Ich hetze zum Bahnhof. Es ist 6 Uhr in der früh, der Rauch der Nacht zieht langsam in den Himmel hinein und macht dem Morgen Platz. Es ist ein wunderschöner Anblick, doch ich kann ihn nicht genießen.
Denn ich hetze zum Bahnhof.
Ich habe einen langweiligen Job angenommen, trage langweilige Kleidung, und meine Sprache gleicht einem interessenlosen Sein. Mein Gesicht ziehrt kein Lachen aber auch kein Weinen, meine Augen sind nicht stumpf, sie spiegeln sich nur. Je nachdem was ich ansehe, und momentan sehe ich nur in meinen Laptop und dort sehe ich in ein leeres Textdokument. Ich habe lange nichts mehr geschrieben, und obwohl ich bei einem guten Zeitungsverlag arbeite, zieht er alle Energie aus mir raus, und ich kann nichts mehr aus mir heraus befördern.
Obwohl ich zum Bahnhof hetze, verpasse ich meinen Zug. Es ist 6 Uhr morgens und ich könnte weinen. Bitterlich weinen. Mein Leben zieht seine Fäden, und die Fäden ziehen gerade gegen mich. Apropos Fäden – ich muss dringend zum Zahnarzt! Erschöpft sinke ich auf einer Bank nieder. Um mich herum die Bahnhofswände – besprüht mit Schriften wie ''Your soul is the whole world'' und ''Deine Hand in meiner, solange Du sie dort lässt''. Obwohl ich müde bin muss ich lächeln. Kafka und Hesse sind wundervolle Schriftsteller, die ein Leben hatten. Auch wenn das Leben dem Leiden galt, und ich mich dessen vehement wehre.
Ich bin der Ansicht, dass ein Mensch nur lieben kann, wenn er sich selbst liebt, und da ich das gerade nicht kann, erschöpfe ich unter der Last die auf mir liegt. Denn für mich ist Liebe das Allergrößte, es gibt nichts, was über ihr steht. Und obwohl es mir nicht schlecht geht, und ich mich angesichts des Leids der Welt nicht beklagen kann bin ich schrecklich unglücklich. Ich entfliehe in die Welt der Bücher, wenn ich die Zeit dafür habe, und da ich sie nicht mehr habe, gibt es für mich keine Welt in die ich entfliehen kann und ich sehe mich meinem eigenen gegenüber und das macht mich sehr traurig.
Warum ich traurig bin? Weil ich mich sehne. Ich sehne mich nach Dingen, die die heutige Zeit mir nicht mehr geben kann. Ich sehne mich nach sinnlichen Nächten mit Rotwein und Gitarrenklang, ich sehne mich nach Morgenden mit herrlichen Sonnenaufgängen, nach dem Mittag den ich mit einem dampfenden Kaffee in meinem Lieblingscafe feiere, und ich sehne mich nach der Nacht. Immer und immerwieder sehne ich mich nach der Nacht. Die Nacht ist für mich soviel vielversprechender als der Tag. In ihr liegt die Kraft, in ihr liegt der Sinn und vorallem liegt in ihr die Wahrheit. Das Gefühl als Extrakt herausgepresst – die Sinnlichkeit, die Liebe, oh, die Liebe!
Da ist sie wieder.
Allein bei dem Gedanken ermüde ich bereits wieder.
Ich sehne mich nach ihr. Nach tiefen Blicken, nach wahren Liebesgeständnissen, nach Lächeln, nach Gesprächen morgens um 3 Uhr morgens, nach Festgehaltenwerden, immer wieder. Immer wieder festhalten und festgehalten werden. 'To love and be loved in return.'
Ich habe bereits erkannt, dass ich alleine nicht überlebe. Nicht nur, weil es biologisch nicht möglich ist, ich muss nicht alleine sein, wenn ich es darauf anlege. Doch dem bin ich leid. Ich hasse männliche Körper die ich nicht riechen kann. Es ist wahr – es muss scheinbar einen Menschen für mich geben, dem ich mich buchstäblich vollständig hingeben kann. Doch den Menschen habe ich noch nicht gefunden, und falls doch, habe ich ihn nicht genügend wahrgenommen.
Ich denke schon, dass ich eine gewisse Wirkung auf Menschen habe. Ich höre zu, spreche wenig, fühle mehr, und schließe gerne die Augen wenn ich spreche. Wenn ich die Augen schließe während ich spreche, sollte das Gesagte immer doppelt sosehr gewichtet werden. Doch das erkennen die wenigsten Menschen. Ich kann ein offenes Buch sein, wenn jemand es lesen wollen würde.
Man merkt auch jetzt – ich brauche meine andere Hälfte. Ich lebe nur zur Hälfte wenn ich nicht vollständig lebe. Einfach, nicht wahr?
Verdammt, ich schweife ab.
