Ich saß still schweigend unter meiner Birke am Rand der kleinen Lichtung im Wald. Ich war schon in meiner frühen Kindheit sehr gerne hier. Meine Mutter erzählte mir oft, wie sie mich in dem Kinderwagen bis zum Waldeingang fuhr und anschließend mit mir auf dem Arm zur Lichtung kam. Und auch, dass sie mich erst in den Schlaf singen musste, damit ich nicht bemerken würde, dass wir gehen. Nach wie vor war ich von diesem Wald wie verzaubert. Ich zog meine Knie an meine Brust und schlang meine Arme darum. Mein Kinn legte ich auf meine Unterarme und richtete meinen Blick in den Wald. Wenn der Mond sich nicht am Himmel zeigt, konnte man sich voll und ganz auf die ganzen Geräusche der Nacht konzentrieren. Mal hörte ich eine Eule, welche nachts ihre Runden zieht. Mal eine Fledermaus, welche mit den Flügeln schlug und manchmal sogar das Gras, wie Eichhörnchen oder Insekten dadurch huschten. Aber nichtsdestotrotz waren die Vollmondnächte meine liebsten Nächte. Der Mond ließ seine Strahlen durch die Baumkuppeln dringen und alles sah aus, als würde ich mich mitten in einem schimmernden Wasserfall befinden. Es würde nur noch ein kleiner See fehlen, wie in den Büchern die ich gelesen hatte. Wo sich die Verliebten immer zurückzogen, um ihre Zweisamkeit zu genießen. Ich war nie ein Mensch, welcher gerne im Wasser war, aber es hat sich alles so rapide geändert. Mein ganzes Leben ist auf den Kopf gestellt worden. Ich ließ meinen Kopf gegen die weiße Baumrinde der Birke fallen und starrte nun direkt auf dem Mond. Ich hatte ihm so viel zu verdanken. Alle schönen Erinnerungen im meinem Leben haben mit ihm angefangen und mit ihm aufgehört. Er war immer da, wenn ich ihn gebraucht habe. Es muss für andere verrückt klingen, wenn ein sechzehnjähriges Mädchen, welches mitten in der Pubertät feststeckt, sagt, der Mond wäre ihr bester Freund, aber es ist einfach so. Mehr konnte ich dazu nicht sagen. Wer war da, als meine Mutter verunglückte? Der Mond. Wer war da, als ich beim Eiskunstlaufen gestürzt und somit die Meisterschaften verhauen habe? Er. Wer war da, als ich aus dem Heim abgehauen bin? Er. Und nur er.
Langsam stand ich auf und klopfte mir die Grashalme von meinem grünen Kleid. Ich trug gerne grün, es verband mich noch mehr mit der Natur, als sonst schon. Ein leichter Wind kam auf und ich schloss die Augen und ließ mein Gesicht von der frischen Brise umarmen. Meine braunen Haare wehten nach hinten wie ein seidener Vorhang und meine blasse Haut leuchtete auf im Schein des Mondes. Ich fragte mich oft, ob diese Wunder der Natur wirklich nur von der Geografie, der Physik und noch anderem wissenschaftlichen Schnickschnack kam. Ich war schon immer der Meinung, dass alles einen anderen Grund haben muss. Denn nicht die Physik konnte bestimmen, wann sie nun ausgelöst wurde. Alles brauchte einen Auslöser. Etwas, was die Wellen in Bewegung brachte. Ich schlenderte auf den kleinen Pfad zu, welcher noch tiefer in den Wald führte. Ich kannte diese Bäume, Sträucher und Büsche schon fast in und auswendig. Ich könnte ihnen schon fast Namen geben und keinen von ihnen verwechseln. Gedankenverloren dachte ich an die Natur. Wer weiß, vielleicht waren die Auslöser für die Geschehnisse der Natur unsere eigenen Vorfahren. Wenn ich am Grab meiner Mutter saß, kam immer eine leichte Brise auf. Früher hatte sie mich immer als erstes an den Wangen gestreichelt, wenn ich von der Schule oder sonst was kam. Ich glaubte fest daran, dass sie diesen Wind schickte, um mir dieses Gefühl von Geborgenheit zu lassen, welches mit ihrem Tod ebenfalls starb. Und immer, wenn ich die Sträucher berührte, glaubte ich einen schwachen Schimmer zu spüren. Ich hatte schon immer einen grünen Daumen gehabt. Was sollte ich sagen? Ich bin mit der Natur groß geworden, sie war schon immer ein Teil von mir. Ich fragte mich die ganze Zeit schon, was wohl passieren würde, wenn ich später in der Stadt studieren gehen würde. Überall große Hochhäuser, Geschäfte und Einkaufszentren. Ich würde da verloren sein.
