Jule.
Erst das zweite Mädchen, dass Jan namentlich erwähnte und uns vorstellte.
Eine zauberhafte, sehr aufmerksame junge Frau mit wunderschönen, sehr ruhigen grünen Augen. Fast immer hatte sie ein Lächeln im Gesicht. Ein ganz anderer Typ als Anna, nicht nur äußerlich. Die blonden Haare trug sie damals meistens als Zopf. Auch sie war schlank, aber nicht so zierlich wie Jans erste große Liebe. Jule war ein zupackender Typ. Offen. Freundlich. Fröhlich.
Es mag unheimlich kitschig klingen, aber zwischen Jan und Jule war sofort eine Verbindung, die beiden brauchten nicht viele Worte. Und Jule blickte hinter seine Fassade und er ließ es zunächst auch zu. Ich glaube, die Zwei waren damals wirklich sehr ineinander verliebt. Und Jan durchaus gewillt, sich zu öffnen und sie eben nicht auszuschließen aus seiner Gefühlswelt. Jule war es, die ihn oft genug an die Hand nahm. Ihn ins Leben zog und ihn auch ab und an zwang, den Mund aufzumachen. Doch verletzte Seelen haben es so an sich, dass sie kratzbürstig reagieren. Um sich schlagen, wenn man ihnen zu nahe kommt.
Ein süßes Paar. Das dachte ich sofort, als wir Jule erstmals trafen. Am Telefon hatte Jan mir erzählt, wie er sie kennen gelernt hatte. Am Theater, in der Maske. Er war zur Perückenanprobe einbestellt gewesen und sie hatte sich gekümmert. Ihre Augen, so erzählte mir mein Sohn voller Begeisterung und ihr Lächeln. Beides war ihm sofort aufgefallen und er hatte sie prompt auf einen Kaffee eingeladen. Es hatte noch ein bisschen gedauert, bis sie zusammen gekommen waren, da Jule eigentlich keine Beziehung mit einem Kollegen eingehen wollte. Doch ausgerechnet bei einer längeren Maskenzeit hatte es dann endgültig gefunkt.
Ostern waren wir in Berlin. Noch während Jan eigentlich zu Ende lernen und studieren sollte, waren er und einer seiner Mitbewohner mit einem kleinen Vertrag ausgestattet worden. Sie waren jeweils als Zweitbesetzung für zwei Nebenrollen verpflichtet worden und lernten nun den Alltag im Spielbetrieb eines Musiktheaters kennen. In den Verträgen des Theaters war auch geregelt, dass die Zweitbesetzungen regelmäßig spielen mussten. Ein- bis zweimal pro Monat, insgesamt zehnmal bis zum Vertragende. Zu seiner zweiten Vorstellung hatte Jan uns eingeladen.
Es war ein wunderschöner Abend. Viel Bühnenzeit hatte Jan freilich nicht, aber er konnte sich zeigen und mich erfüllten diese Momente mit unendlichem Stolz. Paul hatte hier und da ein Tränchen verdrückt. Aus Erleichterung und Stolz und ganz bestimmt auch aus Rührung und Dankbarkeit. Es war ein harter und steiniger Weg gewesen. Reich würde Jan mit diesem Beruf vermutlich nicht werden, aber solange er nur glücklich war und über die Runden kam, war dies doch viel wichtiger. Anschließend waren wir noch etwas trinken. Sein Mitbewohner hatte ebenfalls seine Freundin dabei, Jan seine Jule.
Er war verliebt, das konnte ich sehen. Selten habe ich meinen Sohn so entspannt gesehen, so ruhig und zufrieden. Sein Blick ging immer wieder liebevoll zur Seite und sie erwiderte diesen ebenso zärtlich. Händchenhaltend saßen sie uns gegenüber. Jule erzählte, dass sie keine leichte Kindheit gehabt hatte. Ihren Vater hatte sie nie kennen gelernt. Ihre Mutter, eine Alkoholikerin, hatte die Tochter mit 15 aus der Wohnung geworfen. Sie aber hatte sich durchgebissen und mit 17 eine Ausbildung zur Friseurin begonnen und sich darüber hoch gearbeitet. Heute war sie Make-up-Artistin und hoffte darauf, sich irgendwann selbständig machen zu können. Sie kochte gerne und lud uns kurzerhand für den Ostersonntag zum Essen ein.
