Lieder zur Inspiration:
- https://www.youtube.com/watch?v=qmizqVj7TWk
- https://www.youtube.com/watch?v=dRRKw_N6vLg
- https://www.youtube.com/watch?v=-dhMjbrn9Lw
- https://youtu.be/fPMGlWkJGmY
Ein herzliches Dankeschön an meinen Bro, fürs Korrekturlesen! :3
Und vielen Dank an den Sumpfmann fürs Rausholen des Klappspatens!
Letzte Sonnenstrahlen suchten sich ihren Weg am Horizont entlang.
Doch bevor die Sonne selber sich zur Ruhe legen konnte, schoben sich dicke, dunkle Wolken wie Türme des Unheils vor die warme Lichtquelle und begannen den Himmel zu dominieren.
Erster Donner grummelte und bezog, begleitet vom eigenen, tiefen Ton, seinen Posten als Herrscher der hereinbrechenden Nacht. Weder Sterne noch Mond waren am nächtlichen Firmament zu sehen, nur düsterste Wolken und die aufzuckenden Blitze mit ihrem wilden Fauchen.
Ein erster, greller Schein zuckte in der Ferne und bald folgte tiefes Donnergrollen, als zwei Mädchen, mit respektvollem Abstand zueinander, die Treppe eines Krankenhauses hinabstiegen. Das Gebäude lag still und eine knisternde Anspannung füllte die Luft. Alles wirkte irgendwo gespenstisch und aufregend, aber zugleich bedrückend und voller Gefahr.
Doch keines der Mädchen störte sich daran. Zumindest versuchten sie den Anschein zu machen, das sie keine Angst hatten. Das Mädchen mit kurzer aber voluminöser Mähne in Schwarz und vereinzelten blauen Strähnen, lief zielsicher vor und ließ sich von der Energie der Natur anstecken. Ihre Hände kribbelten bereits bei der Vorstellung, jene gleich über die glatten Tasten des Flügels gleiten zu lassen. Die tiefe Sehnsucht nach dem Spiel ließ sie sogar noch eine Spur schneller gehen.
Das andere Mädchen, mit kurzem, zerzaustem Haar in Braun und einzelnen, feurig rot aufleuchtenden Strähnen, zögerte etwas und ihr konnte man eine Spur der Angst doch deutlich ansehen, ebenso, wie sie krampfhaft versuchte jene zu verstecken und dabei nicht viel Erfolg hatte.
Der Weg nach unten in den recht verlassenen Abschnitt des großen Krankenhauses schien dem Mädchen schier unendlich und beinahe qualvoll. Ihre Hände zitterten, während sie nach der Hilfe des Treppengeländers tastete. Nicht wissend, ob es sich nun um die ungewohnte Anstrengung oder die Angst sowie gleichzeitiger Vorfreude gegenüber der ihr nun bevorstehenden Tat handelte, vermochte sie nicht zu überdenken, aus Sorge, sie würde noch einen Rückzieher machen – ihr Entschluss musste einfach feststehen.
Endlich fanden ihre Füße in den schlichten Schuhen, welche sie von ihrer Zimmergenossin vor sich geliehen hatte, den Grund vom Erdgeschoss unter sich. Erleichtert atmete das Mädchen mit dem wilden Feuerhaar aus und hob den Kopf, gerade, als ein greller Blitz in der Ferne am Himmel entlang jagte und sie zuckte sichtbar zusammen. Doch fast sofort hing des Mädchens Aufmerksamkeit am Instrument, das nur einige Meter vor ihr an der Wand stand – ein schwarzer Flügel. Einst war das Instrument der treue Begleiter eines berühmten Musikers gewesen, bis dieser in eben jenem Krankenhaus verstarb und den Flügel als Andenken hinterließ. Schließlich fasste das Mädchen sich ein Herz und ging ihrer Zimmergenossin nach, die bereits einen länglichen Koffer hinter dem Flügel hervorzog.
