Ich habe neue Vorhänge gekauft, deshalb ist das Licht in meinem Zimmer dunkelrot. Ich ziehe sie zur Seite, damit ich durch das schmale Fenster meiner Dachwohnung auf die Dächer der Stadt sehen kann. Die Sonne steht schon tief und färbt den Himmel in einen melancholischen, warmen Ton. Ich schließe die Augen und strecke mein Gesicht der Sonne entgegen; beinahe hungrig nimmt es die Wärme auf.
Es muss ungefähr um diese Zeit gewesen sein, vor zwei Tagen. Ich war in der Stadt gewesen und hatte Zitronensaft und Pfefferminz gekauft. Mit meinem schweren Fahrrad stand ich an der Straße und wartete darauf, dass die Ampel auf grün schaltete, als neben mir eine sanfte Stimme erklang. Es war nur eine Ahnung, ein Fetzen von Klang, den ich im dröhnenden Verkehrslärm nur gerade so wahrnahm. Und dennoch reichte es aus, dass ich meinen Kopf wendete und ihn erblickte. Gerade zwei Armlang von mir entfernt stand ein junger Mann, die längeren, dunklen Haare vielen ihm in die Stirne und trotz dass sein Gesicht zur Straße gewandt war, konnte ich sehen, wie sich die grazilen Lippen bewegten. Er bemerkte mich und wandte sich zu mir um, sodass sich unsere Blicke trafen. Ich konnte nicht sagen, ob er gesprochen oder gar gesungen hatte, doch im Anblick seiner Augen wurde es auch nebensächlich. Einen Augenblick stockte er, hielt verdutzt inne, doch schon blickte er leicht beschämt zu Boden und begann zu grinsen. Ich musste ebenfalls schmunzeln und ich hätte mich auch nicht von diesem Anblick lösen können, wenn mich nicht ein Fußgänger an gerempelt hätte.
Tatsächlich waren wir nicht weitergefahren, sondern er streckte mir die Hand entgegen und sagte mit nüchterner Stimme:
„Lysander.“
Ich ergriff sie und fühlte die warme Haut, seine langen schlanken Finger.
„Yasmin“ erwiderte ich mit einem Lächeln und spürte ein angenehmes Ziehen im Bauch.
Ich setze mich in einem Schneidersitz auf mein Bett, es steht direkt unterhalb jenes Fensters. An den weiß getünchten Wänden hängen zahlreiche Fotos, Plakate, Bilder. Ein Druck meiner Abi-Feier, auf dem ich mit überlegenem Grinsen einen Strauß Blumen in die Luft recke, droht schon seit einer Weile, sich von der Wand abzulösen. Wie glücklich ich darauf aussehe. Meine langen Haare trage ich offen, so wie jetzt auch. Doch es ist etwas in meinem Gesicht, etwas in meinen Augen, was mich so zufrieden erscheinen lässt. Es ist das gleiche, was ich auch bei Lysander sehen konnte, was mich so beeindruckt hatte.
Wir hatten uns durch die Massen gequält und ein kleines Straßencafé gefunden. Die Fahrräder stellten wir davor ab und nahmen, trotz des milden Wetters, im inneren Platz.
„Erzähl mir was über dich, Yasmin.“ sagte er und blickte mich mit seinen klaren Augen an. Ich war noch immer überrascht, erfreut und erregt von der kurzen Begegnung und dem Umstand, dass ich nun gemeinsam mit diesem zauberhaften Lysander an diesem Ort war.
„Was gibt es da schon. Seit zwei Jahren bin ich hier, studiere. Ein paar Straßen weiter habe ich zusammen mit einem Kommilitonen eine kleine Wohnung ..“
Wir redeten über Belanglosigkeiten, er erfuhr von meinen drei Schwestern und ich von seiner Schwäche für die Renaissance. Es dauerte nicht lang und wir verließen diesen kleinen Ort, spazierten durch die dunklen Straßen und fanden uns schließlich bei Lysanders Wohnung wieder. Sie befand sich in einem kleinen, sauberen Mehrfamilienhaus mit Vorgarten und Balkon.