Auch an ihrer Wohnung konnte ich erkennen, was Jan an ihr schätzte. Selten habe ich eine gemütlichere Wohnküche gesehen, als damals in Jules Berliner Wohnung. Ihre Offenheit und Lebensfreude nahmen uns sofort gefangen. Jule hatte ein großes Herz. Sie strahlte pure Liebe und Zärtlichkeit gegenüber unserem Sohn aus. Sie wusste schon damals, dass er so seine Baustellen hatte, ahnte aber an diesem Ostersonntag noch nicht, wie weit diese gingen. Wir saßen an einem wunderschönen großen Holztisch, lobten ihren Tafelspitz und Jans Augen leuchteten vor Glück. Beim Tee musterte ich die Wand hinter mir, die über und über mit Fotos bestückt war. Auch Jan konnte ich hier und da entdecken. Viele Freundinnen und viele Orte, die Jule bereist hatte. Für ein halbes Jahr hatte sie in Wien gearbeitet und auch hiervon zeugte diese Wand.
Wir haben uns in diesen Stunden unglaublich wohl gefühlt. Auch Paul meinte später, als wir im Hotel noch für uns an der Bar saßen, dass er sich Jule sehr gut an Jans Seite vorstellen konnte. Vielleicht konnte sie ihm geben, so meinte auch er, was er alleine nicht fand. Nicht nur Halt, nein, das meinten wir gar nicht. Sondern eben die echte Freude am Leben. Ein Zuhause. Eine emotionale Heimat. Mit einem guten Gefühl fuhren wir zurück nach Hause. Wir hatten mit eigenen Augen gesehen, dass Jan Fuß fasste. Dass es ihm gut ging. Dass er sich sozial nicht mehr so isolierte. Und vielleicht hatte er endlich die Liebe gefunden.
Die Probleme lauerten längst. Denn natürlich gab es einen Punkt, über den Jan dann erstmal nicht gehen konnte. Es wurde ihm zu eng. Zu nah. Jule war nun niemand, die ihn einfach fallen ließ oder einfach ging. Sie kämpfte um ihn, für die Beziehung und oft genug fanden sie einen gemeinsamen Weg. Im Frühjahr waren sie ein paar Tage bei uns. Ich lernte Jule nochmal besser kennen und wir hielten den Kontakt dann auch später. Telefonierten regelmäßig miteinander. Sie hatte Fragen. Und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Einerseits wollte ich gerne helfen. Andererseits wollte ich Jan keinesfalls vorgreifen. Hinter seinem Rücken mit seiner Freundin über all das sprechen, was vorgefallen war. Paul riet mir eindringlich, mich nicht einzumischen.
"Anke, was weißt du über Jans Albträume?"
Die Frage traf mich unvorbereitet an einem Sommerabend, kurz vor Jans Geburtstag. Jule klang ungewohnt erschöpft und müde. Bisher hatte ich sie immer fröhlich und zuversichtlich wahrgenommen. Auch in den kleinen Krisen, die das junge Paar durchaus gehabt hatte.
"Als Junge hatte er oft schlechte Träume." Ich überlegte, was genau ich ihr sagen konnte. "Es gab eine Zeit, in der er auch geschlafwandelt ist", meinte ich vorsichtig. Nun konnte ich sie zögern hören. Vermutlich machte sie sich ähnliche Gedanken. Wie weit konnte sie bei der Mutter ihres Freundes gehen? Verständlich.
Jule atmete laut durch.