»Bist du bereit, Ambrosia?«
Angesprochene nickte nur, während ihre Mundwinkel kurz zuckten. Sie mochte es, bei ihrem Künstlernamen angesprochen zu werden, auch wenn ihre Rivalin vor ihr ihn vorgeschlagen hatte. Ambrosia wusste, dass ihr die Nervosität im Gesicht geschrieben stand, doch wen kümmerte es? Hier waren sie nur zu zweit und ihr Gegenüber hatte bereits ihr vollstes Verständnis ausgesprochen; mehrmals.
Nervös leckte sich Ambrosia über die trockenen Lippen, dann wandte sie sich mitsamt Koffer ab und begann, sich um dessen Inhalt zu kümmern.
»Danke … Philomelia«
Während Ambrosia sich um ihr Instrument kümmerte, widmete sich Philomelia dem Flügel vor sich. Es war der Schönste aller Flügel, der ihr je begegnet war. Sicher, Philomelia war noch jung und vergleichsweise unerfahren, doch dieses Instrument hatte sie so schnell ins Herz geschlossen wie kein anderes. Sie fuhr mit den Fingern über den dunklen Deckel, er war glatt und trotz seines Alters kratzerfrei. Ein Blitz zuckte an den Fenstern hinter Philomelia vorbei, dort, wo die Treppe war und kurz spiegelten sich ihre dunkelbraunen Augen im Schwarz des Flügels. Es jagte ihr einen elektrisierenden Schauer über den Rücken und beinahe ungeduldig klappte sie endlich den Deckel hoch und zog sich den dazugehörigen Hocker ran.
Langsam und mit Bedacht setzte sich Philomelia auf den Hocker und ließ ihre Finger auf die Tasten nieder, aber nur kurz, denn kaum berührten ihre Finger jene, zuckte das Mädchen kurz zurück und ihre Hände schwebten nun angespannt in der Luft. Philomelia biss sich auf die Lippen. Sie wollte spielen und mit wildem Klang das Naturspektakel hinter sich begleiten, doch gleichzeitig fürchtete sie sich davor, anzufangen. Vorsichtig schaute sie aus dem Augenwinkel zu Ambrosia und musste die Luft scharf einziehen.
Ambrosia stand konzentriert und etwas Abseits vom Flügel. Mit Gefühl legte sie den Bogen auf die Saiten einer schlichten und doch edel aussehenden Geige. Ambrosia spielte leise einen Ton und korrigierte ihn sofort. Sie brauchte kein Stimmgerät, denn das Mädchen wusste schon immer, wie der Klang ihres geliebten Instrumentes sein musste, er war tief in ihrem Herzen verankert.
Als sie fertig war, schaute sie zu ihrer Rivalin. Für einen Moment sahen sich beide einfach nur an, ihrer beiden Mienen wirkten regungslos und doch schienen sie sich lautlos miteinander zu verständigen. Es war, als würde eine Frage im Raum liegen und die Luft zum Knistern bringen. Da senkte Philomelia den Kopf ein Stück, woraufhin Ambrosia den Blick unsicher hob, tief durchatmete und dann nickte, was Philomelia wiederum ebenfalls mit einem Nicken und einem möglichst aufmunterndem Lächeln erwiderte.
Dann wandte sich Philomelia mit konzentriertem Blick dem Flügel zu.
Ambrosia trat näher, damit sie den Takt abstimmen konnten. Draußen prasselten erste Regentropfen gegen die Fensterscheiben.
Mit dem Fuß auf den Boden tippend begann Ambrosia, den Takt zu finden, als Philomelia, mit dem Kopf nickend, einstieg, zählten beide noch zweimal den Takt – dann legten sie los.
Philomelia legte eine Hand auf die Tasten und begann, zu spielen.
Ruhig, langsam und mit wiederholender Melodie. Sie wirkte sehnsüchtig, leidenschaftlich und irgendwo zwischen Traurigkeit und anstauender Anspannung. Dann nahm sie die zweite Hand dazu, fügte eine tiefe Begleitung bei und trat, nachdem sie den Takt einmal gespielt hatte, energisch in die Pedalen.
