Veröffentlicht in der Anthologie: Die Farben des Herbstes, Herausgeberin: Gitta Rübsaat, Spendenbuch für die Tierrettung.
Eine schwäbische Geschichte
In eisstarren Bäumen orgelt der Wind, rast über die Hochfläche. Zitternd tanzen Schneekristalle durchs Unterholz.
Am Hang liegt ein kleines Dorf, die armseligen Häuschen geduckt, schutzsuchend zusammengerückt. Das Leben der Bauern oben auf dem Heuberg, auf der schwäbischen Alb ist hart, man schreibt das Jahr 1805.
Im Sommer wachsen Steine aus der mageren Erde, als ob sie lebendig wären. Gute Ackerkrume gibt es selten. Dann die Unbill der Witterung, viel Regen und Kälte, auch im Sommer. Manche Ernte ist schon auf dem Halm verfault. Manchmal macht auch glühende Hitze alle Mühe zunichte. Wasser ist kostbar. Flüsse und Seen gibt es nicht. Dafür endlos lange Winter mit Schneestürmen in den Gassen, wenn das Dorf tagelang von jeglichem Verkehr abgeschnitten ist und das Gespenst Hunger immer mit am Tisch sitzt.
An diesem stürmischen Winterabend sitzt der Stotzenbauer mit seiner Familie um den Tisch. Die Erdöllampe blakt, das Herdfeuer hat der Sturm erstickt. Der Bauer gleicht einer knorrigen Buche, als er den Stuhl rückt und aufsteht. „Hans“, sagt er zum ältesten Sohn, der seinem Vater trotz seiner vierzehn Jahre schon tatkräftig zur Hand geht, „in den nächsten Tagen, so Gott will, müssen wir in die Stadt zur Mühle. Das Mehl wird knapp. Auch müssen wir sehen, ob uns der Baltesvetter mit ein paar Fuhren Heu aushelfen kann. Das Vieh muss fressen und wir auch. „ Beinahe bösartig sagt er das. Die Sorgen, wie er sich und seine Familie durch den Winter bringen soll, drücken gar zu arg.
Hanne, seine Frau, legt ihre Hand beruhigend auf seinen Arm. „Peter, die Wege sind verschneit. Wart ein paar Tage zu, es wird noch gehen so lang, du kommst mir in Gefahr.“ Ein Windstoß jammert ums Haus, pfeift durch Ritzen und rüttelt an Türen.
„Bis nächste Woche wart ich noch“, gibt er nach. „Dann aber muss es sein, Frau, du weißt es“, und er setzt sich wieder hin.
Hanne ist eine kräftige Frau mit wachen Augen und den roten, verarbeiteten Händen der Albbäuerin. Blonde Haare kräuseln sich eigenwillig über der klugen Stirn. „Versorg das Vieh, Jakob“ mahnt sie ihren Zehnjährigen und der beeilt sich, der Anordnung folge zu leisten. Er weiß, mit Mutter ist nicht zu spaßen. Er wird heute Nacht wieder bei den Kühen schlafen müssen. Da ist es allemal wärmer als in seiner Kammer, welche er mit seinem siebenjährigen Bruder teilt. Wenn sie wenigstens zwei Decken gehabt hätten. Aber für derartigen Luxus hatte das Geld im Sommer nicht gereicht. So latscht er in seinen Holzschuhen mit mürrischem Gesicht zur Stubentür und die Treppe hinunter. Als er die Kühe gefüttert hat, macht er sich sein Strohlager zurecht, streichelt noch die Schecke, seine Lieblingskuh. Ihr weiches Maul drängt sich gegen sein kleines Gesicht, als wolle sie ihn liebkosen. „Ach du, “seufzt der Junge, „Kannst du mir sagen, warum mein Kopf so weh tut? Und schwindlig ist mir auch. „ Soll er noch mal in die Stube zurück und den Eltern sagen, dass er sich nicht wohlfühlt? Aber er ist todmüde, und so legt er sich ins Stroh. Oben sagt die Mutter: „Ich weiß nicht, was der Jakob heute hat, ist sonst so ein lustiger Bub. Aber heut ist er den ganzen Tag nur herumgehockt. Wird sich doch im Holzwald nicht erkältet haben? „Ja“, nickt der Bauer, „die Kinder müssen einfach zu viel arbeiten, aber sag, wie wir es anders machen sollen? Beim Holzen muss jeder mithelfen. Will ja auch jeder einen warmen Ofen.“ Hanne nimmt den Jüngsten auf, der über seinem leer gegessenen Teller eingeschlafen ist. „Ein elend Leben ist/s, Peter. Tagelang nur Brennsuppe und Kartoffeln. Jedes Stück Brot ist kostbar. Wir arbeiten uns krumm und bucklig und was kommt dabei heraus?“
„Wir haben Hof und Äcker“, antwortet der Bauer stolz. „Es wird auch wieder Sommer, Frau, sei doch nicht so verzweifelt.“ „Die Steinreichsten werden immer wir sein,“ ergänzt sie und trägt den Kleinen in die Kammer.
Der Morgen ist klar und kalt, als Hanne in aller Frühe aufsteht, um die Kühe zu melken, das Herdfeuer anzuzünden und das Frühstück zu bereiten. Als sie in den Stall kommt, liegt der Jakob mit knallrotem Kopf auf seiner Strohschütte und redet wirres Zeug.
„Bub was hast?“ schreit sie, aber der Jakob stöhnt bloß. Sie lässt den Melkeimer fallen, rennt die Treppen hinauf, weckt den Bauern. Behutsam tragen sie das kranke Kind nach oben, decken es zu. Der Jakob fiebert, friert und schwitzt. Die Bäuerin rennt in den Hof, holt Wasser aus der Regentonne, macht dem Buben kalte Wickel auf Stirn und Waden.