"Wir reden hier nicht einfach nur von Monstern unterm Bett, richtig?", fragte sie. Für einen Moment schloss ich die Augen.
"Hat sich irgendwas bei euch verändert?", fragte ich nach. "Also zwischen euch oder am Theater oder auch am Konservatorium?", konkretisierte ich meine Frage.
Mit zwei Prüfungen sollte eigentlich in wenigen Wochen die Ausbildung enden. Jan hatte ein weiteres Angebot des Theaters erhalten, diesmal als Zweitbesetzung für eine Hauptrolle. Damit war er direkt nach dem Abschluss für ein weiteres Jahr unter Vertrag und würde in der WG wohnen bleiben. Auch Karim, sein Mitbewohner, hatte einen Anschlussvertrag erhalten. Der Dritte im Bunde aber würde ausziehen, so dass das freie Zimmer an Karims Freundin Sandra gehen sollte. Sie studierte Medizin und wohnte bisher am anderen Ende der Stadt.
Ich hörte zu. Jule erzählte von üblichen Wechseln im Ensemble zum Ende einer Spielzeit. Neue Kollegen, neue Regisseure, neue Helfer hinter und neben der Bühne, zwei neue Dirigenten und sowieso Umbesetzungen im Orchester. Sie erzählte aber auch davon, dass Jan vor dem Vorsingen sehr nervös gewesen war und vor Aufregung beinahe abgesagt hätte. Seitdem, so kam sie wieder auf den Punkt, hatte er nicht gut geschlafen. In der letzten Woche hatten schon dann erste Proben begonnen und seitdem habe Jan vermieden, bei Jule zu übernachten oder sie zu sich einzuladen. Diese Nacht aber, hatten sie zusammen verbracht. Außerdem, so gestand sie mir, habe sie seit ein paar Tagen ein ungutes Gefühl.
"Er weicht mir aus, Anke. Er sagt, er liebt mich, aber er möchte nicht darüber reden, ob und welche weiteren Schritte wir machen. Klar, wir sind erst zehn Monate zusammen. Doch ich liebe ihn und kann mir gut vorstellen, mit ihm zu leben. Wir haben beide jetzt einen Vertrag bis nächsten Sommer. Wir hätten auch hier zusammenziehen können, meine Wohnung ist groß genug. Er hätte ein bisschen Geld sparen können. Karim und Sandra hätten bestimmt einen neuen Mitbewohner gefunden, sofern sie das überhaupt wollen in ihrer neuen Zweisamkeit."
Jule schwieg betreten, ich verstand auch auch so. Vermutlich wäre niemand böse gewesen, Jan wäre von sich aus auf die Idee gekommen, auszuziehen.
"Heute morgen wollte ich wissen, was in der Nacht los gewesen war. Ich habe ihn noch nie so erlebt. Weder in der Nacht, noch so in sich gekehrt am Morgen."
Wie so oft beim Telefonieren saß ich in der Stube, meine Augen glitten über die Bilderrahmen am Kamin und an den Wänden. Würde er nie aus seiner Haut können? Jule hatte viele Gefühle für ihn, aber er ließ auch sie nicht an sich heran. Es gab einen Punkt, oder eine unsichtbare Mauer, da ließ Jan ganz offensichtlich niemanden vorbei. Ich versuchte Jule Mut zu machen. Sprach am Folgetag mit Jan, ohne das Gespräch mit seiner Freundin zu erwähnen. Als ich wissen wollte, ob alles in Ordnung war, lachte er nur und beteuerte, alles sei bestens.
