Das Unwetter war so bald über das Land hereingebrochen, als hätte irgendein alter Gott einen Blitz gezückt oder einen Hammer geschwungen und nun waren Mensch, Tier und Natur dem Wüten dieses höheren Wesens schutzlos ausgeliefert. Der Himmel hatte sich mit einem Mal verfärbt und anstelle einer blau-grauen Abenddämmerung war ein bedrohliches Gelb-Braun über dem Horizont erschienen, das dunkle Sturmwolken mit sich brachte, aus denen eine wahre Sintflut herniederfiel. Die schweren Tropfen prasselten auf den grauen Asphalt der Straße und Alex verringerte das Tempo seines Wagens immer mehr, um seine Fahrt den Sicht- und Straßenverhältnissen anzupassen.
Die Wischblätter an der Windschutzscheibe hatten den Kampf gegen die Wassermassen längst verloren und das Einzige, was den jungen Mann weiterfahren ließ, war die Tatsache, dass es keinen Sinn machte umzudrehen. Er war von der Bundesstraße auf diese Nebenstrecke durch den Wald ausgewichen, weil sie im Radio gesagt hatten, dass es dort nach einem Unfall zu erheblichen Verzögerungen wegen Bergungsarbeiten kam. Und so spät am Abend wollte er einfach nur nachhause, also hatte er die Abzweigung genommen, die ihn immer tiefer in den Wald führte. Er war kein ängstlicher Typ, normalerweise, aber der Regen und der Wind waren doch recht ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Die Stürme des Frühjahres sollten sich nicht bis Ostern hinziehen. Was jetzt im Dunkeln noch fehlte, wäre eine Krötenwanderung oder ein Wildunfall.
Alex hatte alle seine Sinne in Alarmbereitschaft und starrte hinaus in die Nacht, auf die Straße, durch den Regen. Da war sonst nichts, das spürte er, denn er besaß die seltene Fähigkeit, vorauszuahnen, wenn wirklich ein Tier über die Straße kreuzen würde. Wenn er das erzählte, glaubte ihm niemand, aber es war so. Er hatte schon mehrfach einen Wildunfall vermeiden können, weil er irgendwie das Gefühl hatte, er müsste bremsen, da käme jeden Augenblick ein Reh, ein Fuchs oder ein Dachs. Immer traf das zu und immer ging das gut. Alex bremste auch für Igel.
Da der Regen etwas nachzulassen schien, wagte er etwas schneller zu fahren, als er plötzlich wieder dieses Gefühl hatte, da käme gleich etwas aus dem Wald heraus in den Weg gelaufen. Er bremste und dann sah er es. Ein… eine menschliche Gestalt. Verflucht! Er stieg voll in die Eisen. Was machte ein Fußgänger bei dem Wetter, im Dunkeln, mitten auf der Straße?! Wie in Zeitlupe kam der Wagen ins Schliddern, die Warnleuchte für Aquaplaning leuchtete auf, zum Glück hielt Alex die Spur. Der Mensch auf der Straße wandte sich ihm geblendet vom Scheinwerfer zu und blinzelte ihn an, versuchte aber nicht auszuweichen, sondern blieb stattdessen wie angewurzelt stehen. Wäre Alex nur etwas schneller gefahren, hätte er den Typen auf der Motorhaube gehabt, so viel war sicher.
Alex hielt das Steuerrad fest mit beiden Händen und schaute noch vorn, als der Wagen stoppte. Er atmete aus, dann stellte er verwundert fest, dass der Typ ihn anstarrte. Was war das? Schock? Er rührte sich nicht von der Stelle und sah noch dazu wirklich seltsam aus. Es war ein junger Mann, auch wenn sein Haar etwa schulterlang war und man im ersten Moment hätte glauben können, er sei eine Frau. Das Haar müsste eigentlich pitschnass sein, aber es fiel in sanften, rabenschwarzen Wellen um das blasse Gesicht mit den scheinbar erstarrten, tiefblauen Augen. Die Kleidung, eine dunkle Hose und ein helles, leinenfarbenes Hemd, fielen ebenfalls lose und waren definitiv nicht warm genug für diese Jahreszeit, dieses Wetter oder diese späte Stunde. Weder trug der seltsame junge Mann eine Jacke, noch Schuhe.
Alex fuhr mit dem Wagen rechts ran und setzte den Warnblinker. Dann stieg er aus.
„Hey, du, was ist los mit dir? Du kannst da nicht so stehen bleiben“, rief er ihm zu.
Dieser sagte nichts, aber fixierte Alex mit seinem Blick. War er vielleicht unter Drogen? Alex ging langsam auf ihn zu, wie er da im Scheinwerferkegel stand.
„Komm von der Straße runter, ich hätte dich fast erwischt.“
„Ich hätte dich fast erwischt“, wiederholte der Typ auf der Straße mit einiger Anstrengung.
