Vor wenigen Augenblicken ist er still und leise ins Anwesen geschlüpft. Er weiß es nicht, aber ich habe es genau beobachtet. Er war schon wieder draußen, auf der Straße, vermutlich bei diesen verlausten, verdreckten, infizierten Straßenkindern. Wie kann er es wagen! Erst vor einigen Tagen haben wir seine Mutter auf dem Boronsacker begraben, und er tut schon wieder, was zu ihrem Tod geführt hat!
Verbittert schließe ich die Hand fest um das steinerne Fensterbrett, von wo aus ich seine vermeintlich heimliche Rückkehr beobachtet habe. Er ist deutlich zu clever für sein Alter. Das Tor muss zukünftig besser versperrt werden. Überhaupt muss ich andere Saiten aufziehen. Er verhält sich mir gegenüber respektlos, indem er meinen Anweisungen nicht Folge leistet. Nicht leistete. Er hat seine Mutter höchstpersönlich auf dem Gewissen. Sein Tsatag war doch ein schlechtes Omen! Aber Omen hin oder her, ich werde nicht zulassen, dass er ihr Andenken beschmutzt, indem er ihren Plänen zuwider handelt! Ab jetzt herrscht ein anderer Ton in diesem Haus!
Langsam öffne ich die Tür zu seinem Zimmer. Er liegt unter der Decke, trotz der Hitze, die auch jetzt immer noch herrscht, und stellt sich schlafend. Schlechter Schauspieler! Ich greife nach der Ecke der Decke und reiße sie mit einem Ruck von seinem Bett herunter. Er liegt angekleidet da und starrt mich mit angsterfüllten Augen an. Er weiß genau, was er getan hat, und meine Hand schließt sich fester um den Bambusstock in meiner Hand.
“Steh auf”, befehle ich ihm.
Er rührt sich nicht.
Meine Stimme wird gefährlich leise. “Von heute an wirst du tun, was ich sage. Sofort. Wenn du es nicht tust, wirst du die Konsequenzen allein dir zuzuschreiben haben. Und du wirst sie erdulden. So wie heute. Ich habe dir verboten, das Anwesen zu verlassen. Steh auf.”
Zögernd tut er es, erhebt sich langsam und steht mit dem Rücken an die Wand gepresst vor mir.
Nur mit Mühe kontrolliere ich die Wut, die in meiner Stimme allerdings zum Ausdruck kommt. “Du hast mir nicht gehorcht. Zieh dein Hemd aus.”
Jetzt zittert er, als er mich mit um Verzeihung heischenden Blicken anstarrt, und rührt sich nicht.
Ich lasse den Stock durch die Luft fahren und auf seinen Oberarm sausen. “Ich sagte, zieh dein Hemd aus. Das sind die Konsequenzen für Ungehorsam”. Ich hebe den Stock vor seine Augen, und plötzlich beeilt er sich, das Kleidungsstück loszuwerden. Tränen strömen über sein Gesicht, aber das wird ihm nicht helfen. Wenn er Lucianas Ziel erreichen soll, muss er lernen, was Disziplin ist. “Dreh dich um.”
Er tut es, drückt sich eng an die Wand, als ob sie ihm Schutz böte.
Ich hebe den Stock und schlage auf seinen Rücken ein. “Das ist dafür, dass du mir nicht gehorcht hast und das Anwesen verlassen hast. Ein Sohn gehorcht seinem Vater!”
Er schluchzt, was mich noch mehr in Fahrt bringt.
Ein weiterer Schlag. “Das dafür, dass du heulst. Du darfst keine Schwäche zeigen!” Ich liste seine Verfehlungen des Tages präzise auf, schlage für jede zu, und am Ende erträgt er es stumm, immer noch fest an die Wand gedrückt.
Ich muss meinen Zorn, meine Enttäuschung über dieses Kind des Namenlosen in Grenzen halten. Ganz bewusst habe ich einen Stock gewählt, der kein oder fast kein Blut fließen lassen wird. Das geht nur mich und ihn etwas an. Niemand sonst muss davon erfahren.
Als ich mit der Liste der Verfehlungen durch bin, hebe ich noch einmal die Stimme. “Das ist dafür, dass du deine Strafe am Ende ohne einen Laut hingenommen hast. Lerne daraus.” Dann drehe ich mich um und verlasse das Zimmer. So wird er es lernen. Fehler ziehen Strafe nach sich. Richtiges Verhalten nicht.