Mit gemischten Gefühlen sahen wir am Montagmorgen zu, wie sich Jan von David verabschiedete. Paul und ich würden den Kurzen gleich in die Kita bringen. Wenn er dann am Nachmittag wieder nach Hause kommen würde, wären Isabelle und Jan schon fast in München. Sofern der Hausarzt grünes Licht dazu gab. Keiner von uns wusste, ob Isabelle mit oder ohne Jan wiederkommen würde. Sollte sich Jan morgen für den Weg in die Klinik entscheiden, kannte niemand von uns das Prozedere.
Er hatte seinen Sohn lange im Arm gehalten, zusammen hatten sie die Sachen für den Tag im Kindergarten gepackt und David zuliebe hatte sich Jan mit den Frühstückstisch gesetzt. Immerhin hatte er ein halbes Brötchen herunterbekommen. Er war nervös, hatte Angst und wir konnten es verstehen.
Ich beobachtete Jan und David, die im Kinderzimmer saßen. Ganz zart spürte ich die Finger, die über meinen Unterarm strichen.
"Wenn ihr weg seid, fahre ich mit Jan direkt zu Dr. Krüger. Wir sehen uns dann aber noch.", sagte sie leise. Verstohlen wischte ich mir über das Gesicht. An den Abschied in etwa zwei Stunden wollte ich jetzt noch nicht denken. Sie lächelte mir aufmunternd zu, als ich nickte. Dann sah sie zur Uhr und hob eine Augenbraue. Ich verstand und rief David leise zu mir. Der drückte seinem Vater noch ein Küsschen auf die Wange und lief dann zu mir. Der kleine Kerl war ganz aufgeregt, weil er uns alles auf dem Weg zur Kita zeigen wollte, was er gerne hatte. Den Spielplatz direkt hinter dem schmiedeeisernen Tor des Parks. Der begann direkt auf der anderen Straßenseite. Man konnte den Turm der Rutsche von seinem Zimmerfenster aus sehen. Und dann der Teich mit den Enten, die derzeit Nachwuchs hatten. Die große Wiese, auf der er mit Jan manchmal Fußball spielte. Und dann die Kita selbst.
Isabelle hatte dort angerufen und bereits informiert, dass Paul und ich die nächsten beiden Tage David bringen und holen würden. Niemandem sonst war das Kind mitzugeben. Da niemand einschätzen konnte, wie dreist Diana unter Umständen sein würde, wollten Paul und ich die Erzieherinnen auch noch sensibilisieren. Die Alternative war, dass der Kleine Zuhause blieb, aber niemand wollte ihn aus seinen Routinen reißen. Zudem ging David gerne in die Kita. Er hing an den Erzieherinnen und seinen Spielkameraden.
Jans Blick, als er David gehen ließ, werde ich nie vergessen. Auch er wusste ja nicht, wann er seinen Sohn wiedersehen würde.
Es war ein sehr schöner, moderner Kindergarten. Wir konnten sehen, wie wohl sich David dort fühlte. Stolz präsentierte er uns Hannah, die seine Gruppe leitete. Sie war es gewesen, die damals im Herbst das Jugendamt informiert hatte. Der Austausch mit ihr beruhigte uns sehr. Sie hatte David gern, hatte viel von den kleineren Dramen mitbekommen und hatte ein Auge auf ihn.
"Er ist ein aufgewecktes, sehr cleveres Kerlchen. Er hat hier viele Freunde, ist sehr beliebt. Wir haben ja alle miterlebt, wie er im Herbst gelitten hat. Da ist man sowieso sensibler. Im Moment würde ich sagen, dass er auf einem sehr guten Weg ist. Hier und da noch was schüchtern, aber keinesfalls verschlossen oder ein Sorgenkind." Hannah lächelte und wir blieben noch kurz, bis David und seine Gruppe im Außenbereich verschwanden.
Arm in Arm gingen wir durch den Park zurück. Auch wir mochten den Park und mussten beide lachen, als wir am Teich vorbei kamen. David liebte diese Enten wirklich heiß und innig. Jeden Morgen musste er sie begrüßen, da hatte uns Isa schon vorgewarnt. Es war ein Ritual zwischen Jan und dem Kleinen gewesen, das Isa in den Alltag übernommen hatte.