Auf meiner dunklen Decke liegt ein Brief, direkt vor mir. Schweres, cremefarbenes Briefpapier. Heute Morgen habe ich ihn aus meinem Briefkasten geholt, nachdem ich vom laufen wiedergekommen war. Zwischen dem Tagesblatt und einigen Rechnungen ist er mir erst oben auf dem Küchentisch aufgefallen.
Mein Name ist in schlichter, aber schöner Schrift auf das Couvert aufgetragen.
Der Brief ist von Lysander.
Nachdem Lysander noch ein unglaublich leckeres Nachtmahl gezaubert hatte, tranken wir noch etwas und redeten. Mir viel auf, dass Lysander in seiner Wohnung kaum persönliche Bilder hatte, an den schlicht gestrichenen Wänden hingen meisterhafte Photographien und abstrakte Kunstwerke. Außerdem besaß er eine höchst beeindruckende Musiksammlung und unglaublich viele Bücher. Es war sehr behaglich dort, auch wenn es wirkte, als sei die Einrichtung aus einem großen, lichten Jugendstilhaus mit hohen Räumen in diese kleine zwei-Zimmer Wohnung gepackt worden. Es machte mich froh, dass Lysander mich hierher mitgenommen hatte. In sein Heiligtum, den Ort, an welchem er lebt. Es war unordentlich, keine Frage, doch ich fühlte mich rundum wohl, als ich mich nach dem Essen auf das zerschlissene Ledersofa fallen lies, welches für das kleine Wohnzimmer viel zu groß war.
Ich streiche mit meinen Fingern über die schwarze Tinte. Mittlerweile sind schon viele Stunden vergangen, seit ich den Brief zum ersten Mal gelesen habe. Mir steigen Tränen in die Augen.
Wir haben uns in einander verliebt.
Das wurde mir an jenem Abend bewusst. Nicht nur, dass ich verliebt bin, sondern auch, dass er es ist. Es ging schnell, sehr schnell, doch ich zweifelte nicht daran.
„Was hast du, vorhin an der Straße, gemacht?“ fragte ich Lysander, als ich neben ihm in seinem Bett lag.
„Darauf gewartet, dass es grün wird.“ meinte er trocken, doch ich konnte hören, wie er lächelte.
„Haha. Du weißt, was ich meine!“
„Ich habe gesungen.“ sagte er und wurde für einen Moment still, als ob er einen traurigen Gedanken verfolgen würde. Sein Blick richtete sich ins leere, und beinahe konnte ich sehen, wie eine Träne sich aus dem Auge stahl, ich meinte fast, einen Flügelschlag zu hören – doch da war dieser Moment schon vorüber. Lysander richtete sich auf und sah mich an.
„Ich muss dir was zeigen.“ sagte er und grinste, während er die Decke zurück warf und mit seinen blanken Füßen das glänzende Parkett betrat. Ich folgte ihm ins Wohnzimmer, wo er an das schmale Ebenholz Regal trat, welches bis zur Decke reichte. Lysander strich mit der Hand über das ebenmäßige Holz und zog schließlich, so verdeckt, dass ich es nicht sehen konnte, etwas aus dem Regal. Während er mir so den Rücken zugewandt hatte, betrachtete ich seinen schönen Körper, die sanften Linien und Schatten. Meine Hand fuhr, begonnen am Haaransatz, zwischen den Schulterblättern, entlang seiner Wirbelsäule herab. Ich spürte den leichten Schweiß auf der hellen Haut, das kribbeln meiner Fingerspitzen, als ich hörte, wie Lysander voll ausatmete.
Ich lächelte.
„Wolltest du mir nicht etwas zeigen?“
Er drehte sich um, schmunzelte verwegen und reichte mir eine Schallplatte. Sie war noch in der Hülle, darauf konnte ich Lysander erkennen. Mit einer Gitarre im Arm, die dunklen Haare widerspenstig ins Gesicht hängend, saß er auf einer hölzernen Bank, die Pracht der ihn umgebenden Bäume war trotz der Sepiaoptik beeindruckend.