Die Spannung des Liedes hob sich und ein erster Aufschwung wurde erreicht.
Ambrosia griff den Bogen in ihrer linken Hand fester, als Philomelia bereits vollkommen im Spiel vertieft die Melodie mit Kraft – Sturm und Drang – ausführte. Ambrosia wollte auch, doch sie musste warten.
Der erste Aufschwung ebbte ab und Ambrosia legte den Bogen an, schloss die Augen und zählte. Dann zog sie den Bogen nach unten, um ihn direkt wieder nach oben und wieder nach unten zu schieben. Ihre rechte Hand, die auf den Saiten lag, erzitterte leicht und verlieh dem Lied nun ihre eigene Sehnsucht. Philomelia spielte auf eine Art und Weise, die sich nur als stürmisch, wild und frei beschreiben ließ, während Ambrosia nun ihre Sehnsucht nach Heil und Glück ertönen ließ.
Der Raum erbebte förmlich unter dem gewaltigen Klang der beiden Musikerinnen, während sie gemeinsam einen Zenit anstrebten, der schließlich mit Wucht und unter dem Getöse eines Blitzes mit Donner ausbrach – genau wie ein Mustang der unzähmbaren Prärie. Der Wind pfiff zusammen mit dem prasselnden Regen zu Ambrosias Geigenspiel und der Donner mit den Blitzen tobte krachend zu Philomelias eigenem Sturm der Töne.
Viel zu schnell schien alles zu enden. Der letzte, gewaltige Aufschung des Liedes bahnte sich an und Ambrosia warf einen Blick zu Philomelia. Diese war so vollkommen in ihr Spiel vertieft, dass alles an ihr die Gefühle des Sturmes und Dranges ausdrückten. Ihr Blick war konzentriert, doch gleichzeitig sehnsüchtig und voller Leid und Leidenschaft, während sie sich mit Kraft in jede Bewegung stemmte, den Kopf ab und an nach hinten warf, um nach Luft zu schnappen und erst, als die letzten Töne vor dem gewaltigsten Zenit erklangen, wandte sie sich zu ihrer Partnerin zu.
Ambrosias Stirn war von Schweißperlen geziert und sie keuchte unter der Anstrengung, sowie der in ihr tobenden Gefühle. Wie sehr hatte sie dies vermisst und wie sehr quälte es sie doch, all dies zu verlieren müssen. Das Herz des Mädchens mit dem Feuerhaar pochte so wild in ihrer Brust, ein Gefühl, dass sie immer vermieden hatte, aus Angst, es würde ihr davonrasen, doch nun, zum allerersten Mal, übersprang sie diese Angst und ließ ihr Herz im wildesten Galopp schlagen, während das Adrenalin durch ihren Körper schoss und sie den Bogen mit Kraft und auch Eleganz über die Saiten gleiten ließ. Immer wieder musste sie die Augen schließen, sich dem Moment hingeben, um sich dann wieder zum Öffnen der Augen zwingen, was mit ihrer schwindenden Kraft jedes Mal schwerer wurde.
Und dann war es vorbei.
Ambrosias Arm mit dem Bogen in der Hand fiel zittrig an ihre Seite, während Philomelia alleine die letzten Noten spielte, leise, mit Vorsicht und etwas Angst. Als schließlich auch die letzten Töne verhallten, öffnete Philomelia ihre Augen, die sie für die letzten Takte schlossen hatte und drehte den Kopf zu Ambrosia – gerade noch rechtzeitig. Denn mit einem Mal entglitt dem Mädchen mit dem Feuerhaar der Bogen aus der Hand und er fiel zu Boden. Philomelias Augen wurden weit vor Schreck und im nächsten Moment stürzte sie zu Ambrosia, wobei sie den Hocker umwarf und nach der Hand des auf die Knie fallenden Mädchen griff. Philomelia hatte Glück, das ihr Körper schneller reagiert hatte als ihre Gedanken. Sie zog Ambrosia zu sich und half ihr, sich vorsichtig auf den Boden zu setzen. Die Jüngere keuchte in ihren Armen, die Augen waren zusammengekniffen und der Schweiß rann auf ihrer erblassten Haut entlang.