Zurück in der Wohnung räumte ich den Frühstückstisch ab, während Paul an Jans Laptop recherchierte. Er wollte sich schlau machen, was Jans Anzeige bringen würde. Der Anwalt hatte schon eine Einschätzung abgegeben. Alles hing davon ab, wie sich Diana verkaufte. Jan selbst hatte seine Aussage schon gemacht, sie würde vermutlich ebenfalls kurzfristig gehört werden.
Paul schnaubte und schloss den Deckel des Laptops energisch.
"Wenn es wenigstens zur einer Verhandlung käme.", brummte er. Der Anwalt hatte schon Sorge hierzu geäußert. Die Tat lag vier Monate zurück. Es gab keine Beweise. Von dem Gedanken, dass man auch David befragen würde, hielten wir alle nicht viel. Andere Zeugen gab es nicht. Obwohl laut Jans Erinnerung Dianas Mutter im Haus gewesen sein musste. Gesehen hatte er sie nicht, er meinte aber, dass er beim Verlassen des Hauses einen Schatten am Fenster im Obergeschoss wahrgenommen hatte. Allerdings hatte er nicht weiter darauf geachtet, da David ununterbrochen geweint hatte. Zudem hatte Diana ihm gedroht, ihrerseits Jan anzuzeigen und den Spieß herumzudrehen. Meine Wut kannte kaum Grenzen. Es grenzte an Absurdität, Jan auch nur ansatzweise derartiges zu unterstellen. Dennoch hatte nicht nur ich die Sorge, dass sie damit durchkommen könnte.
Ich schloss seufzend die Spülmaschine und setzte mich zu meinem Mann. Es machte ihn unglaublich hilflos, dass er aktiv nichts machen konnte. Damit hatte Paul schon immer schwer umgehen können. Ich fuhr ihm liebevoll über den Handrücken.
"Lass uns erstmal abwarten, wie es überhaupt weitergeht. Das ein oder anderen wird sich bestimmt ergeben."
Fast wie aufs Stichwort ging die Wohnungstür.
"Wir sind zurück", rief Isabelle. Ich hörte sie murmeln und trat von der Küche in den schmalen Flur.
"Und?", fragte ich. Jan ging an seiner Freundin vorbei und nickte mir zu. "Keine Einwände gegen die Fahrt. Der CRP ist ein bisschen besser", erklärte er mir. Jan betrat die Küche und ließ sich auf einen Stuhl sinken.
"Besser, aber nicht gut. An einem Antibiotika kommt er nicht vorbei", ergänzte Isa. "Zudem hätte er ihn gerne länger krank geschrieben, aber das besprechen wir morgen in München. Ich pack uns jetzt ein paar Dinge zusammen und dann fahren wir los. Alex sammelt uns gleich ein, er möchte vor dem Feierabendverkehr unten sein." Sie sah zu Jan, dem ich einen Tee hingestellt hatte, dann ging sie packen.
Ein seltsamer Abschied. Keiner von uns wusste, was er sagen sollte. Paul half Isabelle mit den beiden Taschen, während ich Jan umarmte. Er war wirklich nur noch Haut und Knochen. Fast hatte ich Angst, ihn zu zerquetschen.
"Egal wie es kommt Jan, wir sind immer für dich da. Vergiss das nie", flüsterte ich. Ganz fest drückte er meine Hand und sah dann zur Seite. Auch Paul nahm ihn in den Arm, was lange nicht vorgekommen war. Wir sahen dann dem Wagen nach und hofften, dass Jan den Mut aufbrachte, den er benötigen würde.
Mit David hatten wir keine Mühe. Nach dem Tag in der Kita spazierten wir mit ihm über den Spielplatz und fuhren anschließend zu Heike. Auch da nur beruhigende Worte. Jeden Montag sah sie nach dem Kleinen, heute spielt er nur mit Chiara und Tobias, den beiden Kindern der Sanders. Was uns besonders erleichterte war die Tatsache, dass Heike der Auffassung war, dass David die Einzelheiten nicht verstanden hatte. Dass er seine Mutter so ablehnte, fand auch sie problematisch. Aber sie ging davon aus, dass David mit zunehmenden Alter auch wieder anders reagieren könnte. Wir sollten gelassen bleiben, ihn beobachten und seine Fragen klar beantworten. So habe sie das auch mit Isa besprochen.
Es gab uns Trost und Zuversicht. Aus München hörten wir dann nur, dass die Drei gut angekommen waren. Alex hatte noch Termine. Isabella hoffte, mit Jan durch eine ruhige Nacht zu kommen.
