Knarzend öffnete sich die Tür der kleinen Holzhütte im Hochmoor. Eine behandschuhte Hand war das erste, was sich von der schmächtigen Person im Wollmantel draußen sehen ließ. Offenbar hatte sie gewisse Schwierigkeiten, die Tür gegen den Wind zu öffnen und hinaus zu gelangen. Als sie hinaus gegangen war, drehte sie sich sofort um, um ihr Gesicht vor den Schneeflocken zu schützen, die der Wind herum wirbelte. Mit aller Kraft verhinderte sie, dass die Tür ins Schloss zurück prallte. Wenn die bricht, dachte Amla, bin ich erledigt. Kopfschüttelnd stapfte sie die knapp hundert Meter zum Toilettenhäuschen. Bei diesen Schneewehen würde es unmöglich sein, Hilfe zu bekommen. Und sie selbst hatte kein Werkzeug für Reparaturen da.
Brummelnd schälte sie sich aus ihrem Umhang, öffnete gleichzeitig die Tür, um einigermaßen trocken ins Häusle zu kommen, wo sie sich aus ihren weiteren Kleidungsstücken befreite, soweit es für den Zweck eben nötig war. 'Was hab ich mir nur dabei gedacht, hier her zu ziehen', schalt sie sich für den spontanen Einfall, der ihr im farbenprächtigen Spätsommer gekommen war. Damals hatte sie sich eine Auszeit von all der Hektik und dem Trubel des Stadtlebens gewünscht, war ihre endlosen Prüfungen leid, die sie zum Schulabschluss ablegen musste. Eigentlich hatte sie ein Psychologiestudium beginnen wollen, aber dann hatte sie bei einer Wanderung diese Hütte entdeckt. Voller Spinnweben und verstaubt, aber immerhin mit einer kleinen Feuerstelle.
Mooneye hatte sie dort hin geführt. Genau genommen, hatte sie die orange-weiße Katze bei einer Wanderung entdeckt, als sie ein Picknick hier im Moor machen wollte. Hatte es sich gerade unter ein paar Birken gemütlich gemacht, als sie diese langgezogenen kläglichen Laute hörte. Zum Glück hatte die Sonne geschienen - sonst hätte sie Angst bekommen. So aber hörte sie die Klage in dem Rufen und folgte ihm - bis zur Ruferin: Mooneye. Sie hatte ihren Schwanz in der Tür eingeklemmt und wirkte schon ziemlich geschwächt.
Die Katze hatte ihr aufmerksam zugesehen, als sie vorsichtig die Tür von der Katze hob. Damals war sie aus unerfindlichen Gründen aus den Angeln gefallen und auf der Katze gelandet, so dass die sich nicht mehr entfernen konnte.
Nachdem sie sie befreit hatte, hatte sie sie vorsichtig untersucht. Außer einer Druckstelle am Schwanz und grässlichem Hunger war ihr aber nichts passiert. Spontan hatte Amla ihre Sachen zusammen gesammelt, die Tür notdürftig an ihren Platz befördert und sich in der Hütte eingerichtet. Ihre Käsebrote bot sie Mooneye an, die dankbar akzeptierte. Auch das Wasser war willkommen. Doch die Nacht war nicht vorbei, als die Katze sich schon miauend an der Tür zu schaffen machte, um hinaus zu kommen.
So ganz alleine im Moor fand Amla dann doch ein bisschen gruselig. Sie lauschte den Rest der Nacht über auf die knackenden, schmatzenden, pfeifenden Geräusche. Als Mooneye am nächsten Morgen lautstark Einlass begehrte, war sie über alle Maßen erleichtert.
Die Katze sprang auf die Matratze und rollte sich dicht an die junge Frau geschmiegt zusammen. Bald war sie schnurrend eingeschlafen. Amla tat es ihr nach. Erst, als die Katze reckte und streckte, stand auch sie auf. Ein wenig kalt gewordener Tee und ein Müsliriegel bildeten ihr Frühstück. Nach ausgiebigem Schmusen dachte sie sich eine Konstruktion aus, die die Tür für Mooneye offen halten würde, während sie nicht da war, um als Türsteher zu fungieren. Dann verabschiedete sie sich: "Ich kann mein Essen nicht fangen, wie du. Außerdem muss ich mich um ein paar Sachen kümmern. Menschensachen, Studium und so. Du weißt davon nichts. Aber so ist es nun mal. Aber ich komme wieder und bringe dir dann was Leckeres mit! Versprochen!"
Mooneye schaute sie an, als habe sie verstanden. Sie strich ihr noch ein paar Mal um die Beine und begleitete sie bis zum Weg. Dann setzte sie sich und schaute ihr nach.
Schon eine Woche später kam Amla wieder, blieb das Wochenende und schaufelte die ganze Asche aus der Feuerstelle. Dann suchte sie nach einem guten Lager für Brennholz und begann nach und nach die Hütte auszubessern, aufzuräumen und mit allerlei Nützlichem auszustatten. Ihre Nachforschungen ergaben, dass die Hütte niemandem gehörte - ja, mehr noch. Sie schien im Dorf niemandem bekannt zu sein. Da sie auch vom Wanderweg aus nicht zu sehen war, verirrte sich eher selten jemand hierher.
Amla genoss ihre Zeit alleine mit Mooneye. Alle ihre Geheimnisse, Sehnsüchte, traurigen Erinnerungen konnte sie ihr anvertrauen. Als der Herbst einsetzte, dachte sie zum ersten Mal daran, die Katze mitzunehmen. Doch das war einfacher gesagt als umgesetzt: Zum ersten Mal fauchte sie das Tier an und fuhr sogar die Krallen aus, als sie sie hoch heben wollte. Weder gutes Zureden noch Geduld bewirkten eine Änderung ihrer Meinung. Stur machte sich die Katzendame schwer, wich aus. Schließlich musste Amla einsehen, dass sie ihre fellige Freundin würde im Stich lassen müssen, wenn der Winter kam.