„Nein. ICH hätte DICH fast erwischt. Spinnst du?“
„Du siehst mich?“ Seine Stimme verriet so was wie Überraschung.
„Ja, ich habe dich noch rechtzeitig gesehen. Du hast echt Glück gehabt.“ Alex beschloss, besänftigend auf ihn einzureden. Immerhin schien er nicht ganz dicht zu sein.
„Du hörst mich?“
„Ja, ich höre dich. Aber du hörst mich nicht. Komm von der Straße, wir gehen erstmal in mein Auto.“
Aus irgendeinem Grund zögerte Alex, den jungen Mann am Arm zu packen. Stattdessen winkte er ihm nur zu.
„Na komm. Oder willst du dir den Tod holen?“
„Den Tod?“, fragte der Junge, unverständig, als ob er den Spruch noch nie gehört hätte. Aber er setzte sich jetzt in Bewegung und kam mit langsamen Schritten zum Wagen. Alex stieg als erster ein und öffnete ihm die Beifahrertür. Etwas zögerlich stieg der Fremde ein und blickte auf Alex. Er blinzelte nicht, was irgendwie seltsam war. Dann schloss er die Tür.
„Ich bin Alex.“
„Du bist Alex.“
„Sag mal, wiederholst du alles? Hast du auch einen Namen?“
Alex lächelte, um ihm Mut zu machen.
„Ich bin Godwin.“ Seine Stimme klang jetzt etwas weniger angespannt als zuvor, was sicher ein gutes Zeichen war.
„Okay, Godwin, kann ich dich mitnehmen? Wo wolltest du denn hin, bei dem Wetter?“
„Wo sind wir hier?“
Alex fand das ziemlich unglaublich. Godwin hatte offenbar überhaupt keine Peilung.
„Nun, wir sind, wenn du es genau wissen willst, mitten im Wald. Und wenn du mir sagst, wo du herkommst oder wo du hinwillst, dann kommen wir auch hier weg. Okay?!“
Alex klang jetzt etwas genervt, denn die Situation schien ihm doch komplizierter, als man meinen sollte. Godwin schaute ihn verunsichert an und begann nervös zu blinzeln und unruhig zu atmen, so als hätte Alex ihn verschreckt. Er antwortete nicht. Alex tat es jetzt leid, dass er ihn so aus der Fassung brachte und wollte ihm die Hand beruhigend auf die Schulter legen, doch das ließ ihn erst recht zusammenfahren.
„Nein, nicht anfassen!“, rief er aus und drückte sich angstvoll rückwärts ans Wagenfenster. Wieder starrte und blinzelte er nur, aber sein Atem war umso lauter.
„Okay, okay, tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken“, begann Alex nun mit beruhigenden Worten auf ihn einzureden. „Godwin, sag mal, was machst du hier im Dunkeln.“ Alex lächelte ihn aufmunternd an und fragte sich, wie alt er wohl war. Er mochte vielleicht achtzehn sein, allerhöchstens zwanzig.
„Ich habe mich verlaufen“, erklärte er nun zaghaft, so als sei er nicht ganz sicher, was Alex hören wollte, „aber das ist schon lange her.“
Alex fand das höchst merkwürdig.
„Was meinst du, wie lange ist das her?“, fragte er nach.
Godwin schien zu überlegen. „Lange“, sagte er dann mit einigem Zögern, „ich weiß nicht genau, aber es war Winter.“
Das überraschte Alex jetzt schon. „Winter? Wir haben jetzt fast Ostern! Willst du mir ernsthaft erzählen, dass du seit Wochen hier herumläufst?“
Wieder ließ seine Reaktion den Jüngeren zusammenfahren. Warum war der nur so schreckhaft? Und warum war Alex so ein ungeduldiger, furchteinflößender Grobian?
„Okay, okay, Kleiner. Ist alles gut. Ich tu dir nichts. Ich wundere mich nur, weil du so seltsame Sachen sagst.“
Er hielt seine Hände in einer besänftigenden Geste vor sich und nach einem scheinbar endlosen Moment beruhigte sich Godwin wieder.
„Es tut mir leid“, begann er dann, „ich wusste nicht, dass schon Frühling ist.“
Die Bemerkung war tatsächlich irgendwie sonderbar und auch zugleich lustig.
„Na, bei dem Sturm draußen, ist es kein Wunder, dass du das nicht gemerkt hast“, fand Alex, „das verdanken wir wohl dem Klimawandel.“
Godwin schien aufzufallen, dass das ein Scherz sein sollte und er lächelte etwas zaghaft.
„Nein, das habe ich nicht bemerkt“, sagte er dann, „und ich habe niemanden wandeln sehen.“
Alex stutzte über die letzte Bemerkung und grinste. Der Kleine konnte witzig sein.