Wieviel Uhr ist es?
Was auch immer, ich komme sowieso zuspät, also kann ich mir auch eine Zigarette anzünden.
Meine schweren, mit schwarzem Kohlstift bemalten Augen sinken nieder, um konzentriert das Feuer zum Tod zu führen. Ich ziehe ein, und halte. Schließe die Augen, blicke direkt in die Sonne.
Sie ist so schön. Wenn es die Sonne nicht gäbe, gäbe es kein Tageslicht, es gäbe keine Glückshormone, und es gäbe keinen Lebenserhaltungstrieb für mich. In schlechten Momenten trage ich die Sonne an meiner Taille. Ich berühre sie, wenn ich Licht brauche. In letzter Zeit berühre ich sie oft.
Ich lasse meine Augen einige Wahrnehmungen erkennen.
Soviele Menschen. Früher haben sie mich angewidert, heute liebe ich sie irgendwie.
Ich frage mich oft, wo sie hin fahren, ob sie glücklich dort sind, oder ob sie lieber woanders hinfahren wollen. Ob sie zu ihrem Partner fahren, zur Arbeit, in eine fremde Stadt, oder zum Arzt.
Da fällt mir ein – ich muss den Zahnarzt anrufen.
Termin gemacht, 7:00 Uhr, direkt der erste Termin. Wenn der Arzt schnell macht komme ich pünktlich wieder zur Arbeit. Ich bin ein Gewohnheitsmensch, der am liebsten aus der Gewohnheit ausbrechen möchte, doch nach Gelegenheiten sucht oder auf sie wartet – beides ist falsch. Also bleibe ich bei der Gewohnheit.. Wieder schweife ich ab. Denn mein Arzt liegt in einer anderen Stadt.
Wiesehr sehne ich mich nach einer anderen Stadt. Doch ich bin ein Gewohnheitstier und glaube, dass das Potenzial dieser Stadt für mich als Glückssuchende noch nicht ausgeschöpft ist.
Ausgeschöpft ist auch der Tabak meiner Zigarette, ich drücke sie aus und setze mich auf die Bank.
Nach einem kurzen, nach Sicherheit suchenden Blick (ich habe noch 15 Minuten Zeit) schließe ich meine Augen. Nun sind meine Augen für die Außenstehenden garnicht sichtbar.
Ich erinnere mich an die Frage eines Kommilitonen als ich noch Philosophie studierte – ''Wenn ich die Augen schließe, bin ich dann überhaupt da?'' Tja, Descartes, du hast es angezweifelt und dann kam der Zweifel an den einfachsten Dingen.. Doch da mir das zu schwierig ist, zweifle ich jetzt nicht daran, und döse lieber vor mich hin.
Die Sonne scheint auf mich herab, vielleicht setze ich mich heute Abend mit einer Flasche Wein auf die Terasse und lasse die Eindrücke des Tages auf mich niedersinken.. Wenn ich Zeit habe.
Wenn ich Zeit habe.
Wenn ich Zeit habe.
Habe ich zeit?
Ich habe Zeit, wenn..
- - - - -
(Der Bahnhof verengt sich von sechs Gleisen zu zweien, die Menschen quetschen sich nun auf zwei Gleisen hin und her und brechen in Panik aus. Die Uhren drehen sich wie verrückt, die Züge rasen aneinander vorbei.)
Ich wache auf, weil ich Schreie höre.
Ich öffne die Augen, doch sehe ich nichts.
Ich breche kurzzeitig in Panik aus – warum sehe ich nichts?
Ich höre tausend Menschen, doch moment – etwas höre ich auch ganz deutlich heraus.
Es klingt wie ein Pochen..
Was ist das?
In all der Panik die momentan in mir hervorkriecht besinne ich mich komplett auf mich, trotz der Trivialität, die diese Situation mit sich bringt, und höre, und nutze einmal sinngemäß meine Sinne.
Es ist Herzklopfen.
Ich höre die Herzen von knapp 100 Menschen, die momentan auf diesem Bahnhof stehen.
Sie sind allesamt so panisch wie ich, um dementsprechend könnte man alle 101 Herzschläge dieses Moments zusammenfassen und somit die Zeit stillhalten.
Wie langweilig. Ich stoße meinen Atem aus.
Sie schreien, und ich denke mir, obgleich ich meine Sehkraft verloren habe, ob es nicht genau darauf ankommt? Einfach zu hören, und dadurch gleich soviel intensiver zu fühlen?
Ich höre zu und muss lächeln. Ich spüre einen sanften Windhauch der mit meinen Haaren spielt, die ich mir vor zwei Tagen abgeschnitten habe. Ich brauchte etwas neues, und da greift Frau direkt auf das bewährteste Mittel – den Friseur.
