Können Sie sich daran erinnern, wer der erste Freund von Ihnen war? Oder die erste Liebe? Das erste Mal. Es gibt viele „ersten“, jedes von deren unvergesslich ist. Heute möchte ich denn über meinen ersten notärztlichen Reanimationseinsatz erzählen.
Als ich als Assistenzarzt für Notfallmedizin anfing zu arbeiten, war ich natürlich ein junger dreiundzwanzigjähriger ergebnisloser Mann, der nur theoretisches Wissen hatte. Relativ schnell verstand ich, dass das, was ich weiß, manchmal in Realität nicht wichtig ist. Man muss fühlen, wie und worüber man mit dem Patienten sprechen muss oder darf, welche Manipulationen man durchführen soll und so weiter und so weiter. Es war das anstrengendste Jahr der meinen Facharztausbildung (damals war es genauso). In Russland gibt es kein praktisches Jahr, deshalb fehlt die praktische Erfahrung, wie intravenöse Injektionen oder Wiederbelebung, fast absolut.
Also, fünf Monate war ich bis einen paar Wochen bei jeder internistischen Station tätig. Danach kam ich gerade auf die separate Notaufnahmestation mit 14 Krankenwagen einschichtig. In der Regel war es viele Verbote für einen Assistenzarzt. Als Erstes musste Assistenzarzt für Notfallmedizin immer mit einem Assistenten oder einer Assistentin in einem Team tätig sein. Als Zweites dürfte er nur 12-stündige Schichten höchstens haben, inzwischen konnten die fachärztlichen Kollegen 24 Stunden am Dienst arbeiten. Als Drittes hatte ich als Assistenzarzt keine Narkotika, die so wichtig für Behandlung einiger Krankheiten, wie ein Herzinfarkt oder Lungenödem beispielsweise, sind.
Die drei ersten Schichten habe ich wirklich mit den Rettungsassistenten gearbeitet. Als ich an die dritte Schicht am Wochenende kam, war natürlich keine Leiterin da, und unsere Hauptdisponentin entschied, dass meine Helferin-Rettungsassistentin in diesem Tag getrennt von mir arbeitet. Diesbezüglich blieb ich allein, abgesehen von meinem Fahrer natürlich. Einerseits war ich stolz daran, dass ich ein Chef war. Andererseits aber konnte niemand mir jetzt helfen. Jeden Einsatz war anstrengend und kompliziert für mich. Ein Bluthochdruck, eine Zuckerkrankheit, eine Herzrhythmusstörung: Jede Erkrankung brauchte einen venösen Zugang und eine Injektion, um behandelt zu werden, und ich versuchte jedes Mal, eine bloß kleine Vene zu finden. Das werde ich wahrscheinlich niemals vergessen. Woran ich mich aber immer erinnern werde, ist meine erste durchgeführte Reanimation.
„Mikron 47“, hörte ich aus dem Funkgerät des Rettungswagens mein Rufzeichen.
„Mikron 47 hört zu“, antwortete ich.
„Einsatz.“, fuhr die Disponentin fort. „Eine Frau, 80 Jahre Alt, Stirbt. Adresse…“
Schleunigst habe ich alle diktierenden Daten in meinem Einsatzprotokoll geschrieben.
„Desna“, funkte ich der Disponentin zurück, den Funkverkehrsnahme für unsere Unterstationsleitstelle genannt. „Mikron 47 fährt los“, fuhr ich weiter fort, während der Fahrer, Blaulicht und Martinshorn einschaltend, anfing die Geschwindigkeit des Krankenwagens zu beschleunigen.
An der Einsatzstelle angekommen, sah ich die alte Frau, die auf dem Bett lag und Atemnot hatte. Ich war allein, niemand konnte mir helfen. Nachdem ich der Patientin Blutdruck gemessen habe, verstand ich, dass es um klinischen Tod ging, und man musste sofort die lebensrettenden Maßnahmen anfangen. Ich schaffte es nur, den Angehörigen der Patientin zu veranlassen, die Disponentin sofort telefonisch um die Reanimationsgruppe zu bitten. Danach fing ich an die Wiederbelebung.