Letzteres gelang auch uns nur schwer. Irgendwann hatte David nach Isa gefragt, wobei er sie wieder Mama-Isa genannt hatte. Wir hatten ihn dann bei uns schlafen lassen. Am nächsten Morgen war Paul schweigsam, er saß wieder lange am Laptop. Wir vereinbarten, dass ich alleine mit dem Kleinen zur Kita ging. Das war mir ganz recht, denn ich verfolgte einen Plan. Den ganzen Abend hatte ich beim Fernsehen überlegt. Ein Versuch, so sagte ich mir, würde nicht schaden. Noch mehr Porzellan zerschlagen konnte man ja nicht mehr.
Nun stand ich vor dem Wohnhaus der Meisters und blickte in Linda Meisters überraschtes Gesicht. Nein, wirklich sympathisch waren wir uns in der Vergangenheit nie gewesen. Ihre Ablehnung gegenüber meinem Sohn hatte ich immer gespürt. Ihre Enttäuschung darüber, dass sich ihre Tochter an einen Musiker verschwendete. Mittellos, hatte Dianas Vater einst in den Raum geworfen.
"Was wollen Sie denn hier?", wurde ich gefragt.
"Können wir uns unterhalten? Von Mutter zu Mutter? In Ruhe?", fragte ich.
Zögerlich ließ die Andere mich schließlich hinein und bot mir einen Kaffee an.
"Ich wüsste nicht, was wir zu besprechen hätten", meinte Linda Meister dann eisig. Ich nickte. Und verstand wieder sofort, woher Diana gewissen Dinge hatte. Diese Kälte. die fehlende Empathie.
"Es geht nicht um uns. Das wissen Sie." Interessiert musterte ich sie, dann atmete ich durch. "Ich bin als Mutter hier. Es geht mir ausschließlich um meinen Sohn. Der leidet und den ich nicht verlieren möchte. Können Sie verstehen, wie das als Mutter ist? Wenn man hilflos zusehen muss, wie das eigene Kind an etwas zerbricht? Wenn man erfährt, dass sich das eigene Kind das Leben nehmen wollte?"
Kurz glaubte ich, ein Zucken im Gesicht der Anderen erkannt zu haben. Aber sofort hatte sie sich wieder im Griff. Das hatte Diana ebenfalls von ihr. Keine Gefühle zeigen, eine Maske im Gesicht tragen. Mein Blick ging kurz durch die beinahe steril wirkende Küche. Alles wirkte perfekt. Da störte beinahe meine Tasse auf der Anrichte das Gesamtbild. Schein, überall nur Schein. Und hinter der Fassade nur Gewalt und Kälte. Die Ohrfeige für David kam mir in den Sinn. Mit Mühe lenkte ich meine Gedanken zurück auf die hagere Frau.
"Egal, was zwischen unseren Kindern schief gelaufen ist und warum diese Beziehung endete, wie sie endete. Diana war jahrelang die Partnerin unseres Sohnes und daher ein Teil unserer Familie. Ich wollte ihr nie etwas Böses. Nur nun ist sie zu weit gegangen. Nicht nur, dass sie David schlecht behandelt hat. Allein schon dafür fehlt mir jegliches Verständnis. Aber was sie Jan angetan hat. Hier, in diesem Haus." Es schüttelte mich kurz.
Linda Meister sah an ihr vorbei.
"Oder wissen Sie davon gar nichts?", hakte ich nach. Vorstellen konnte ich mir das nicht. Es war hier unter ihrem Dach passiert.
"Diana hat nichts getan", gab Linda kühl zurück. Seufzend schüttelte ich den Kopf. "Ich weiß nicht, wie Ihr Sohn dazu kommt, unsere Tochter anzuzeigen. Und dann noch mit dieser hanebüchenen Geschichte."
Erschrocken sah ich auf. Sie fuhr fort: "Viel mehr war es wohl so, dass er mal wieder handgreiflich wurde. Was ich sofort glaube. Wir haben ihn selbst jähzornig und unberechenbar erlebt", ergänze Linda Meister nun.
"Was reden Sie da?" Fassungslos stand ich auf. Das Verhalten von Dianas Mutter machte mich unsagbar wütend. "Ihre Tochter hat ihr eigenes Kind gequält und eingesperrt", rief ich.
"Ein Missverständnis", meinte die Andere. Ungehalten schüttelte ich den den Kopf. Gegen diese Verleugnung und Ignoranz kam ich nicht an. Ich spürte, dass ich umsonst gekommen war.
