fell.
Nougat winselte. Herrchen hätte ihn jetzt verstanden, Herrchen hatte immer verstanden. Frauchen nie. Sie war zwar nett, aber sie war nicht Herrchen.
Nougat bellte lauter, in seinen Ohren hallte das klägliche Schreien wider.
„Nougat! Aus jetzt!“, schimpfte Frauchen und zerrte an der Leine. Nougat stemmte sich dagegen. Da ertönte ein leiser Knall und Nougat stolperte ein paar Schritte nach hinten, als der Druck um seinen Hals plötzlich nachließ. Das Halsband war kaputtgegangen und samt der Leine in den wenigen Sand auf dem Stein des Dünenweges gefallen.
Einen kurzen Moment guckten Nougat und Frauchen einander geschockt an, dann drehte Nougat sich um und lief zum Meer.
„Nougat! Bei Fuß! Sofort!“, rief Frauchen gegen den Wind, der inzwischen merklich aufgefrischt war und die kläglichen Rufe immer deutlicher in Nougats Ohren trug.
Er drehte sich um und sah zu Frauchen, die schimpfend die Leine aufhob und in die Stofffalten ihres Überfells schob. „Verdammter Köter! Ich wollte nie einen Hund!“, brüllte sie in den Wind.
Nougat bellte, lief ein paar Schritte, drehte sich wieder um. Frauchen machte Anstalten, nach Hause zu gehen.
Nougat bellte lauter. Frauchen sah aber nicht zurück. Sie ging einfach, als wären sie kein Rudel, wären nicht Hund und Frauchen.
Nougat gefror das Bellen im Hals. Sie ließ ihn alleine! Winselnd machte er ein paar Schritte, aber er hörte wieder das Jaulen. Er konnte nicht zu Frauchen, er konnte die Hilferufe nicht ignorieren. Und wenn er alleine gehen musste, würde das eben so sein.
Nougat legte die Ohren an und drehte Frauchen den Rücken zu, um weiter auf die Quelle der Geräusche zu zu laufen. Er musste ein Stück zurück, an der Küstenlinie entlang. Da vorne, da war doch etwas dunkles auf dem Sand.
Nougat ging jetzt langsam, denn er hatte Angst. Angst, sich von Frauchen zu trennen, Angst davor, was das andere Wesen so verletzt hatte, dass es derartig weinte.
Plötzlich hörte Nougat Schritte hinter sich, die im Rauschen von Meer und Wind und gedämpft vom Sandstrand fast nicht zu hören gewesen wären. Erschrocken drehte er sich herum, da war Frauchen schon fast bei ihm.
„Nougat! Was tust du denn?“
Frauchen drückte die Greifpfoten in sein Nackenfell und zog, als Nougat im ersten Moment überrascht zur Seite springen wollte.
Er winselte vor Erleichterung. Frauchen war doch gekommen. Gerade wollte sie ihm die Leine um den Hals legen, als sie in ihren Bewegungen innehielt.
„Was ist das für ein Geräusch?“
Das Jaulen klang deutlich im Wind mit. Frauchen musste es jetzt ebenfalls hören. Sie ließ die Leine sinken.
Nougat bellte dumpf und trottete los. Frauchen folgte ihm, jetzt wieder leise, aber ihre Augen blickten wach und es lag ein Glanz darin, der Glanz eines Jägers.
Plötzlich hatte Nougat Sorge. Was, wenn Frauchen den Urheber des kläglichen Jammers fressen wollte, statt ihm zu helfen?
Nein, das würde Frauchen nicht tun. Menschen waren vielleicht unverständlich, aber sie waren auch sehr lieb. Nougat erinnerte sich, wie Frauchen und Herrchen mal einen Vogelwelpen gefunden hatten. Statt ihn zu ignorieren oder zu töten, hatten sie das kleine Tier aufgehoben und gefüttert, bis es weggeflogen war.
Zuversichtlicher wurde Nougat schneller und führte Frauchen zu dem dunklen Schatten.
Es musste ein Hund sein, wenn auch ein seltsamer. Seine Laute konnte Nougat nicht ganz verstehen, bis auf die Tatsache, dass der andere Hund Hilfe brauchte.