»Es ist Zeit, du musst sie jetzt rufen. … Bitte.«
Selbst Philomelia fehlte beim Sprechen die Luft, was nicht nur an der Anstrengung vom Spiel lag, sondern auch am plötzlichen Schreck und der aufkeimenden Angst.
Ambrosia nickte schwach und holte mit zittrigen Fingern ein kleines Gerät mit Knopf hervor, eines, was normalerweise Ärzte besaßen um einander anzupiepsen, wenn es einen Notfall gab. Mithilfe von Philomelia drückte Ambrosia den Knopf. Kaum war dies getan, wurden die Schultern beider Mädchen schwer.
Es war soweit, es gab nun kein Zurück mehr. Philomelia spürte, wie Tränen langsam in ihrem Augenwinkeln zu brennen begannen und sie wollte auch etwas sagen, doch ihre Kehle schmerzte und jedes Wort schien sich ihr zu entziehen.
»Bitte, spiel’ für mich ...«
Überrascht schaute Philomelia Ambrosia in die Augen. Das Mädchen mit dem Feuerhaar stellte doch sonst nicht solche Forderungen, erst recht nicht mit einem höflichen »Bitte«.
»Die Geige ...«
»Nimm sie und spiele etwas für mich. Unser vermutliches Schweigen und das Gewitter machen mich sonst noch wahnsinnig.«
Mit zusammengepressten Lippen zögerte Philomelia.
Dann senkte sie den Kopf und nickte stumm, sie wagte es nicht, der anderen ihren letzten Wunsch zu verwehren. Doch bevor Philomelia sich dem Instrument zuwandte, brachte sie Ambrosia zur Wand neben dem Flügel, damit sie sich dort anlehnen konnte. Dann richtete Philomelia sich auf, nahm mit Vorsicht die Geige aus Ambrosias Hand und hob den Bogen vom Boden auf.
Das Mädchen mit der schwarzen Mähne stellte sich in die Mitte des kleinen Raumes, nur leicht zur Seite versetzt, damit Ambrosia sie besser sehen konnte. Sie legte den Bogen auf die Saiten und Mittel- sowie Ringfinger an.
Doch sie konnte einfach nicht spielen. Sie kannte kein Lied richtig auswendig, noch hatte Ambrosia es geschafft, ihr mit ihrer Kritik in der kurzen Zeit genug beizubringen.
Unsicher wandte sie sich um, suchte nach dem Blick des anderen Mädchens. Ambrosia bemerkte Philomelias Unsicherheit, doch sie war zu schwach, um ihr wirklich zu helfen, und so ungewohnt ruhig, sowie friedlich, als würde das Gewitter draußen ihren inneren Sturm nehmen und davontragen. Lediglich die Angst blieb und eben jene hoffte Ambrosia, durch Philomelias Spiel zu verlieren. Also warf sie ihrer Rivalin ein freundliches Lächeln zu und schloss die Augen.
Überrascht wollte Philomelia etwas sagen, doch dann hielt sie inne und schloss ihren Mund wieder. Zum ersten Mal hatte sie Ambrosia so schön und nett lächeln sehen und dass sie ihre Augen schloss, war ungewöhnlich zuvorkommend. Bisher hatte Ambrosia immer, um Philomelia zu nerven, hingeschaut und jeden Zug von ihr beim Spielen eines Instrumentes verfolgt – Philo hatte es gehasst. Doch dieses Mal nahm Ambrosia Rücksicht.
Ein sanftes Lächeln breitete sich auf Philomelias Lippen aus, dann wandte sie den Blick ab, schloss die Augen und, tief Luft holend, ließ den Bogen über die Saiten gleiten.