Paul mahnte mich erneut, ich sollte mich nicht zu sehr einmischen. Es war schön, keine Frage, dass Jule mir vertraute, aber es sei nun mal ein Thema zwischen Jan und ihr. Als Jan dann für eine Woche nach Hause kam, kam er alleine. Ich hatte fest mit Jule gerechnet, auch wenn wir seit jenem Abend nicht mehr telefoniert hatten. Laut Jan passte es ihr nicht, was mich stutzig werden ließ. Gleichzeitig bemerkte ich an Jan die altbekannte Unruhe. Er bastelte viel in der Werkstatt und saß an zwei Abenden lange mit Alex zusammen, der schlussendlich für ein paar Tage mit nach Berlin kommen wollte. Die Idee der Beratungsagentur für junge Musiker und Darsteller hatte ihn nicht losgelassen. Jan wollte ihm ein paar Kollegen vorstellen.
Zu diesem Zeitpunkt hatten wir Jule gefühlsmäßig längst in die Familie aufgenommen. Paul schätzte ihre liebevolle Art. Zudem beeindruckte ihn ihre Geschichte. Offenbar hatten sich die Beiden gestritten. Jule berichtete mir später davon. Sie hatte versucht Jan davon zu überzeugen, dass er sich jemandem anvertrauen sollte. Wenn schon nicht ihr, dann einer neutralen Person. Karim. Alex. Vorsichtig hatte sie geäußert, dass er vielleicht auch Hilfe von professioneller Seite benötigen könnte. Gleichzeitig hatte sie ihm versichert, dass sie ihn liebte und ihm damit helfen würde. Erstmals hatte sie seinen Jähzorn erlebt. Ab da zog sich Jan zurück. Von Jule, von uns.
Als er dann im Oktober bei uns auftauchte, hatte ich beinahe ein Déjà-vu. Wie bei der Trennung von Anna stand er in einer Nacht- und Nebelaktion vor der Tür und versteckte sich bei uns vor der Welt. Jule hatte ihn schlussendlich gefragt, wie er sich die Zukunft vorstellte. Warum er sie auf Distanz hielt und wieso er sich zurückzog. Darauf hatte Jan keine Antwort gehabt. Sie hatte ihn angefleht, ihr ein Zeichen zu geben, ob er das gleiche wollte wie sie. Weil sie ihn liebte, aber keine Beziehung für die Galerie führen wollte. Sie hatte etwas Greifbares gewollt, irgendetwas. Jan hatte ihr nichts geben können. Als sie ihm erklärte, dass sie dann keinen Sinn darin sah, die Beziehung fortzuführen, hatte er sie nicht aufgehalten. Die Angst war stärker gewesen, hatte ihn besiegt. Nein, über seinen Schatten springen, das fiel Jan einfach zu schwer.
Ich wünsche mir oft, dass ich ihn damals zu dieser Heilpraktikerin geschickt hätte. Jan hätte spätestens jetzt lernen müssen, dass er über seine Ängste reden musste. Dass er eine potentielle Partnerin nicht so ausschließen durfte. Dass seine Probleme wichtig waren, er wichtig war. Dass er etwas zählte. Vielleicht, oder höchstwahrscheinlich wäre ihm erspart geblieben, was er anschließend durchmachen musste.
Jeder Mensch, auch unser Jan, ist das Ergebnis seiner Erfahrungen. Bis hierhin hatte Jan weder gelernt mit Verlusten umzugehen, noch anderen Menschen genügend Vertrauen entgegenzubringen. Er fühlte sich unverstanden und allein, ein tiefer Minderwertigkeitskomplex setzte sich fest. Dass es am Theater mit einigen Egos zu Schwierigkeiten kam, ging vollkommen an uns vorbei. Er sprach ja weder mit uns, noch hatte er sich Jule anvertraut. Oder Karim. Auch da wäre es fast zu einer Eskalation gekommen. Erst später erfuhren wir alle davon.
Aus der einen Woche Urlaub wurden 14 Tage. Alex vermittelte damals erstmals zwischen dem Theater und unserem Sohn, machte sich anschließend ein eigenes Bild vor Ort. Er brachte Jan zurück nach Berlin und war ab sofort dessen erster Ansprechpartner für die Themen rund um den Beruf. Zumindest da hatte er also Hilfestellung. Seiner Seele gönnte er diesen Luxus leider nicht.