„Ich schon“, gab er dann amüsiert zurück, „dich, mitten auf der Straße.“
Godwin lächelte ein bisschen mehr, weil Alex seine Worte lustig fand und in diesem einen, flüchtigen Moment fiel Alex auf, wie hübsch der junge Mann war, wenn er lächelte. Er überlegte, was er tun könnte, damit so ein Lächeln wiederkam, aber es fiel ihm nichts ein. Sollte er das Radio anschalten? Nein. Lieber würde er mit ihm reden. Godwin wirkte zumindest nicht mehr verängstigt und stellte jetzt mutig selbst eine Frage.
„Wenn du sagst es ist schon Frühling, sag, blühen dann die Weiden schon und die Himmelsschlüssel?“
Alex hatte mit so einer naiven Frage nicht gerechnet, aber natürlich könnte er sie gern beantworten.
„Oh ja“, fing er an und nahm sich vor, seine Worte gut zu wählen, „erst heute Morgen, als die Sonne schien, habe ich sie von meinem Fenster aus gesehen. Am Bach blühen die Weiden. Und ganz sicher bin ich mir nicht, aber die Himmelsschlüssel müssten auch schon am Waldrand zu sehen sein. Wenn sie ganz erblüht sind, sieht man dort alles gelb. Auch die Krokusse sind schon da. Ich mag die violetten am liebsten.“
Godwin hörte aufmerksam zu und irgendetwas schien ihn sehr zu berühren, denn Alex konnte sehen, wie er Tränen in den Augen hatte.
„Ich mag die violetten auch am liebsten“, sagte er leise und schaute Alex an, damit der fortfuhr.
„Osterglocken hab‘ ich gesehen“, begann er erneut, „die standen ganz dicht, aber die werden noch ein paar Tage brauchen, bis ihre Blüten aufgegangen sind. Trotzdem war das wunderschön.“
Godwin liefen die Tränen und er nickte. „Ja, die mag ich auch sehr.“
Alex verstand nicht, was es war, das den jungen Mann so rührte oder ihn selbst dazu brachte, solche Dinge zu sagen. Es war sonst nicht seine Art, über Blumen zu reden und schon gar nicht mitten in der Nacht, bei Regen mit einem Fremden in seinem Wagen. Aber fremd kam ihm Godwin, wenn er ehrlich war, überhaupt nicht mehr vor. Irgendetwas hatte er in ihm angerührt, was sie zu Vertrauten machte.
„Wenn du magst“, schlug er darum vor, „kannst du mit zu mir kommen. Morgen früh gehen wir dann zu dem Bach und zu dem Waldrand.“
Godwin lächelte noch schöner als zuvor, aber da war immer noch diese Traurigkeit in seinen Augen.
„Das geht leider nicht“, sagte er abermals ganz leise, „doch ich danke dir. Du … hast mir wirklich sehr geholfen.“
Alex nickte stumm. Er wusste nicht, womit er dem Jungen geholfen hatte, er spürte nur, dass es so war.
„Ich werde jetzt gehen“, sagte Godwin dann und lächelte wieder.
„Nein, warte, wo willst du hin, bei dem Wetter!“
Alex wollte ihn jetzt am Arm fassen, damit er blieb, aber Godwins Blick hielt ihn zurück.
„Es ist alles gut. Leb wohl“, sagte er dann, öffnete die Tür und stieg aus dem Wagen. In dem Moment, als er sie öffnete, peitschte der Wind den Regen hinein auf den Beifahrersitz, dann schloss Godwin die Tür und Alex sah, dass der junge Mann noch immer nicht pitschnass war. Das ging doch nicht …
„Halt, bleib“, rief er ihm nach, doch Godwin lächelte nur noch einmal dankbar zurück und setzte seinen Weg in den Regen fort. Und so, nach und nach, schien es, als hätten ihn Wind und Regen und Nacht selbst verschluckt. Er verschwand. Alex war nicht sicher, ob er sich das nicht nur einbildete. Er stieg nun eilig aus und lief in die Richtung, in der Godwin verschwunden war.
„Godwin! Godwin!“, rief er laut, aber es kam keine Antwort.
Das war doch nicht möglich. Entschlossen, den Jungen wieder in den Wagen zu holen, schritt er weiter, bis er zu einem seltsamen, alten Stein kam, der nicht unweit der Straße unter einer alten Buche stand. Ein schlichtes Kreuz war darauf eingemeißelt und eine Jahreszahl war mühsam zu erkennen: 1819. Alex erschrak. Nicht aus Furcht, aber weil er nun verstand, was das war und was ihm gerade passiert sein musste. Er hatte von diesem Ort gelesen, irgendwann einmal im Lokalteil der Zeitung. Ein junger Mann war hier erschlagen worden, vor zweihundert Jahren, ein Unbekannter, den niemand vermisst hatte und niemand kannte. Aber er kannte ihn jetzt. Er hieß Godwin und er liebte die Weiden, die Himmelsschlüssel und die violetten Krokusse am meisten.