Eine zunächst eintönige, langgezogene und sich immer wieder wiederholende Melodie entstand. Nur langsam fügte Philomelia neue Töne hinzu und konzentrierte sich darauf, sauber zu spielen, anstatt möglichst an Vielfalt einzubringen. Sie musste sich selber zurückhalten, zu sehr war sie das wilde und spontane Spiel am Flügel gewöhnt, sodass ihr dieses neue, fokussierte Arbeiten mit einem ihr nur wenig bekanntem Instrument weitaus mehr abverlangte, als das tobende Spiel von eben.
Doch irgendwo klappte es. Philomelia hangelte sich von Ton zu Ton, achtete darauf, dass ihre Finger richtig auf den Saiten lagen und nur perfekte Noten erklangen. Sie war so auf das Spiel bedacht, dass sie die sich schnell nähernden Schritte gar nicht bemerkte. Erst, als drei Krankenschwestern und ein Arzt die Treppe direkt hinter ihr runterjagten, hob sie leicht den Kopf, wagte es aber nicht, auch nur irgendeinem von ihnen ins Gesicht zu schauen.
Doch als die Schwestern und der Arzt dabei waren, Ambrosia davonzutragen, beendete Philomelia ihr Geigensolo mit einem letzten, langatmigen Ton, welcher dem Arzt einen Schauer über den Rücken laufen ließ, dann drehte sie sich zu Ambrosia.
Das Mädchen mit dem Feuerhaar lag schlaff auf einer Krankentrage und wurde gerade von zwei Schwestern hochgehoben. Ein Blitz zuckte und ein Donnergrollen ertönte, als man Ambrosia gerade an ihr vorbeitragen wollten und Philomelia drehte sich um, dabei wandte sich der Arzt an sie.
»Möchtest du nicht mit hochkommen?«
Der Mann stellte die Frage beinahe flüsternd und auf seiner Stirn lagen tiefe Falten der Sorge.
Doch Philomelia schüttelte den Kopf und trat näher an Ambrosia, welche schwer atmend die Augen geschlossen hatte.
»Ich bleibe hier unten ...«
Der Arzt runzelte die Stirn über ihre Aussage und wollte gerade widersprechen, da öffnete Ambrosia schwerfällig die Augen.
»Das ist okay... Möchtest du hier spielen?«
»Ja, am Flügel.«
Das Mädchen lächelte erschöpft.
»Gerne, dann soll bei mir oben die Tür aufbleiben und du hau schön in die Tasten, wie immer. Und … und pass bitte auf meine Geige auf, sie gehört jetzt dir.«
Die letzten Worte trieben Philomelia Tränen in die Augen. Ambrosias geliebte Geige sollte einfach ihr gehören?
Doch Philo bekam keine Chance, zu protestieren, denn die Zeit drängte und eilig trugen die Schwestern und der Arzt das Mädchen mit der Liege nach oben. Kurz warf der Herr noch einen Blick zurück, dann wandte er sich entschlossen ab; er konnte sich jetzt keine Sorgen um Philo machen.
Die Geige fest vor ihre Brust haltend stand das Mädchen mit schwarzer Mähne vor der ersten Stufe der Treppe, sodass ihre Fußspitzen an diese drückte, und beobachtete sowie lauschte, wie man ihre Zimmergenossin davontrug, nach oben und von ihr weg – für immer.
Es vergingen Stunden.
Ambrosia lag oben im Bett eines Krankenzimmers mit offener Tür. Bei ihr war ihr kleiner Bruder, ihr Onkel, der Arzt und die Schwestern. Das Mädchen quälte sich unter verkrampfenden Bewegungen. Man versuchte, mit Medikamenten ihre Schmerzen zu lindern. Das Piepen des Kardiogrammes wurde mal häufiger, mal viel seltener und der Wechsel immer unberechenbarer. Ambrosia kämpfte mit ihrem Körper, mit sich selbst und mit dem Tod. Sie lag im Sterben und genau dies war ihr schon seit so langer Zeit bewusst. Sie hatte genug Zeit gehabt, es einzusehen, doch bäumte sich ihr störrisches Wesen noch ein letztes Mal auf.