"Ach, und dass sie Jan erpresst und missbraucht hat, was ist dann das?", fuhr ich sie an. Linda Meister zuckte mit den Schultern.
"Eine Lüge", antwortete sie.
Sprachlos starrte ich sie an.
"Nein, Mutter. Es ist die Wahrheit", meldete sich eine Stimme. Unbemerkt hatte Dianas Schwester die Küche betreten. Ich schlug mir die Hand vor den Mund. Mein Herz schlug schneller. Sina nickte mir zu. Sie war blass und zögerte. Mit leiser Stimme sprach sie weiter und sah ihrer Mutter dabei fest in die Augen.
"Diana hat mir an dem Abend erzählt, was sie getan hat. Ich hatte ihr versprochen zu schweigen, aber das kann ich nicht länger." Scheu sah sie zu mir.
"Mir war bisher nicht klar, was genau Diana angerichtet hat", sagte sie zerknirscht.
"Wie kannst du deiner Schwester nur so in den Rücken fallen?", ereiferte sich ihre Mutter. Ich dagegen lächelte dankbar. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ob Sina dies auch gegenüber der Polizei oder Kripo wiederholen würde? Als ich das Haus verließ, ging es mir besser. Sina war keine unmittelbare Zeugin, aber sie schien bereit, ihr Wissen der Polizei mitzuteilen. Vielleicht hatte Jan bessere Chancen als wir dachten. Alex und Jans Anwalt mussten hiervon erfahren.
Und dann ging alles sehr schnell. Jan hatte sich für die Klinik entschieden. Seine Therapeutin hatte sofort alles in die Weg geleitet und versuchte einen Akut-Platz zu realisieren. Er stand auf drei Wartelisten. Auf zweien sehr weit oben. Bis zum Wochenende hoffte Dr. Funk ihn irgendwo unterzubringen.
Alex hatte mit dem Theater eine Lösung ausgehandelt. Dort hatte man schon einen festen Ersatz in der Hinterhand und kam unserem Sohn gar entgegen. Darüber war Alex extrem erleichtert. Weder wertete man Jans unentschuldigtes Fernbleiben als Vertragsbruch noch legte man ihm Steine in den Weg. Im Gegenteil. Alex überbrachte Genesungswünsche und die wage Möglichkeit, dass Jan nach einer Gesundung dort jederzeit willkommen sein würde. Mehr als er erwartet hatte, ließ Alex verlauten. Gleichzeitig bat er uns, mit David nach Hause zu reisen. Er hatte für Isa und Jan schon Flugtickets besorgt, sie würden am folgenden Nachmittag nachkommen. Er wollte Jan nicht in München wissen, wenn das Theater die Umbesetzung medienwirksam bekannt gab. Parallel arbeitete er an einer eigenen Stellungnahme.
Wir kamen am frühen Mittag los. David reagierte überrascht auf unsere Abreise und vergewisserte sich mehrfach, dass sein Papa und Isa auch nachkommen würden. Erst ein langes Skye-Telefonat vor dem Schlafengehen beruhigte ihn diesbezüglich. Und auch wir nutzen die Chance kurz mit Jan und Isa zu sprechen. Sie wollten ebenfalls früh schlafen gehen. Zum einen war der Tag lang gewesen und Jan reagierte auf die neuen Medikamente und zum anderen mussten sie am nächsten Morgen früh los. Erst in die Praxis, dann Jans Garderobe ausräumen und schließlich zum Flieger. Insgesamt wirkte Jan deutlich aufgeräumter. Vielleicht gar erleichtert, dass er den Schritt gegangen war? Dass die Qual ein Ende finden würde?
Ich hatte gerade erst den Bildschirm zugeklappt, als Martin in der Tür stand. Lächelnd bat ich ihn ins Wohnzimmer.
"Und? Wie ist der Stand der Dinge?", wollte er wissen. Dabei nahm er im Sessel platz und musterte mich. "Du siehst müde aus, Mama", stellte er fest. Leise lachte ich auf.
"Ein Vierjähriger ist anstrengender als ich in Erinnerung hatte. Vor allem während einer sechsstündigen Autofahrt." David war schnell langweilig geworden und wir hatten ihn nur mäßig abgelenkt bekommen. Martin grinste einen Moment, dann wurde seine Miene wieder ernst.
"Und Jan?", erkundigte er sich. Seufzend griff ich nach dem Strickzeug.