Der Mond stand nun fast an seinem höchsten Punkt und ich konnte im Hintergrund schon die Möwen hören. Das Meer war nicht mehr weit. Ich hatte erst nach dem Tod meiner Mutter das Meer hinter dem Wald entdeckt. Ich war so durcheinander und voller Trauer, dass ich einfach losgelaufen bin. Und der Wald schien mich dann hierher geführt zu haben. Kurz machte ich an einem Baum halt, fasste durch ein paar hochgewachsene Wurzeln und zog einen Beutel heraus. Darin hatte ich meine Badesachen gepackt ich liebte es bei Mondschein baden zu gehen. Wenn die Wellen vom Mondschein leuchten ist der Zauber einfach am größten. Mit dem Beutel über der Schulter ging ich weiter den Pfad entlang und in der Ferne hörte ich schon die Wellen. Voller Vorfreude rannte ich los und machte erst Halt, als ich den weißen Sand unter meinen Füßen spürte. Ich ließ hinter einen Stein, zog mein Kleid aus und meinen Badeanzug an. Jeden Schritt, den ich auf das Wasser zumachte, genoss ich mit allen Sinnen. Ich roch die Meerluft, schmeckte das Salz des Wassers, spürte den Sand, welcher meine Füße wie Federn umhüllte, hörte den melodischen Klang der Wellen und sah die atemberaubende Schönheit des Mondes. Wenn ich genauer hinsah glaubte ich sogar, ein Gesicht darauf zu erkennen. Eines, mit einem breiten Lächeln und wachen, freundlichen Augen. Ganz anders, als die Gesichter, welche ich seit Jahren sehen musste. Das Heim war mit Abstand kein Ort für Mädchen wie mich. Ich mochte das Leben und dort wäre ich mit Sicherheit depressiv geworden, wäre ich nicht abgehauen. Aber ich habe es jetzt getan und ich bin auch froh darüber. Ich hatte schon Hoffnungen, dass ich vielleicht adoptiert werden würde, aber diese ist schnell verflogen. Ich mochte es allein zu sein und mich an eine neue Mutter zu gewöhnen wäre unmöglich für mich gewesen.
Ich setzte einen Fuß in das wunderbar kalte Wasser und hatte sofort das Gefühl, dass ich auf Wolke sieben schweben würde. Seit diesen einem Tag war ich süchtig nach dem kalten Nass und konnte keine vierundzwanzig Stunden ohne aushalten. Ich ging weiter bis zur Hüfte und eine Gänsehaut überzog meinen gesamten Körper. Der Wind wurde stärker und meine Haare verfingen sich in den schnüren meines dunkelblauen Badeanzugs. Aber ich machte mir nicht die Mühe, sie zu entwirren. Stattdessen breitete ich die Arme aus und ließ mich mit einem Mal in das kühle Wasser fallen. Mein ganzer Körper wurde nun umhüllt, wie eine kalte Decke, aber ich genoss es in vollen Zügen. Ich schwamm hinaus, in das weite Meer und tauchte erst wieder auf, als meine Lungen kurz vor dem Platzen waren. Entspannt ließ ich mich von dem Salz des Meeres auf dem Wasser treiben und beobachtete weiterhin die Sterne. Laut dem Stand des Mondes konnte es nur noch wenige Minuten sein. Die Freude machte sich immer mehr in mir breit und ich konnte nicht anders als zu lachen. Wenn ich erstmal wieder unten am Riff war, war ich endlich wieder frei.
