Die Bilder der nächsten Wochen und Monate laufen wie in einem Kinofilm vor meinem Augen ab:
Der 18. Geburtstag unseres Großen. Gefühlt war das ganze Dorf bei uns im Haus. Da trat jemand sehr deutlich in Jakobs Fußstapfen.
Martin mit seinem Führerschein und dem kleinen Auto. Der Stolz in seinem Blick - und die Lebenslust.
Weihnachten mit Margarete. Die gesundheitlich sehr abbaute, geistig aber topfit blieb.
Jan, der am ersten Feiertag mit dem Kirchenchor das Ave Maria sang und zum ersten Mal seit Monaten einfach nur lachte.
Martin am Abschlussball der Tanzschule. Mit Heike. In die er sehr verliebt war, und die auch wir sehr ins Herz geschlossen hatten. Wir fühlten uns an uns selbst erinnert. So jung. So verliebt und voller Pläne. Nur die Zukunft im Blick, die Träume vor Augen.
Paul und ich bei "Luigi", wobei das Lokal jetzt Dolce Vita hieß und der Inhaber Enzo. Aus dem Freitagabend war der Samstag geworden, da der Kirchenchor freitags probte und wir Gefallen daran gefunden hatten. Bis heute übrigens.
Der 20. Hochzeitstag, kurz nach meinem 40. Geburtstag. Herrje, wie ist es mir schwer gefallen, diese Zahl zu akzeptieren. Wir hatten die Feiern zusammengelegt und selbst Ursel war für ein paar Tage aus den Staaten gekommen. Sie sorgte sich um unsere Mutter, die mittlerweile kaum noch gehen konnte. Martin war viel bei seine Oma, lernte dort, wenn es ihm Zuhause zu viel wurde.
Nach jener Krisennacht waren wir mit Jan beim Hausarzt und einem Heilpraktiker gewesen. Beide hatten auch ohne uns mit dem Jungen gesprochen und uns versichert, dass er einfach Zeit brauchte. Er sei in einer schwierigen Phase. Das würde sich geben. Verwachsen. Hilfreicher waren die Ansätze der neuen Vertrauenslehrerin an Jans Schule. Sie teilte unsere Sorgen, nahm sie deutlich ernster als die Ärzte. Schwierig war, dass Jan sie anfangs nicht gut kannte. Mit dem Vertrauen tat er sich daher zunächst sehr schwer. Sie folgte meiner Ansicht aber uneingeschränkt, was die Musik betraf. Und sie bot Jan an, jederzeit ein offenes Ohr zu haben. Auch ganz besonders nach dem Unterricht, nach den Gesangstunden. Ihr gegenüber öffnete er sich ein wenig. Zögerlich zwar, aber sie lockte ihn durchaus heraus. Schade, dass sie nur ein Schuljahr blieb.
In diesen Monaten waren seine Musikstunden mehr Therapie als Unterricht. Damals bekamen wir das gar nicht so mit, aber Klara Jansohn war vermutlich so was wie seine Lebensretterin. Sie hatte erkannt, dass Jan nach einem Weg suchte, seine Trauer und Ängste, seine Verzweiflung und Wut loszuwerden. Aus dem stillen, nachdenklichen, manchmal traurigen Jungen war außerdem ein zorniger Teenager geworden, der mit seinem Gefühlschaos nur schwer zurecht kam. Seine Wutausbrüche kamen aus dem Nichts. Sie brachte ihm bei, wie er die Energie in etwas Positives umwandeln konnte. Sie empfahl uns, seine Sensibilität auch als eine Stärke zu sehen. Gleichzeitig mahnte sie uns, ihn dennoch nicht zu sehr in Watte zu packen. Auch Jan brauchte Grenzen.
Schulisch, und das war spannend, hatte er sich stabilisiert. Er war natürlich kein so guter Schüler wie Martin oder Alex, aber es reichte für die Mindestsziele. Aus eigener Kraft hielt er ein gewisses Niveau und durfte auch bei den Konzerten und Aufführungen mitwirken. Da er gut durch den Stimmbruch kam, rückte auch ein erstes Solo in greifbare Nähe. Nach wie vor bescheinigte man ihm großes Talent. Durch sein absolutes Gehör fiel es ihm leicht, neue Stücke zu lernen. Im Unterricht lernte er außerdem vom Blatt zu singen. Ein Rohdiamant, so urteilte ein Gesangslehrer, der beim Osterkonzert im Publikum saß. Er lud Jan zu seinem Workshop während der Sommerferien ein. Nach München. Für eine Woche.