Erst einige Minuten, nachdem man sie oben in ihr Bett gebracht hatte, hatten sich Töne des Flügels ihren Weg von unten nach hier oben gesucht. Und als mit einem Mal eine hohe Stimme sich zart zu den Klängen gesellte, wurde Ambrosia ruhiger. Doch selbst die Musik konnte sie nicht mehr retten.
Eine halbe Stunde vor dem Sonnenaufgang verstarb sie. Wenigstens die letzte Stunde ihres Lebens hatte sie ruhiger atmend und mit geschlossenen Augen verbracht. Den Schmerz hatte sie angesichts des Todes nicht mehr gespürt und ihre Niederlage eingesehen. Anstatt sich zu wehren, hatte sie sich alle Mühe gegeben, ihre letzten Worte mit ihren Geliebten zu wechseln, sich beim Arzt und den Schwestern für alles zu bedanken, ihre innere Ruhe zu genießen und Philomelias Lied in ihr ersterbendes Herz zu schließen.
Kurz bevor der erste Sonnenstrahl die Erde berührte, zerriss ein hoher, anhaltender Ton die angespannte und erschöpfte Atmosphäre im Krankenzimmer. Das Kardiogramm konnte keinen Herzschlag mehr aufzeichnen – Ambrosia hatte das Leben verlassen.
Ihr Körper lag ruhig und blass unter der weißen Bettdecke und ihr Kopf ruhte auf dem großen, weichen Kissen. Nichts rührte sich bei ihr.
Leise fing Ambrosias Bruder als Erster an zu weinen. Erst mit einem heiseren Schluchzen, während dicke, warme Tränen anfingen, seine Wagen herunterzukullern. Schließlich konnten selbst die jungen Krankenschwestern nicht mehr an sich halten und fingen leise an, zu schluchzen. Allein der Arzt schaffte es, seinen Tränen zurückzuhalten, doch glitzerten sie in seinen Augenwinkeln auf.
Ambrosias Onkel blieb aber nicht lange im Raum. Stumm rannen heiße Tränen an seinem Gesicht runter, während er schweren Herzens die Treppe zu Philomelia hinabstieg.
Das Mädchen hatte unermüdlich weitergespielt, keine Minute von Ambrosias letzten Momenten auf der Welt sollte verstreichen, ohne dass ein Ton vom Flügel erklang. Das Gewitter hatte sich nun fast vollends verzogen und nur dunkle Wolkenfetzen zeigten einen wunderschönen Kontrast zum immer mehr erhellten und blau strahlenden Morgenhimmel.
Philomelia hatte neben ihrem Spiel bemerkt, wie Sonnenstrahlen langsam ihren Rücken immer mehr in Lich tauchten und sie angenehm wärmten. Es schenkte ihr Trost, während sie ihre schmerzenden Hände beim Huschen über die Tasten weiter beobachtete. Ihre beiden Handgelenke brannten, ihre Finger schmerzten zunächst und fühlten sich dann nur noch taub und stumpf an; teils schienen sie sogar angeschwollen zu sein.
Philomelia hörte, wie sich jemand näherte, hob aber erst den Kopf, als eine Hand sich auf ihre Schulter legte. Dabei spielte sie für einen Moment leiser und dann hörte sie es. Das hohe, anhaltende Piepen. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag in die Magengrube und kurz blieb ihr der Atem weg. Und mit einem Mal konnte sie nicht mehr spielen. Ihre Hände verweigerten ihr den Dienst, verfehlten die richtigen Tasten und es ertönte nur noch ein Satz von bizarren Tönen – dann blieb es still.
