Das Märchen von der Grünnase
Vor nicht allzu langer Zeit lebte in einem Haus am Rande der Stadt ein kleines Mädchen. Die Mutter gab sich stets viel Müh mit ihm. Doch das Mädchen spuckte in seine Milch, ließ Obst und Gemüse stehn und war stets mit Süsskram zu sehn. Eines Tages ging die Mutter aus, Besorgungen zu machen und sprach:
„Mein liebes Kind, ich geh nun aus und du, du bleibst mir hübsch zuhaus. Sei artig, lieb und fromm, bis dass ich wiederkomm. Und dass du nicht viel Süßes isst!“
Das Mädchen versprach seiner Mutter, artig zu sein. Doch kaum war die Mutter fort, so lief es durch das Haus und rief:
„Zucker..., Zucker..., Zuckerwerk! Schokolade und Bonbons!“, und stopfte so viel in sich hinein, dass sie fast platzte.
Als die Mutter nach Hause zurückkehrte fand sie das Mädchen mit argem Bauchweh vor und steckte sie mit einer Wärmflasche ins Bett.
Wie nun das Mädchen des Nachts mit Bauchweh wachlag, trat zu ihm ins Zimmer ein wunderliches Männchen mit einer langen grünen Nase und sprach:
„Siehst du wohl, das hast du nun davon! Iss nicht soviel Zuckerwerk!“
Ach, dachte das Mädchen, ich will es ganz gewiss nicht wieder tun. Und endlich schlief es ein.
Nicht lange danach ging die Mutter wieder einmal aus. Doch bevor sie das Haus verließ, sprach sie zu ihrem Kind:
„Mein liebes Kind, ich geh nun aus und du, du bleibst mir hübsch zuhaus. Sei artig, lieb und fromm, bis dass ich wiederkomm. Und dass du nicht viel Süßes isst!“
Wiederum versprach das Mädchen seiner Mutter artig zu sein. Doch kaum war die Mutter aus dem Haus, so lief sie wieder in der Stube herum und rief: „Zucker..., Zucker..., Zuckerwerk! Schokolade und Bonbons!“ Und sie aß alles auf, was sie fand.
Als die Mutter nach Hause kam, fand sie ihr Kind weinend, geplagt von fürchterlichem Zahnweh. Sie schickte sie mit bitterer Medizin ins Bett.
Wie nun das Mädchen des Nachts mit argem Zahnweh in seinem Bette lag, erschien abermals das wunderliche Männchen mit der grünen Nase. Es schaute sehr streng, hob den Zeigefinger ermahnend und sprach:
„Siehst du wohl, das kommt von deinem ewigen Naschen! Willst du das gar nicht begreifen?!“
„Ach“, seufzte das Mädchen müde, „ich will es nun gewiss nicht wieder tun.“
Kurz darauf verließ die Mutter das Haus erneut, um einen Krankenbesuch zu machen. Wiederum sprach sie zu ihrem Kind:
„Mein liebes Kind, ich geh nun aus und du, du bleibst mir hübsch zuhaus. Sei artig, lieb und fromm, bis dass ich wiederkomm. Und nasche bloß nichts Süßes mehr!“
Wieder versprach das Kind seiner Mutter folgsam zu sein. Doch kaum war die Mutter aus dem Haus, so lief es wieder los, rief:
„Zucker..., Zucker..., Zuckerwerk! Schokolade und Bonbons.“ Und sie aß alles bis auf das letzte Stückchen Schokolade auf.
Abends fand die Mutter das Kind mit starkem Kopfweh vor. Sie machte ihr einen kalten Umschlag und schickte sie schlafen.
Das Mädchen war schon halb eingeschlafen, als es davon erwachte, dass wiederum das Männchen ins Zimmer trat. Missbilligend schüttelte es den Kopf, stemmte die kleinen Hände in die Hüften und sprach streng:
„So willst du gar nicht lernen? Du wirst ja sehen, was geschieht!“ Und damit war es wieder verschwunden. Das Mädchen dachte nur müde: „Ach, ach!“, und war eingeschlafen.