Wir waren skeptisch. Noch immer fehlte uns greifbar, wohin Jan dieser Weg beruflich würde führen können. Seitdem er die Werkstatt mied, war die Notlösung Schreinerlehre nur noch eine blasse Erinnerung. Anders als Martin hatte Jan keine Ambitionen zu studieren, schon gar nicht Jura oder BWL. Er hatte ein gewisses Gespür für Sprachen, ein ausgeprägtes Interesse an Literatur und Geschichte und viel Spaß am Sport. Wie Martin war er im Schwimmteam des Sportvereins, aber seine Ambitionen waren auch hier eher bescheiden. Es waren Jans Lehrer, die uns bestärkten, Jan die Chance auf den Workshop zu ermöglichen.
Martin machte Abitur. Und was für eins. Wir platzten vor Stolz. Nie werde ich vergessen, wie er sein Zeugnis in Empfang nahm, die Abschlussrede hielt und mit Heike an diesem Abend tanzte. Ganz unbemerkt war er zu einem jungen Mann geworden. Ob es mir schwer fiel ihn loszulassen? Oh ja. Und wie. Als er zu seinem Interrailtrip aufbrach, natürlich mit Heike, weinte ich bitterlich. Mir wurde schlagartig klar, dass er ab jetzt nie mehr richtig Zuhause leben würde. Dass sich unser Familienalltag ohne ihn verändern würde. Das Haus war auf einmal sehr groß und sehr still. Martins Energie fehlte mir. Immer waren Kumpels da gewesen, auch die fehlten mir jetzt. Obwohl ich mich oft sehr über die laute und freche Bande geärgert hatte. Wenn das Semester los ging, Martin hatte einen Platz an der Wunschuni ergattert, würde er in eine WG in die Stadt ziehen und höchstens am Wochenende nach Hause kommen. Oder, so hoffte ich, wenn ihm die Wäsche ausging oder der Kühlschrank leer war.
Es ist definitiv seltsam, wenn die Kinder ausziehen. Dabei hatten wir mit Martin noch Glück. Er studierte nicht weit weg, kam häufiger als ich vermutet hatte und fand den Weg zurück in seine Heimat. Aber mein Mutterherz litt zunächst sehr. Was mich beruhigte war, dass er sich sowohl von seiner 8-wöchigen Reise als auch später an der Uni regelmäßig telefonisch meldete. Und wie immer ließ er uns in aller Ausführlichkeit teilhaben. Bis heute sind wir seine Ratgeber und Zuhörer. Immer kam er mit jedem Problem zu uns, ganz anders als sein kleiner Bruder.
Dessen Stimmungsschwankungen und Verschlossenheit uns immer mehr zusetzte. Wie viel Kraft ihn diese Zeit selbst gekostet hatte? Ich kann es heute nur erahnen. Bei uns jedenfalls, da lud er hauptsächlich seinen Frust ab.
Ich stand am Küchenfenster, als Jan an einem Donnerstag aus der Schule kam. Der Fahrdienst hatte ihn und Alex wie immer an der Hofeinfahrt abgesetzt. Mit einem fröhlichen Winken verabschiedete sich Alex von seinem Freund. Jan trottete in den Hof und sah sich um. Offenbar hatte er mich nicht bemerkt. Den Ranzen ließ er achtlos vom Rücken gleiten, als Sunny auf ihn zu lief. Jan begrüßte den Hund und schmiegte sich kurz an ihn. Ein paar Sekunden blieb Jan noch in der Hocke, dann stand er auf und wollte nach dem Ranzen greifen. Der Collie sprang schwanzwedelnd vor ihm herum und machte dann ein paar Schritte in Richtung Werkstatt. Selbst aus der Entfernung konnte ich einen Moment Jans Sehnsucht erkennen. Ein Blick nur, dann schüttelte er sich. Er rief nach dem Hund und schulterte die Schultasche. Ich verließ meinen Beobachtungsposten und verharrte einen Moment vor der Schwelle in den Flur. Die Haustür ging. Etwas polterte.
"Mama, ich geh eine Runde mit Sunny, ok?", rief Jan.
Er stand im Gang, hatte die Leine in der Hand. Sein Ranzen lag vor dem Schuhschrank.
"Wohin willst du gehen?", fragte ich nach. Jan leinte Sunny an und murmelte etwas vom Wald.
"Bitte bleib auf den Wegen, hörst du", bat ich ihn. Man konnte in seinem Gesicht Unwillen erkennen. Vermutlich aus purem Trotz. In den Wochen seit Martins Abreise war er besonders bockig gewesen. Seine Launen wechselten rasant.