Eine erste Träne fiel auf eine der weißen Tasten, dann eine weitere und noch eine. Philomelia schnappte nach Luft, als sie schlussendlich die Kontrolle über ihre Gefühle verlor. Sie konnte sich nicht mehr zusammenreißen, zu sehr schien der hohe Ton von oben in ihr Herz zu stechen, das bereits ausgelaugt und erschöpft von der langen Nacht vor sich hin schlug.
Ambrosias Onkel blieb die ganze Zeit neben ihr und setzte sich schließlich neben Philomelia auf den Hocker, damit sich das erschöpfte Mädchen endlich etwas ausruhen konnte.
Er sagte nichts und sie auch nicht. Philomelia war ihm schweigend dankbar und er wartete, bis sie sich beruhigen würde, damit er ihr einen Vorschlag machen konnte. Sie waren beide Musiker im Herzen. Er hatte damals Ambrosia ihre erste Geige geschenkt und von da an ihre neue Leidenschaft mit allen Mitteln unterstützt.
Er war so dankbar gewesen, als er bei einem Besuch Ambrosia und Philomelia angeregt und mit funkelnden Augen diskutieren gehört hatte. Das Mädchen mit der schwarzen Mähne wurde ihm schnell sympathisch, denn sie beide teilten die große Liebe zum Spiel am Klavier. Und als er hörte, dass Philo alleine lebte, fing er sofort an, Philomelia als seine Nichte, wenn nicht sogar Tochter zu sehen. Eine Geste seinerseits, die Philo und sogar Ambrosia sehr zu schätzen gewusst hatten.
Langsam versiegten die Gefühlsfluten in Philomelias Herzen, sie wurde ruhiger und ihre Atmung normalisierte sich wieder. Da richtete sich Ambrosias Onkel ein Stück auf.
»Würdest du mit mir ein Stück spielen? Ein Lied für den neuen Tag und für Ambrosia.«
Philomelia hob den Kopf und drehte sich um. Sie schaute geradewegs nach draußen, zum beinahe klaren Himmel, dem zart goldenen Sonnenschein, den munter fliegenden und zwitschernden Vögeln, die es genossen nach dem nächtlichen Sommersturm sich endlich wieder ohne Angst frei bewegen zu können. Philo holte Luft und nickte dann.
»Gerne, was möchtest du denn spielen ... Amyntor?«
Amyntor lächelte. Genau wie die beiden Mädchen liebte er es, mit seinem Künstlernamen angesprochen zu werden, denn in so einem Moment passte es. Sie waren nicht nur normale Menschen und Bürger des Landes, nein, sie waren Musiker, Künstler der Musik, Musen für andere, wie andere Künstler für sie Musen sein konnten.
»Lass uns Morning Mood von Griegs spielen. Möchtest du die Geige nehmen oder beim Flügel bleiben?«
Philomelia wischte vorsichtig mit einem Ärmel ihre Tränen von den Tasten.
»Flügel, mit meinen Händen kann ich keine Geige mehr halten ...«
Amyntor nickte. Philo hatte recht, die Chance war leider hoch, dass ihr das Instrument aus der Hand gleiten und zu Boden fallen würde. Also stand Amyntor auf und holte Ambrosias Geige aus dem Koffer, welchen Philo mit größter Vorsicht an die Wand neben dem Flügel gestellt hatte, dort, wo Ambrosia noch einige Stunden zuvor gesessen hatte.
Die Geige war noch gestimmt und so stellte sich Amyntor neben Philomelia zum Flügel. Er fing an, den Takt mit den Füßen zu tippen, Philomelia stieg kopfnickend ein und dann fingen beide an zu spielen.
Zart, sanft und federleicht erklangen die Töne beider Instrumente. Sie spielten nicht besonders laut, doch schwebte die Melodie das Treppenhaus hoch und erfüllte das Krankenhaus mit seinem herzerwärmenden Klang. Das Lied fand sogar seinen Weg hinaus in die frische Luft und der Beginn des neuen Tages wurde zusätzlich von der Schönheit des Spiels wunderschön und friedlich untermalt.