Im Radio trällert Udo Jürgens, „ich war noch niemals in New York“
und Esmeralda schaut sehnsüchtig beim Küchenfenster hinaus, das wäre das ultimative Geschenk zu ihrem Geburtstag, dem runden Geburtstag, doch wer sollte ihr, der kleinen Angestellten der hiesigen Bibliothek, so eine tolle Reise schenken. Esmeralda wäscht ihr Frühstücksgeschirr ab und sie träumt schon von der Reise nach New York, im Radio kommen und gehen die Schlager, es werden die Nachrichten gesendet, doch Esmeralda hat immer noch DAS Lied im Ohr, „ich war noch niemals in New York“.
Wie eine Marionette erledigt Esmeralda den Abwasch, räumt die Küche auf, eigentlich ein Tagesablauf wie immer, wie jeden Morgen, wäre da nicht DAS Lied, das sich wie ein Parasit in ihrem Kopf festgesetzt hat und alles, ja wirklich alles in Frage stellt.
Esmeralda kann keinen klaren Gedanken mehr fassen, sie geht in der Wohnung umher, dieses Lied hat die Grundmauern ihrer Lebensinhaltsregeln erschüttert, aber warum? Es waren sicherlich noch abertausende Menschen noch niemals in New York, sie schüttelt den Kopf.
Esmeralda nimmt ihre Jacke unter den Arm und setzt den Strohhut auf ihre dunklen, langen Locken und verlässt nachdenklich die Wohnung, sie wird heute den Weg durch den Park nehmen, sie hat noch Zeit, sie muss erst um 9,30 in der Bibliothek sein und sie marschiert zielstrebig auf den Park zu, mit dem Lied im Ohr „ich war noch niemals in New York“.
Im Park zwitschern die Vögel, ist das nicht wie „ich war noch niemals in New York“, sie bleibt stehen und lauscht, nein es ist ein ganz normales Gezwitscher, nicht mehr und nicht weniger, Esmeralda geht weiter, es begegnen ihr Schulkinder, fröhliche und welche die waren irgendwie anders, DIE waren sicherlich noch niemals in New York, denkt sie und geht weiter. Einige Arbeiter sind damit beschäftigt einen Baum umzusägen, der schon die längste Zeit schief steht und sich gefährlich weit über den Weg neigt, Esmeralda hört das brummen der Motorsäge und sie hört „ich war noch niemals in New York“ sie bleibt stehen. Der Baum fällt in die Wiese, die Motorsäge verstummt und die Musik, wieso ist sie immer noch da?
Esmeralda verlässt den Park, überquert die Straße und kommt in der Bibliothek an. Sie legt die Jacke über den Stuhl und geht, ohne ihren Hut abzulegen schnurstracks zu den Reiseführern und entdeckt es, das Buch über NEW YORK. Sie nimmt es aus dem Regal und geht zu ihrem Stuhl, jetzt legt sie auch den Hut ab und noch im stehen fängt sie an zu blättert, fasziniert von den Bildern mit den gigantischen Gebäuden, den schrillen Menschen und mit dem Lied im Ohr, „ich war noch niemals in New York“ vergisst sie alles um sich herum.
„Schwelgen sie noch in Urlaubserinnerungen, waren sie in New York“, sie hört die Stimme wie durch einen langen Tunnel und schaut auf. Wie lange hat sie in diesem Buch geblättert, wie lange schon beobachtet sie dieser fremde Mann. Esmeralda schlägt das Buch zu und schaut in zwei braune lustige Augen, die Augenbrauen hatte er etwas zusammengezogen, das kurze graue Haar war struppelig, so wie bei einem Hund, ja bei einem nassen Hund und in der Hand hält er, das gleiche Buch wie sie, NEW YORK – eine besondere Stadt.
Esmeralda ist verunsichert, sie fängt zu stottern an, sie weiß ja nicht einmal warum und wieso sie dem fremden Mann etwas erklären sollte, und sie wird rot dabei, das kann sie spüren, das passiert ihr sonst nie, nein das ist ihr bis jetzt noch niemals passiert. Sie schweigt.
Der Mann mit den lustigen braunen Augen hakt nach, „waren sie schon mal in New York“?
Esmeralda schüttelt den Kopf, sie bringt kein Wort heraus.
„Das ist mein großer Traum, einmal nach New York“ hört ihn Esmeralda sagen, doch es war so leise, so als ob er laut gedacht hätte, doch seine Augen leuchten vor Begeisterung und Esmeralda nickt dazu.
„Ja einmal nach New York, ich war noch niemals in New York“, sagt sie nach einer Weile, legt das Buch auf den Schreibtisch, nimmt ihre Jacke, setzt ihren Hut auf und verlässt nachdenklich die Bibliothek.
Zielstrebig geht sie ins nahegelegene Reisebüro, mit dem Lied im Ohr, „Ich war noch niemals in NEW YORK“ , ja sie weiß nun was sie will.