Es war ein dicker Hund, der keine Hinterbeine hatten, stattdessen ging sein Körper hinten in zwei flache, sehr längliche Pfoten über. Einen Schwanz hatte der andere Hund auch nicht. Und auch seine Vorderbeine waren weg, nur zwei weitere der seltsamen Pfoten klebten ihm unter der Brust. Doch die Schnauze war die eines Hundes, hellgrau mit dunkleren Flecken und mit langen Tasthaaren. Und zwei große, kugelrunde Augen von dem glatten Kopf ohne Ohren sahen Nougat und dann Frauchen ängstlich an.
Frauchen machte ganz seltsame Geräusche. Nougat erinnerte sich daran, wie Herrchen früher mit ihm gesprochen hatte. Frauchen hatte das nie gemacht, nur jetzt redete sie so mit dem anderen Hund, der nach Meer und Algen roch.
„Na, mein Kleiner. Was machst du denn hier? Du hast dich verschwommen, oder? Und deine Flossen sind ganz eingeschnürt.“
Frauchen beugte sich über den grauen Hund und zog an den grünen Linien irgendeines Seilgeflechts, das den anderen eng umschnürte. Sie tastete ihr Stofffell ab und suchte nach irgendwas.
Nougat ging näher an den eingeschnürten Hund heran und schnupperte.
„Nougat, nicht!“ Frauchen zog ihn zurück und Nougat machte brav ein paar Schritte nach hinten. Der nach Meer riechende Hund jaulte wieder und wollte von ihnen abrücken, doch kam er mit den seltsamen Pfoten und verheddert im Netz nicht weit. Stattdessen wurde sein Jammern plötzlich gepresster, pfeifender.
„Oh, nein, nein, nein!“, rief Frauchen und fasste jetzt mit bloßen Fingern das Seil, das sich wie ein Halsband um den Nacken des Tieres gelegt hatte. Nougat hörte Panik in Frauchens Stimme und bellte, worauf der komische Hund noch stärker zappelte.
„Aus, Nougat! Verdammt, er kriegt Angst!“
Frauchen zerrte mit einer Hand an der Halsschlinge, mit der anderen zog sie jetzt etwas aus dem Stofffell, das Nougat erkannte: Es war ein Griff, aus dem sich eine spitze Schneide und auch andere Menschenwerkzeuge aufklappen ließen. Frauchen hatte das Ding eigentlich immer dabei, immer, seit Nougat mal beim Spielen im Wald in ein Dornengestrüpp gelaufen und nicht wieder herausgekommen war. Damals hatte Herrchen ihn gerettet, war einfach in die Dornen und Brennnesseln gekommen, hatte Nougat auf die Arme gehoben – und Nougat war schwer – und ihn aus dem Gestrüpp getragen. Große Stücke von Nougats Fell waren dabei zurückgeblieben, und danach hatte Frauchen begonnen, den Werkzeuggriff mitzunehmen, mit dem man Schneiden und Bohren und Sägen konnte.
Jetzt schnitt und bohrte und sägte sie an dem Seil herum, während der Meerhund fiepte und jaulte. Nougat kam vorsichtig wieder näher. Er wusste nicht, warum Frauchen ihn von dem anderen Hund fernhalten wollte, das Tier sah doch nicht gefährlich aus!
Vor lauter Mitleid fiepte er mit und die runden Augen des anderen Hundes richteten sich plötzlich auf ihn. Nougat stellte die Ohren auf. Die Augen des anderen waren dunkelbraun, feucht und flackerten vor Furcht.
Er winselte selber und kam noch ein Stückchen näher. Er wollte nicht, dass der andere Hund Angst oder Schmerzen hatte. Und der fremde Hund verstummte überrascht und hielt still. Er reckte nur schnuppernd die Schnauze – da hatten sich ihre Nasen auch schon berührt und beide Tiere durchfuhr es wie ein Schlag, sodass sie zurückzuckten.