„'lysander – rouge'“ las ich die großen weißen Lettern, durch einen Strich waren beide Worte voneinander getrennt, vor, während mein Daumen über das Bild wanderte.
„Meine zweite Platte.“ sagte Lysander, während ich noch immer schier überwältigt war. Ich trat an den schlichten Plattenspieler und legte die Platte auf. Während mich die getragenen, melodischen Klänge umfingen, zog mich Lysander zu sich heran und küsste mich aufs Haar.
Schon gefühlt ein Dutzend Mal, wenn nicht sogar noch häufiger, habe ich nun diesen Brief gelesen. Nach dem ersten Mal hatte ich es nicht verstanden. Nach dem zweiten, dritten Mal war ich aufgewühlt zu Lysanders Wohnung gefahren. Absperrband, Polizeiwagen.
„Tut uns leid, hier können sie nicht rein. Der Tatort wird noch untersucht.“ So hatte man mich aufgehalten.
Ich hatte es nicht verstanden, nicht kapiert.
'Yasmin, ich liebe Dich. Mehr als ich es je in Worte fassen könnte – du bist meine Hermia und kein Droll, kein Oberon und kein Cupido könnte das je ändern. Du bist es. Meine Liebe, mein Leben. Und gerade deshalb tut es mir so leid. Nie wieder werde ich so fühlen, nie wieder so lieben. Unsere Zeit war viel zu kurz.'
Ich dachte, er würde sich von mir trennen, ich dachte, er würde mich verlassen.
Meine Hände, feucht von kaltem Schweiß, greifen nach der blauen Papierschere auf meinem Tisch. Kurz fällt mein Blick auf die Schallplatte, welche dem Brief beigelegt war, doch schnell wende ich den Kopf. Fahrig nehme ich ein Büschel meiner Haare in die Hand und führe die Schere heran. Mit ein paar wenigen Handbewegung schneide ich all diese Haare einfach ab.
Es war eine warme Nacht. Lau und voller Sterne. Ein paar Minuten bevor die Morgendämmerung einsetzte, fuhr ich mit Lysander raus. Wir kamen zu einer einzelnen Bank aus hartem Metall, doch dennoch beobachteten wir, eng aneinander geschmiegt, den langsamen, farbenfrohen Aufgang der Sonne.
Vor mir liegen lange Strähnen blonden Haares, hässliche Fransen umfangen mein schmales Gesicht.
„Aber ich muss zu Lysander! Mit ihm sprechen!“ Der Polizist horchte auf.
„Sie kennen ihn? “ Er zeigte mir einen Abzug von Lysanders Ausweis und ich nickte stumm.
Er rief einen weiteren Beamten zu sich, der mit mir sprechen sollte, nachdem ich ihm meinen Name gesagt hatte.
Ich betrachte mich im Spiegel. Gebrochene Augen. Und ich schlage zu.
Nach dem schönen Sonnenaufgang war ich zurück zu mir gefahren, besuchte wie jeden Tag meine Vorlesungen. Zwar war ich nicht besonders aufmerksam, denn ich war ich unglaublich müde, doch die letzten Stunden mit Lysander gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Die ganze Zeit über lächelte ich, fieberte ungeduldig dem Abend entgegen, an dem ich endlich ihn wiedertreffen würde.
Weinend breche ich zusammen, liege inmitten blutiger Scherben.
Unter Tränen küsse ich den Brief, den sein Körper gewärmt hat, den seine Füße hierher getragen und den seine schönen, warmen Hände in meinen Briefkasten geworfen haben.
„Wo bist du, Lysander?“ heule ich.
Denn dieser Mann, meine Liebe, dieser Lysander, dem ich vor zwei Tagen an einem lauen Sommerabend auf der Straße begegnet bin, mit dem ich gestern erst einen unglaublichen Sonnenaufgang beobachtet habe, dessen Hände noch heute jenen Brief in der Hand gehalten haben müssen, dieser Lysander ist seit über einer Woche tot.