„Komm schon Mond, bitte sei einmal schneller“, flüsterte ich voller Elan und grinste den Mond mit meinem schönsten Lächeln an. Als ob es so schneller gehen würde, aber versuchen hat mir noch nie geschadet. Und als ob er mich tatsächlich gehört hatte, war es plötzlich soweit. Mein Körper fing an zu kribbeln, vom Kopf bis zu den Zehenspitzen, meine Gliedmaßen fühlten sich immer länger an und meine Glücksgefühle spielten komplett verrückt. Ich tauchte unter, die Arme weit nach oben gestreckt und mein Grinsen wurde von Sekunde zu Sekunde breiter. Die Achterbahn der Gefühle wurde immer größer. So groß, dass ich dachte, ich müsste mich gleich übergeben. Doch so schnell, wie die Emotionen gekommen waren, so schnell waren sie wieder weg. Ich war immer noch unter Wasser, machte die Augen auf. Und sah alles so klar, wie mit einer Brille. Mein Blick glitt um die Unterwasserlandschaft um mich herum und ließ mich von der Strömung kurz treiben. Und dann sah ich auf meine Beine. Oder eher mein Bein. Sozusagen. Ich schwamm nun etwas herum, strich an den farbige Korallen entlang und naschte etwas vom Seetang. Es schmeckte so wunderbar nach den Meeresfrüchten, die ich immer so gerne aß. Aber ich wusste, wer ihn noch besser machen konnte.
Mit einem Schlag schwamm ich noch weiter heraus. Und wurde mit jeder Sekunde immer schneller. Das Wasser floss an mir vorbei und ich öffnete den Mund, um etwas von dem salzigen Wasser zu schmecken, aber das Wasser ließ sich nicht mehr schmecken. Aber dafür war mein Geschmackssinn nun auf weitaus mehr geprägt. Als ich nie rote Boja sah, welche sich genau auf der Mitte des Meeres befindet und tauchte mit einem Schlag weiter herunter. Und innerhalb weniger Minuten war ich auch schon auf dem Meeresboden gelandet. Ich ließ meine Hand in den matschigen Sand gleiten und ließ ihn zwischen meinen Fingern zerrinnen. Die Mondstrahlen reichten bis zum Meeresboden und erhellten das ganze Szenario, gaben es eine fast unheimliche Atmosphäre. Aber für mich gab es keinen schöneren Anblick. Vor mir erstreckte sich ein gigantisches Riff. Geschmückt mit Korallen in allen Farben, mit Seerosen in rosa und blau und mit tausenden Strängen von Seetang. Während ich durch die Steinlöcher schwamm und dabei immer wieder die Blumen am Meeresgrund streichelte, fühlte ich mich wie neugeboren. Meine Haare schwammen vor mir, als ich abrupt anhielt und die anderen Flossen vor mir sah. Langsam glitt ich bis auf das Meer aus Blumen herunter, mein gegenüber tat es mir gleich. Schließlich saßen wir nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt und ich hob den Kopf. Das Gesicht der Meerfrau leuchtete in wie Elfenbein und ihre weißen Haare zeigten, trotz des Wassers, prächtige, weißblonde Locken. Die Augen leuchteten so hell, wie der Mond und sahen mich so freundlich an, dass ich drohte, unter ihrem Blick dahin zu schmelzen. Ihre Flossen waren ebenfalls weiß und rundeten ihre Schönheit noch mehr ab. Auf ihrem Haupt thronte eine Perlenkette, welche an ihrer Stirn in einem Kreis aus Muscheln endete.
„Es ist schön dich wiederzusehen, mein Mädchen“, sagte sie mit einer Stimme wie Federn. Die Sanftheit darin ließ mich noch entspannter werden. Ich neigte den Kopf als kleine Verbeugung.
„Es ist auch schön dich wiederzusehen.“ Dann streckte sie die Arme aus und ich schwamm die letzten Zentimeter auf sie zu und ließ mich in ihre Arme fallen. Fest drückte sie mich an sich und ich sie an mich. Dieser eine Moment im Monat war mir immer der Liebste. Endlich wieder in ihren Armen zu liegen und das Gefühl von Geborgenheit genießen zu dürfen.
„Ich habe dich vermisst“, flüsterte sie nun leise.
„Ich dich auch. Mutter.“