Dann klopft sie bei der Nachbarin. Die geht im Sommer immer zum Kräutersammeln und kennt sich aus. Nur spaltbreit öffnet sie die Tür. Die Zeiten sind unsicher. Aber als sie das verstörte Gesicht der Stotzenbäuerin sieht, erschrickt sie, zieht sie ins Haus. „Er soll schweißtreibenden Tee trinken“, sagt sie zu der aufgeregten Hanne, „der treibt das Fieber aus dem Leib und sorgt dafür, dass der Bub liegen bleibt. Kinder sind schnell krank und auch schnell wieder gesund.“
Mit einem Beutel Lindenblütentee eilt Hanne ins Haus zurück. Der Bauer hat die Kühe gemolken, die schon unruhig in der Krippe stampften und den Stall ausgemistet. Der Hans und Martin der Jüngste sitzen derweil am Küchentisch. Doch der Appetit ist ihnen vergangen. Die Mutter schürt das Feuer, das hoch auflodert, und rennt mit einem Topf heißen Tee wieder zurück in die Stube. Doch der Jakob mag nicht trinken, er erbricht. Der Hans geht heute mit seinem Vater allein in den Holzwald. Jemand muss bei dem Kranken bleiben.
Als sie um die Mittagszeit wiederkommen, scheint es dem Jakob besser zu gehen, er schläft. Der Himmel hat sich mit dicken Schneewolken bedeckt und der Wind frischt wieder auf, heult und jammert um die Ecken. Im Haus riecht es nach geschmälzter Suppe und Kartoffeln, sie müssen essen, trotz der Sorge um den Jungen. Der Tag vergeht irgendwie. Die Kinder werden heute früher als sonst zu Bett geschickt. Wie viele Wadenwickel hat Hanne schon gemacht, sie weiß es nicht. Zuletzt probiert sie es mit Schmalzumschlägen. Der Bauer sitzt bei dem Buben, der sich unruhig hin und her wälzt. Da plötzlich setzt sich der Jakob auf, verdreht die Augen und fällt schwer atmend wieder zurück. Da fasst der Bauer einen Entschluss. „Hanne“, sagt er und sieht seine Frau fest an. „Morgen früh fahr ich in die Stadt, das Kind muss zum Doktor, oder weißt du etwas Gescheiteres?“ Sie kann nur noch nicken.
„Der Nachbar wird mir wieder seine Rösser leihen und den Schlitten. Dann könnt ich gleich noch ein paar Säcke Frucht zur Mühle mitnehmen. Vielleicht kann uns der Müller das Mehl nächste Woche bringen," überlegt er, und das Heu vom Balthesvetter auch.“ „Aber allein darfst du nicht fort bei dem Wetter, “ unterbricht Hanne seine Überlegungen, „nimm den Hans mit!“ „Wir fahren alle“, entschließt sich Peter. „Wer soll sich sonst während der Fahrt um den Jakob kümmern?“ Der Nachbar hat ebenfalls in der Stadt zu tun, er will mit den Herren vom Gemeinderat wegen einer Allmende verhandeln, die zur Widerpacht ansteht. Er wird auch mitfahren.“
Die Nacht ist unruhig. Der Wind rüttelt an Türen und Fenstern, der Jakob fantasiert. Übernächtigt machen sich der Stotzenbauer und seine Familie mit dem Nachbarn frühmorgens auf den Weg. „In Gottes Namen“ sagt der Bauer. Der Jakob liegt dick eingepackt hinten im Schlitten, neben ihm Hanne der Kleine und der Hans. Die beiden Männer sitzen vorn. Die Pferde schnauben gegen den Wind. Dicht fällt der Schnee. „Wie ein Leichentuch“, meint der Bauer. Eine Orientierung ist schlecht möglich, doch sie wissen, in welche Richtung sie müssen.
Nach einigen Stunden, das Zeitgefühl ist ihnen ganz und gar verloren gegangen, steht einer am Wegrand und winkt. „Brrr Schindmähre,“ sagt der Stotzenbauer und: „wohin willst, wer bist?“ „War Soldat bei den Bayrischen, bin gezogen worden, möcht nach Haus“, erwidert die Gestalt. „Ein Deserteur, “ murmelt der Nachbar, „aber in den Zeiten ist helfen Christenpflicht.“
Die Gestalt klettert schwerfällig auf das überladene Gefährt. Mühsam keuchen die Pferde im Sturm. Sie erreichen den Steinweg, der steil abwärts führt. Tiefe Fahrgeleise sind da entstanden, wo seit Jahrhunderten Schlitten und Kutschen talwärts fahren. Das Schneetreiben hat den Tag zur Nacht gemacht. Ein kurzer Halt, die Blendlaternen müssen angezündet werden. Dann rutschen sie weiter talwärts. „Wollt, ich wäre zu Hause, „murmelt Hanne.“ Der Kranke schläft.
Da zerreißt ein greller Blitz das weiße Chaos, hallender Donner rollt vom Felsenhang. Auf der anderen Seite gähnt der Abgrund. Wo ist die Stadt? Da-da- unten-ein Licht „Heilige Mutter“, stöhnt der Bauer, "Gott sei Dank!“ und reißt das Gefährt herum. Dumpf prallende Pferdehufe auf Eisbrocken verlieren den Halt, torkeln in die Tiefe. Krachendes Poltern erstickt menschliche und tierische Todesschreie, als der Schlitten umstürzt und sie alle unter sich begräbt.
Man hat ihre sterblichen Überreste in einem gemeinsamen Grab beigesetzt. Sieben Kreuze am Fels, die man auch heute noch sehen kann, erinnern an diese Tragödie.