Doch der Gedanke, Mooneye könne etwas zustoßen, verfolgte sie und verursachte ihr Alpträume. Schließlich cancelte sie kurzerhand ihren Studienplatz, packte eine Menge Lebensmittel ein und begann ihr Abenteuer. Neudeutsch: Minimalistischer Lebensstil.
Die ersten drei Wochen fühlten sich gut an. Doch dann war der Schnee gekommen. Hier oben gab es nichts. Nur Weiß, Weiß, und die gespenstischen Schemen der kahlen Birken. Kein WLAN, kein Netz, kein Empfang. Auch das sah Amla zunächst als Teil ihrer Auszeit an.
"Aber langsam reicht's, mir friert hier der Arsch ab", schimpfte sie und nestelte mit klammen Fingern an ihrem Hosenknopf. Als sie sich zurück zur Hütte kämpfen wollte, hörte sie ein merkwürdiges Geräusch. Es klang nicht so durchdringend wie damals Mooneye. Eher dunkel, abgehackt - was für ein Wesen mochte so ein Geräusch von sich geben?
Amla schaute zur Waldgrenze, in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Es wurde lauter, schien näher zu kommen. Sie zitterte. Was nun? Entschlossen packte sie einen dicken Ast und stapfte in den Schutz einer Birke.
"Boaah! So ein ...! Waaas hab ich bloß... " Eindeutig menschliche Laute waren es nun. Männliche.
Die junge Frau kaute nachdenklich auf ihrer Lippe. Jemand kam durch das Schneegestöber sehr zielstrebig auf sie zu. Amla bekam Angst. Sie blieb in ihrem Versteck und beobachtete, wie er sich näherte.
Offenbar hatte er einen sehr großen Rucksack auf und stapfte auf Schneeschuhen, gestützt auf Skistöcke näher. Als er nah genug war, um die Hütte zu sehen, blieb er stehen und schaute auf.
Klar, dachte Amla, der Rauch ist zu sehen ...
Er nahm seine Wanderung wieder auf und kam ganz heran.
Amla schlotterte mittlerweile vor Kälte. Mist, dachte sie, Weihnachten steht vor der Tür, ich bin alleine und kann nicht weg, ein Fremder kommt einfach so her - und ich kann nicht mal jemanden anrufen ... Gerade, als er mit der Eingangstür kämpfte, entschloss sie sich zu ihrem einzigen Ausweg: "He, Sie, was machen Sie bei meiner Hütte?!" Sie schritt betont forsch auf ihn zu und blieb etwa einen Meter hinter ihm stehen.
Die Gestalt in Pudelmütze und dicker Winterjacke, drehte sich um. Eine Schneebrille verdeckte das Gesicht. "Komm besser rein, das diskutieren wir wohl lieber drinnen aus." Die Stimme klang nicht unsymphatisch. Er hielt die Tür für Amla auf.
Zögernd trat sie ein.
Er setzte seinen Rucksack ab, nahm Schneebrille und Mütze ab. Ein gepflegter, kurzer Vollbart umrahmte funkelnde Augen und einen breiten Mund. "Aber um das mal klar zu stellen: Die Hütte hier ist meine. Du glaubst doch nicht, dass ich sie sonst unter diesen Bedingungen gefunden hätte."
"Deine Hütte?" Amla blieb der Mund offen stehen.
"Ich habe sie vor fünf Jahren gebaut und war dann lange außer Landes. Erst vor ein paar Wochen habe ich mich entschieden, heim zu kehren."
"Aha." Die junge Frau setzte sich aufs Bett und kraulte Mooneye.
"Oh, Peersdottir, alte Gaunerin, du lebst auch noch?" Beim Anblick der Katze kniete er sich hin. Der Schein des Feuers gewährte einen sehr vorteilhaften Blick auf sein gebräuntes Gesicht, also soweit der Bart es zuließ. Er begrüßte die Katze hingebungsvoll. Sie schmuste sofort mit ihm, als sei es das Natürlichste von der Welt.
"Die scheint Sie zu kennen." Was Dümmeres fällt mir wohl nicht ein, schalt sich Amla. Sie wusste nicht, was sie tun sollte.
"Ich bin übrigens Pan", sagte der Mann und hielt ihr die Hand hin. "Vielleicht ist es ja gar nicht so schlecht, hier zu zweit zu sein? Wenigstens bis es auftaut und wir eine andere Alternative haben."
Das klang sehr vernünftig. "Ich bin Amla", sagte sie und sie schüttelten sich die Hände. "Nur, mit dem Bett ..." Bett war für dieses Lager mit Matratze ein sehr schmeichelhafter Ausdruck...
Er grinste. "Also meinetwegen ..."
"Bilden Sie sich bloß nichts ein!" Amla wurde rot und wandte sich schnell ab.
"... kannst du das haben. Ich mache mir ein Lager aus meiner Isomatte und dem Schlafsack. So habe ich sowieso die letzten Jahre geschlafen, also warum nicht jetzt?"
Erstaunt und erleichtert atmete sie auf.
"Nein, es ist nicht meine Gewohnheit, Mädchen in schutzloser Lage zu bedrängen", sagte er. "Frohe Weihnachten übrigens. Lass uns was singen." Er hatte tatsächlich eine kleine Handtrommel und eine Flöte in seinem Gepäck.
Amla nahm die Trommel. Es wurde ein sehr schöner Abend. Auch Silvester mussten sie noch zusammen feiern, doch bald nach Neujahr taute es genug, dass eine oder einer die Hütte hätte verlassen können.