Bisher habe ich nur in den Fachbücher darüber gelesen und ein- oder zweimal an einem Simulator trainiert. Also hob ich die Patientin flach in Rückenlage auf den Boden und fing an das Brustbein kurz und kräftig herunterzudrücken. „Ok, was noch weiter?“, erinnerte ich mich wieder. „Die Eindrucktiefe musste man etwa vier bis sechs Zentimeter betragen, und die angestrebte Frequenz der Herzdruckmassage muss bei mindestens 100 und maximal 120 Kompressionen pro Minute sein.“, erinnerte ich mich an auswendig an der Uni gelerntes Reanimationsverfahren.
Mit dem ersten Drück hörte ich den ekelerregenden Klang der gebrochenen Rippen der Patientin. Das war das Schlimmste, was ich in dieser Zeit hören wollte. Trotzdem tat ich diese Maßnahmen weiter. Ich versuchte dazwischen ein Venenzugang zu finden, aber erfolglos. Deshalb sollte ich nur Wiederbelebung fortmachen. Wie vernebelt erinnerte ich mich daran, wie die nächste Rippe dieser alten Patientin abgebrochen wurde, war die Frau trotzdem nicht reanimiert. Nach einem paar Minuten kam endlich die Reanimationsgruppe an, nahmen mich, der schon in Schweiß gekommen war, auf die Seite und sagten, dass es genug ist, die Patientin war Tod und brauchte mehr keine Hilfe. Ich versuchte kaum nicht zu weinen. Jetzt war meine erste und auch erfolglose Reanimation.
Ich erinnerte mich nicht daran, was ich den Angehörigen der Patientin sagte. Man brauchte damals Mitgefühl haben und zwar ich. Der Notarzt näherte sich an mich und fragte: „Kannst du dein Einsatzprotokoll richtig ausfüllen? Kann dir jemand damit helfen?“ Ich antwortete, dass es viele Notärzte auf meiner Notaufnahmestation gibt, die mir helfen können. Ich hatte recht. Als ich in meine Unterstation zurückkehrte, füllte ich mithilfe eines Notarztes mein Einsatzprotokoll voll und richtig aus.
Als ich zu der Disponentin anging, um dieses Protokoll abzugeben, sagte sie mir schuldvoll, dass diese alte Frau vor ein paar Stunden einen Notarzt bereits angerufen hat, der zu ihr angekommen ist und einen Herzinfarkt festgestellt hat. Die Patientin hat trotzdem darauf verzichtet, ins Krankenhaus eingeliefert zu werden. Sie hat in ihrem Bett sterben wollen, und ihren Verzicht mittels ihrer Unterschrift dokumentarisch bekräftigt. Als die Disponentin den Anruf von Verwandten dieser Frau wieder erhalten hat, hat sie beschlossen, dass man nur die Todesfeststellung in diesem Fall braucht, und sie hat einfach mir diesen Einsatz übergeben. Was weiter war, wissen sie schon.
Davon war mir kaum leichter. Auf meiner Seele lag es wie ein Berg, mir war übel. Niemals geraucht davor trat ich auf den Balkon hinaus und fing an meine erste Zigarette. Als mein damaliger Dienst zu Ende war, ging ich zuerst in den Supermarkt, wo ich ein paar Flaschen Bier kaufte, und dann nach Hause. Glücklicherweise hatte ich drei freie Tage bis meiner nächsten Schicht. Zu Hause schaltete ich den Fernseher ein, öffnete Bier und versuchte mich zu entspannen. Das klappte kaum. Trotz allem behielt ich der Schall der gebrochenen Rippen noch im Ohr. Das dauerte, bis ich zu schlafen ging. Am Morgen aber wieder, bloß nicht so störend. Mithilfe des Biers natürlich. Am Übermorgen ging es mir noch besser. Als ich in der Unterstation ankam, um wieder zu arbeiten, bin ich von diesem Klang fast geheilt. Und den neuen Dienst begann ich schon erfahrungsvoll, und mit erstem gestorbenem Menschen auf meinem eingebildeten persönlichen Friedhof. „Herzlich willkommen bei Notfallmedizin, Kerl!“, dachte ich an Begrüßung von meiner Kollegen am ersten Arbeitstag zurück.
Deutschland, Straubing, April 2019 (Erinnerungen an Woronesch, 2005)