Ich hatte die Stube wortlos betreten und keinen Ton gesagt. Doch Paul reagierte dennoch sofort, griff nach der Fernbedienung und schaltete das Gerät aus.
Seufzend deutete er auf den leeren Platz neben sich, bat mich mit seinem Blick, dass ich mich zu ihm setzen sollte.
Zögerlich kam ich der Aufforderung nach. Dabei legte ich mir schon Worte zurecht. Doch Paul schüttelte leicht den Kopf.
"Ich weiß, was du sagen möchtest, Liebes. Und du hast recht", meinte er betrübt. Erstaunt spielte ich mit meinem Ehering. Drehte ihn auf meinem Finger. "Daher werde ich auch gleich noch hochgehen und Jan sagen, dass er keinen Hausarrest hat." Er atmete tief durch.
"Das ist gut", antwortete ich. Dann nahm ich seine Hand. "Paul, mit derartigen Verboten treiben wir Jan immer weiter weg von uns. Das möchte ich mit aller Kraft verhindern. Mit ist wichtig, dass der Junge sich bei uns sicher und aufgehoben fühlt. Damit er, wenn er uns braucht, sich nicht scheut zu kommen."
Mein Mann strich mir liebevoll über den Handrücken.
"Trotz allem erwarte ich aber, dass er uns weder anlügt, noch verschweigt, mit wem er sich wo aufhält. Mir gefallen diese Heimlichkeiten nicht", betonte er dann.
Nein, mir auch nicht, da konnte ich ihn gut verstehen. Doch Jans Versprechen wollte ich akzeptieren, erklärte dies auch Paul. Ergänzte, dass unser Sohn dieses Mädchen erwähnt hatte.
Anna.
Natürlich kannten wir das hübsche stille Mädchen, welches im Sommer mit ihrer Mutter in die Nachbarschaft gezogen und zu Schuljahresbeginn in Jans Klasse gekommen war. Und wie jeder im Dorf kannten wir auch ihre Geschichte. Claudia Sanders hatte sie mir erzählt. Von Ursel wusste ich, dass Inga früher in unserer Gegend gelebt hatte, zusammen hatten sie damals die Tanzschule besucht. Der Liebe wegen war sie irgendwann nach Köln gezogen. Und nun war sie mit ihrer bildschönen und hochtalentierten Tochter zurückgekehrt. Annas Vater war Anfang des Jahres tödlich verunglückt und die beiden Frauen wollten einen Neuanfang wagen. Inga arbeitete als Arzthelferin bei unserem Hausarzt. Anna hatte ein Stipendium erhalten und ihren Studienplatz in München so gut wie sicher.
Sie war ein gutes Jahr älter als Jan, wiederholte die 10. Klasse auf eigenen Wunsch. Der Tod des Vaters hatte ihr Fehlzeiten eingebracht, die sie nicht hatte kompensieren können. Sofort aber war sie Bestandteil der Clique um Alex und Jan geworden. Daher hatten wir sie natürlich schon oft gesehen.
Ihre langen schwarzen Haare und die ebenso dunklen Augen verliehen ihr etwas melancholisches. Wenn sie am Klavier saß, entlockten ihre Finger dem Instrument die schönsten Töne, die ich je gehört hatte. Elli hätte sie geliebt. Es war Anna, die im späten Herbst unser Klavier richtig stimmte. Oft saß sie hier und übte mit Jan, der vor dem Weihnachtskonzert schrecklich nervös war. Die Beiden waren von einem Tag auf den anderen unzertrennlich. Offenbar hatte sich Jan schon im allerersten Moment in sie verliebt, aber das erzählte er mir erst später. Er und Anna waren sich sehr ähnlich, sie zogen sich an wie Magnete - und ebenso stießen sie das Leben von sich. Uns blieb verborgen, dass sie auch Ängste teilten. Und Sehnsüchte, die nur sie verstanden. Das ganze Ausmaß begriffen wir erst nach vielen Monaten.
In den folgenden Wochen schien Jan erleichtert, dass Paul seine Ansage zurückgenommen hatte. Ein paar Tage später wunderte ich mich über ein Wäschepäckchen, was ich auf der Fußmatte vorfand, als ich zum Einkaufen wollte. Darin befand sich eine Jogginghose meines Sohnes, eines seiner T-Shirts nebst Sweatpulli und ein paar Socken. Alles frisch gewaschen. Mir war nicht mal aufgefallen, dass die Sachen in Jans Schrank gefehlt hatten. Ich dachte ein paar Tage darüber nach, befragte ihn natürlich. Doch er berief sich wieder auf dieses mysteriöse Versprechen.
Es regnete viel und das führte zumindest dazu, dass sich Jan und Anna viel bei uns im Haus aufhielten. In der Regel kamen sie am Nachmittag gemeinsam von der Schule und übten dann ein bis zwei Stunden zusammen. Manchmal lernten sie noch. Oft brachte Jan sie dann vor dem Abendessen nach Hause, dabei nahm er Sunny mit. Hier und da blieb sie auch zum Essen. Seltener waren sie über den Tag bei ihr Zuhause. Sie wuchs mir sehr ans Herz. Ganz selbstverständlich half sie mir in der Küche, wenn sie blieb. Aber sie war ähnlich verschlossen wie unser Sohn. Sie erinnerte mich fast an eine Elfe. Auf irgendeine seltsame Art schien sie Jan zunächst einfach nur gut zu tun.