Doch wie erschrak es, als es des Morgens erwachte und in den Spiegel sah. Da ragte aus seinem Gesicht eine lange grüne Nase, ganz so, wie sie es bei dem Männchen gesehen hatte. Jetzt war das Jammern groß. Das Mädchen weinte und bat und rief nach dem Männchen, doch nichts geschah. Lang und grün leuchtete die Nase in seinem Gesicht.
Da lief es hinaus in den Wald. Dort stand ein Häuschen auf Hühnerbeinen, und davor saß auf einer Bank eine steinalte Frau.
„Ach“, sprach das Mädchen unter Tränen, „Kannst du mir helfen, diese Nase los zu werden?“
Die alte Frau, die eine gute Hexe war, betrachtete das Mädchen eingehend und sprach:
„Ja, ich kann dir wohl helfen. All diese Rüben und Knollen in meinem Garten müssen geerntet werden, damit ich heut Abend ein Süppchen daraus brauen kann. Hilfst du mir, so sollst du ein Tellerchen davon haben.“
Das Mädchen, welches schon ganz mutlos geworden war, versprach diese Arbeit wohl zu tun. Abends taten dem Mädchen die Hände und der Rücken von der vielen Arbeit weh, und es schlang hungrig das Tellerchen Suppe herunter, das ihm die gute Hexe als Lohn für seine Arbeit versprochen hatte. Und wirklich, kaum hatte sie aufgegessen, so schrumpfte die Nase ein ganzes Stück.
Das Mädchen sagte der Frau „Ade“ und lief die ganze Nacht weiter durch den Wald.
Am nächsten Morgen kam es an einen grossen Fluss, davor stand eine wunderschöne Fee. „Ach, liebe Fee“, sprach das Mädchen, „weißt du wohl Rat, wie ich diese grüne Nase wieder loswerden kann?“ Die Fee lachte freundlich ein glockenhelles Lachen und sprach:
„Ja, liebes Kind. Da kann ich dir wohl helfen. Siehst du diesen großen Fluss hinter mir. Er ist voller Milch. Den musst du durchschwimmen bis ans andere Ufer, und wenn du noch so viel Milch dabei verschluckst.“
Das Mädchen seufzte, denn es war ihm ein wenig bange, aber wenn es die grüne Nase loswerden wollte, so blieb ihm nichts anderes übrig, als zu tun, was ihm die Fee gesagt hatte.
Und so schwamm die kleine Grünnase beherzt durch den Fluss voller Milch und verschluckte dabei soviel, dass ihr Bauch ganz rund davon wurde. Ermattet legte sie sich ans andere Ufer und schlief ein. Die Nase aber, war schon viel blasser geworden.
Am nächsten Morgen erwachte das Mädchen von der Sonne, die sie kitzelte. Es erhob sich und ging weiter. Es war noch nicht lange gegangen, da erhob sich auf seinem Weg ein großer Berg. Vor dem Berg saß ein Zwerg und schnitzte an einem Stöcklein.
„Ach, lieber Zwerg“, sprach das Kind, „kannst du mir wohl sagen, wie ich hier weiterkommen und wie ich meine grüne Nase loswerden kann?“ Der Zwerg schaute auf, blinzelte mit den kleinen Äuglein und sprach freundlich:
“Nichts einfacher als das! Du siehst hinter mir diesen großen Berg von Äpfeln, Birnen, Bananen und Kirschen. Da musst du dich hindurchfressen.“
Das Mädchen trat an den Obstberg heran und begann zu essen. Und aß. Und aß. Und aß über Tag und Nacht und endlich, als es sich hindurchgefressen hatte, stand vor ihm auf der anderen Seite ein wunderschöner Märchenprinz. Der schaute sie mit seinen blauen Augen an, öffnete seine Arme und sprach:
„Ach, wie lange warte ich schon auf dich. Willst du meine Königin werden und mit mir auf mein Schloss ziehen?“
Das Mädchen, das von der Schönheit des Prinzen ganz verzaubert war, flog in seine Arme und sprach: „Ja, mein Prinz, das will ich!“
Und wie sie sich küssten, bemerkte sie, dass die Nase wieder klein und rosig in ihrem Gesicht saß.
Eine Kutsche mit sechs weißen Pferden brachte die beiden auf’s Schloss, wo eine große Hochzeit gefeiert wurde, und sie lebten glücklich und zufrieden bis an das Ende ihrer Tage.
Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie dort noch heute.