"Und bitte, geh nicht zum See", fügte ich noch hinzu.
Er zuckte mit den Achseln und öffnete die Schublade des Schlüsselschränkchens.
"Jan, ich möchte nicht, dass du zum See gehst, hast du mich verstanden?" Die Schublade wurde mit einem festen Rums zugeschlagen. Erst letzte Woche hatte ich ihn auf den See angesprochen, nachdem mir seine verdreckten Schuhe aufgefallen waren und er eingestanden hatte, dass er am Ufer gewesen war. Mehrfach. Ich hatte wissen wollen, warum es ihn am frühen Morgen oder auch wie jetzt, am Abend, dorthin zog. Eine schlüssige Antwort war er mir schuldig geblieben. Auch jetzt druckste er herum. Zum Schwimmen war es bisher zu kalt, dieser Sommer hatte noch keine nennenswerten Sonnenphasen vorzuweisen gehabt. Stattdessen spielte er mit dem Schlüsselbund, den er in der Hand hielt.
"Ob du mich verstanden hast?", fragte ich nochmal. Sunny winselte und sah Jan erwartungsvoll an.
"Aber ich will doch nur ganz kurz", maulte er. Kies knirschte im Hof und im nächsten Moment parkte Paul seinen Wagen vor dem Schuppen. Sunny sprang auf und lief seinem Herrchen entgegen. Leise fluchend packte Jan den Schlüssel zurück in die Schublade und funkelte mich dabei stumm an. Dabei schlüpfte er aus der Jacke, warf diese auf den Garderobenschrank und griff nach dem Ranzen. Seufzend bat ich ihn, die Schuhe auszuziehen und seine Jacke ordentlich aufzuhängen.
Wie es in ihm arbeitete.
Er war schon am Treppenabsatz, als ich ihn nochmal bat, dass er sich die Schuhe ausziehen sollte. Diesmal aber strenger als zuvor. Dabei hob ich die Jacke auf und hielt sie ihm hin. Mürrisch riss er sie mir aus der Hand, schlüpfte aus den Schuhen und räumte beides an den Platz. Als er wieder an mir vorbei wollte, hielt ich ihn auf.
"Was hast du?", wollte ich wissen. Jan sah mich stumm an. Er stand relativ dich vor mir. In den letzten Wochen war er gewachsen, hatte fast die gleiche Größe wie Martin im gleichen Alter erreicht. Sprich, er war fast auf Augenhöhe.
"Hallo", begrüßte uns Paul, der in diesem Moment mit Sunny ins Haus kam. "War schon jemand mit dem Hund?", fragte er. Schlüssel und Geldbörse legte er auf dem Sideboard ab und er sah uns verwundert an. "Alles in Ordnung?" Seine Frage entlockte Jan eine Art Fauchen. Ich schüttelte den Kopf.
"Dann geh ich noch eine schnelle Runde vor dem Essen. Bisschen frische Luft schadet nach dem langen Bürotag nicht." Während er antwortete und die Leine nahm, behielt er uns im Auge. Jans schlechte Laune hing schwer im Raum und natürlich spürte dies auch Paul.
"Möchtest du mitkommen?", fragte er seinen Sohn. Der stand immer noch unschlüssig vor mir und hatte die Hände zu Fäusten geballt. Sunny saß winselnd vor der Tür. Paul nahm die Leine und sah dann zu Jan. "Also?"
Schon hatte Paul den Schlüssel in der Hand. Schob ihn die Jackentasche. Legte eine Hand auf die Klinke. Neben mir schluckte Jan schwer. Ich hatte das Gefühl, dass er eigentlich gerne wollte. Doch stattdessen trat er gegen seinen Ranzen und fuhr Paul an.
"Ich wollte alleine mit Sunny gehen. Aber ich darf ja nichts! Das ist so unfair!" Noch ehe die Worte richtig bei mir angekommen waren, war Jan schon an mir vorbei. Er rannte die Treppe nach oben und warf dort geräuschvoll die Tür ins Schloss.
Paul sah mich fragend an, dann gab er Sunnys Winseln nach und verließ mit dem Hund das Haus. Ich ließ mich langsam auf einen Hocker gleiten und atmete tief durch. An diesem Abend ließ Jan sich nur zum Abendbrot blicken, verschanzte sich hinter einer Referatsvorbereitung. Am nächsten Morgen sprach er nur das Nötigste, ehe er zur Schule abgeholt wurde. Ich wartete um die Mittagszeit auf ihn, doch Jan tauchte nach der Schule nicht auf.