Wie Anna wollte er in München studieren, erklärte er mir dann kurz vor Weihnachten. Er hatte sich Unterlagen besorgt und mir diese in die Küche gebracht. So viel Ehrgeiz kannte ich nicht von ihm. Und Eigeninitiative wenn es um schulische Angelegenheiten ging schon zweimal nicht. Eifrig erklärte er mir, dass auch der Workshop-Initiator der Auffassung war, dass Jan an die dortige Musikhochschule gehörte. Ich musste ihn tatsächlich irgendwann bei seinen Ausführungen stoppen. Dabei fragte ich mich, ob er jemals bisher so lange über ein Thema gesprochen hatte.
"Jan, langsam. Du hast noch 2,5 Jahre bis zum Abitur. Wir finden es sehr gut, dass du ein Ziel hast. Und dein Vater und ich werden dich unterstützen, dessen kannst du dir sicher sein."
"Bei was?", fragte Paul, der in dem Moment in die Küche kam. Jan deutete stumm auf den Stapel, den er zusammengeschoben hatte. Paul nahm sich eine der Broschüren, blätterte kurz darin und sah seinen Sohn stirnrunzelnd an. Im Vorbeigehen drückte ich Jan die Teller in die Hand, damit er eindecken konnte. Paul hatte sich gesetzt. Er wartete, bis Jan den Tisch gedeckt hatte und bat ihn dann, sich ebenfalls schon zu setzen. Er warf mir einen kurzen Blick zu, ich nickte.
Wir hatten schon darüber gesprochen, wann wir Jan auf das Thema ansprechen wollten und ja, der Zeitpunkt war passend. Nicht nur, weil es uns interessierte, ob das nun mehr war als eine enge Freundschaft. Auch, weil wir an unserem Sohn Dinge beobachtete, die uns besorgten.
Er verbrachte seine Zeit fast ausschließlich mit Anna.
Wir hatten Alex oder Daniel und überhaupt den Rest der Clique seit Wochen nicht gesehen und Jan hatte kein Wort über sie verloren.
Er vernachlässige das Schwimmtraining.
Was Anna gut fand, interessierte jetzt auch Jan.
Er richtete seinen Tagesablauf, auch am Wochenende, vollkommen nach ihr aus. Er wartete oft stundenlang, dass sie sich meldete und schlich um das Telefon. Verließ das Haus kaum, bis sie angerufen hatte.
Jetzt wollte Paul auch sichergehen, dass sich Jan nicht ausschließlich wegen Anna für München entscheiden würde. Mal ganz abgesehen davon, dass sie vermutlich ein Stipendium erhalten würde und dies bei ihm fraglich war.
Jan reagierte mit Unverständnis. Rückte aber zumindest damit heraus, dass er und Anna ein Paar waren. Irgendwie landeten wir während des Gesprächs, das wir beim Abendessen fortsetzen, auch bei den Vorkommnissen von jenem Abend. Nochmal wollte ich wissen, ob sie am See gewesen waren. Was es mit der Kleidung auf sich hatte. Warum Anna so heimlich davon geschlichen war. Jan kaute auf seiner Lippe und schüttelte immer wieder nur den Kopf. Traurig stellte ich mein Glas ab und versuchte ihm in die Augen zu sehen.
"Warum vertraust du uns nicht?", fragte ich.
Paul atmete tief ein und aus und Jan lief rot an.
"Ich kann nicht, Mama", sagte er leise.
"Was, Jan? Uns vertrauen oder über diesen Abend reden? Was habt ihr angestellt?", erkundigte sich Paul. Mit erstaunlich gelassenem Tonfall.
Jan zuckte mit den Schultern und mein Mutterherz zog sich merklich zusammen. Würden wir ihn je überzeugen können? Wir liebten ihn. Wir würden alles für ihn tun. Wir bereuten unsere Fehler. Versuchten nachsichtig mit ihm zu sein. Aber Jan brachte so wenig zurück. Wie tief dieser Stachel saß, das haben wir im Ergebnis einfach nicht verstanden. Vielleicht hätten wir über alles intensiv reden müssen. Damals schon. Aus irgendeinem Grund ließen wir ihn auch da wieder vom Haken. Dabei hätten wir vielleicht nur noch ein wenig dran bleiben müssen. So fest, wie er vorgab, saß sein Versprechen nicht. Unter der Oberfläche brodelte es. Gewaltig.
Was ich bis heute nicht verstanden habe ist die Tatsache, dass wir so blind waren und eins und eins nicht zusammenzählten.
Natürlich waren sie am See gewesen, wir hatten dafür Beweise.
Und es war naheliegend, dass Anna trockene Kleidung von Jan bekommen hatte und er ihr die Handtücher aus unserem Haus gebracht hatte. Im Grunde war nur eine Frage offen. Und vielleicht war es genau dies, was mich davon abhielt, der Wahrheit ins Auge zu blicken.
War Anna ins Wasser gefallen?
Welche Rolle spielte Jan dabei?
Und was ich nicht ahnte, was mich im Nachhinein sehr belastet hat, unser Kind hatte furchtbare Angst. Und er versteckte sie so gut vor uns, dass ich es bis heute unheimlich finde. Ganz bestimmt glaubte Jan daran, dass er in Anna verliebt war; im weiteren Verlauf gar liebte. Aber schon hier waren sie in einen gefährlichen Strudel, in eine seltsame Abhängigkeit voneinander geraten. Und dies würde uns Eltern beinahe die Kinder nehmen. Ich möchte betonen, dass ich Anna wirklich mochte. Aber hätte ich geahnt, dass sie suizidgefährdet war, Jan sie an jenem Abend vor der schrecklichen Dummheit bewahrt hatte, ich hätte sie nie wieder in die Nähe meines Jungen gelassen.