Der andere Hund starrte Nougat immer noch an, der sachte mit dem Schwanz wedelte. ‚Menschen sind freundliche Geschöpfe‘, wollte er dem Fremden sagen. Es musste ein Streuner sein, oder er hatte gemeine Menschen kennengelernt. ‚Aber Frauchen ist nicht so‘, beteuerte Nougat mit dem Blick. ‚Sie ist weniger hundisch als Herrchen, sie versteht nicht immer alles, aber sie ist sehr lieb.‘
Der andere Hund hielt still und Nougat bemerkte mit einigem Stolz, dass Frauchen das Leinennetz Stück um Stück auftrennte. Der Blick des komischen Hundes glitt zwischen ihnen beiden hin und her, bis Frauchen schließlich die letzten Seile zur Seite warf und aufstand.
Wie von einer Biene gestochen warf sich der Hund herum und robbte unbeholfen los. Nougat wollte nach vorne und ihn aufhalten, aber Frauchen hielt ihn sofort fest. Nougat bellte warnend – der andere hielt direkt auf das Meer zu!
„Ganz ruhig, Nougat.“ Frauchen kniete neben ihm und hielt ihn fest. Ihre Finger strichen durch sein Fell, genau … genau wie Herrchens Finger früher. Nougat sah Frauchen überrascht an.
„Der Seehund gehört ins Meer, du brauchst dir keine Sorgen zu machen“, flüsterte Frauchen.
Sie … sie hatte verstanden? Nougat konnte den Blick nicht von Frauchen wenden. Und was schimmerte da auf ihren Wangen? Tränen? Aber sie lächelte und sie roch auch nicht unglücklich.
Schnell, bevor Frauchen ihn aufhalten konnte, leckte er die Tropfen ab. Sie schmeckten nach Meer.
„Nougat!“ Frauchen stieß seine Schnauze sanft zur Seite und lachte.
Es musste Gischt gewesen sein, die auf ihrem Gesicht gelandet war.
Der fremde Hund – Meerhund? – hatte die Brandung jetzt erreicht und tauchte in die weißen Schaumkronen ein. Frauchen vertrauend wartete Nougat ab, und tatsächlich: Trotz der komischen, kleinen Pfoten schwamm der andere Hund im nächsten Moment schon geschickt durch die Wellen und plantschte wie ein glücklicher Welpe. Dann tauchte er unter und war weg.
„Komm, Nougat.“
Frauchen stand auf. Nougat trottete an ihrer Seite her. Ohne Leine. Die hatte Frauchen ganz vergessen. Frauchen wirkte seltsam. Glücklich. Ja, sie wirkte sehr, sehr glücklich, zum ersten Mal seit langem.
Unterwegs fielen Nougat die Sterne auf, die in den Fenstern der Häuser ringsum langsam vor der aufgehenden Sonne verblassten. Zu Hause legte er sich in sein Körbchen, während Frauchen ganz viele Dinge tat.
Sie räumte alte Stofffelle weg, die auf dem Boden gelegen hatten. Sie tat ein neues Stofffell auf das große Menschenkörbchen. Sie ging mit dem röhrenden Lärmdämon durch das Haus, der auch die pieksigen Nadeln unter dem Tannenbaum im Haus auffraß, und danach noch mal mit dem komischen Besen, der Wasser auf dem Boden verteilte, bis diese glänzten.
Danach machte Frauchen die Fenster auf und plötzlich roch es im Haus ganz anders. Nicht mehr so intensiv nach Frauchen. Der Geruch von Herrchen verflog ganz.
Dann roch es plötzlich nach warmen Teig und Nougat wurde neugierig. Frauchen machte diese kleinen Leckereien, die er nicht essen durfte, von denen er aber immer zwei, drei stibitzte, sobald sie abgekühlt waren.
Diesmal war Frauchen schneller. „Nougat! Die sind nicht gut für dich!“
Schon war das herrlich duftende Tablett verschwunden. Dafür reichte Frauchen ihm einen Hundekeks und kraulte ihn, so, wie Herrchen es früher getan hatte. Er durfte sogar mit auf das Sofa, während Frauchen sich einen Film ansah.
Nougat kuschelte sich an Frauchen, sah den vier flackernden Kerzen auf dem Tisch bei ihrem Tanz zu und stellte fest, dass er Herrchen nicht mehr ganz so schmerzlich vermisste.