"Morgen wissen wir mehr. Die Therapeutin scheint gut vernetzt zu sein. Sie hat ihn auf drei Wartelisten untergebracht. Eine Klinik wäre an der Nordsee, eine in Bayern und eine hier ganz in der Nähe."
Martin nickte wissen.
"Ludgeri. Nele kennt sie und hatte sie direkt vorgeschlagen." Interessiert sah ich ihn an.
"Was denkt sie darüber?"
Martin erwiderte, dass Nele mit zwei Schwestern befreundet war, die dort Dienst taten. Offenbar hatte die Klinik einen guten Ruf. Der leitende Oberarzt galt als fähiger Psychologe und laut Neles Freundinnen zudem sehr sympathisch.
Jede der Kliniken lag für Isabelle und David ungünstig. Wobei uns allen schon jetzt klar war, dass Jan eine ganze Weile ohne Kontakt zu uns sein würde. Darauf hatte ihn die Therapeutin schon vorbereitet.
"Vielleicht bekommt er ganz schnell einen Platz, Dr. Funk war zuversichtlich. Sie hat die Dringlichkeit klar gemacht. Und ihre Einschätzung ist und bleibt, dass Jan eher heute als morgen Hilfe braucht." Ich legte das Strickzeug wieder weg. Ich konnte mich nicht konzentrieren. Sie hatte ein neues Antidepressiva verschrieben, da das Bisherige nicht anschlug. Die Blutwerte stagnierten. Weiterhin hatte Jan Fieberschübe. Laut Isabelle auch wieder starke Stimmungsschwankungen. Nach dem Termin sei er regelrecht euphorisch gewesen.
Martin betrachtete nachdenklich den Wollhaufen, den ich mehr oder weniger achtlos auf den Tisch geworfen hatte. Dann räusperte er sich.
"Wie ist die Prognose? Wie lange wird das dauern? Bleibt der Kleine hier bei uns?"
Er war so sehr der Sohn seines Vaters. Ich lächelte milde.
"Nein. Isabelle fliegt Sonntag mit dem Jungen nach Hause. Er soll in seinem Alltag bleiben. Der tut ihm gut, da sind die Menschen, die seinem Leben Struktur geben", gab ich zurück. "Jan muss das noch legitimieren, Alex kümmert sich gerade darum. Auch er wird noch ein paar Vollmachten benötigen. Wir wissen ja alle nicht, wie lange es brauchen wird. Das kann uns keiner sagen, Schatz."
Im besten Fall sechs bis acht Wochen. So die vorsichtige Schätzung von Dr. Funk. Viel hing davon ab, wie schnell Jan auch physisch wieder auf der Höhe war. "Was meinst du mit Prognose?", hakte ich nach.
Martin hob die Schultern.
"Naja, kommt das jetzt von der Geschichte mit Diana oder wird Jan das immer haben?" Unsicher sah er mich an. Für ihn war das alles unglaublich absurd. Nicht nachvollziehbar.
"Es ist so, dass Jan depressiv ist. Wahrscheinlich schon lange unentdeckt an der Krankheit leidet. Dieser Schub ist eine Folge aus dem Missbrauch, ja. Man wird sehen, wie es sein wird, wenn er das Trauma verarbeitet. Vielleicht bessert sich das Krankheitsbild rapide. Vielleicht wird er immer Medikamente nehmen müssen. Vielleicht kann er trotzdem ein glückliches Leben führen. Es wird unter Umständen Phasen geben, in denen er das alles auch vergessen kann. Aber heute kann uns das einfach niemand sagen. Es wird ein verdammt harter Job für deinen Bruder."
Nachdenklich hatte Martin mir zugehört. Als Paul mit Fred von der Abendrunde kam, stand er aus dem Sessel auf. Während Paul aus den Schuhen schlüpfte und der Hund sich schüttelte, begleitete ich Martin in den Flur. Er nahm mich in den Arm.
"Pass auf dich auf, Mama", bat er mich leise. "Und sagt Bescheid wenn ich, wir, etwas tun können. Wir nehmen in den nächsten Tagen auch gerne mal David", schlug er vor.
Paul verstaute die Leine an der Garderobe.
"Jetzt lassen wir sie erstmal ankommen. Aber ich habe eine andere Idee, die ich morgen gerne in Ruhe mit dir besprochen hätte, Martin. Ich komme mit ins Büro, gut?"
Erstaunt sah ich Paul an. Was führte er im Schilde?