Es war so, als wäre eine Teillast von mir abgefallen, und ich gefiel mir gleich viel mehr. Ich habe dadurch viel mehr Gestaltungsspielraum, und wenn ich den schon an meinen Haaren habe, losen Fäden die an meinem Kopf kleben, dann kann ich doch auch versuchen, mehr Gestaltungsspielraum in mein Leben zu bringen, oder nicht?
Mein Herzschlag beruhigt sich. Doch ergreift mich ein Gefühl, dass ich nicht die Einzige bin, die das so sieht. Die diesen Moment irgendwie genießt.
Aus der Ferne, vielleicht vom Gleis gegenüber? Schwappt ein langsamer Herzschlag zu mir herüber.
Und ich verliebe mich sofort in ihn.
Er hat etwas Ruhiges an sich, er fühlt sich wie eine ferne Umarmung an.
(Ein Zug fährt vorbei)
Da ist er wieder. Ich versuche mir, den Menschen vorzustellen, dem dieser Herzschlag gehört.
Ein Mann, eine Frau? Ich weiß es nicht.
Ich glaube, der Mensch lächelt. Ich glaube, er denkt dasselbe wie ich. Und allein, weil ich dieses Pronomen nutze, 'er', schließe ich daraus, dass es ein Mann ist.
Ich fühle mich so hingezogen zu ihm. Ich spüre, dass ich erröte.
Und es klingt merkwürdig, doch ich mag es, wenn ich erröte. Es zeugt von soviel Menschlichkeit.
Die Luft zieht sich zu mit diesem Herzschlag. Ich höre die anderen nicht mehr.
Ich muss zu diesem Herzschlag!
Fühlen, nicht sehen.
Ist es richtig oder nicht? Fühlen, nicht sehen.
Kann ich, oder kann ich nicht? Fühlen, nicht sehen.
Ich erhebe mich, ertaste den Bordstein des Gleises. Krabble hinunter, und tippe schnell hinüber zum anderen Bordstein. Gerade als ich ihn erklimmen will, höre ich einen nahenden Zug.
Eine Hand greift nach mir und zieht mich schnell hoch.
Diese Hand hält mich fest.
Es ist der Herzschlag.
Die Stimme spricht: ''Deine Hand in meiner, solange Du mich lässt.''
Ich habe noch nie blind einem Menschen vertraut, muss ich sagen.
Ich bin zwar kein weißes Schaf, ich habe schlimme Dinge in meiner Vergangenheit getan, doch Vertrauen ist eine schwierige Angelegenheit bei mir.
Ich spreche, wenn ich nicht sprechen sollte, die Worte sickern in meiner Impulsivität durch mich hindurch, und es gibt keinen Filter, der böse Worte davon abhält, über meine Zunge zu wandern.
Ich habe soviel Angst. Angst vor meinem Leben, vor mich selbst, vor Menschen.
Die Angst in meinem Leben verhindert das Schöne das ich mir sosehr herbeisehne.
Nachdem ich suche, obwohl ich es nicht sollte, und wenn ich warte, kommt es ja auch nicht.
Was war zuerst da, das Huhn oder das Ei?
Wohl eher die Angst vor der Frage selbst.
Die Hand hält mich immernoch.
Ich kenne diese Hand, diese wunderschöne Hand, geziehrt mit Adern, in denen das Leben fließt, sogar meines, wenn ich ihm Blut spenden müsste. Und man glaube mir, ich würde es sofort tuen.
Ich taste nach der Narbe, die sich zwischen dem Daumen und dem Zeigefinger befindet und muss lachen. Sie ist da, und die Geschichte selbst bringt mich zum lachen.
Die festen Finger, die sich um meine zarten Finger legen.
Die Hornhaut meiner Finger schabt unter seiner eigenen.
Der Schmerz meiner Finger schabt unter seinem eigenen.
Wie kann man sich der Liebe entziehen? Wie kann man sie nicht fühlen?
Ich antworte: ''..solange Du mich lässt.''
Da ich sicherheitsbedürftig bin, kommt mir sofort der Gedanke nach Sekundenkleber.
Und er antwortet: ''Ich muss Dich nicht sehen, Du bist schön, Du bist rein und Du bist es wert.''
Mir fehlen die Worte. Obwohl – braucht man sie manchmal?
Ich ahne, dass ich mit diesem Menschen all die Erfahrungen machen kann, die ich brauche.
Morgens den Sonnenaufgang im Wald betrachten.
Mittags im Lieblingscafe einen dampfenden Kaffee trinken.
Abends eine Flasche Rotwein auf das Leben und den Sonnenuntergang trinken.
Und die Sonne geht niemals unter.
Denn sie liegt in meiner Hand.
Es liegt in seiner Hand.
Und das Schönste?
Es liegt in unserer Hand.
Das einzige 'uns', welches ich akzeptiere.
Ich hasse es, zwei Personen zu einer zusammenzufassen, doch wenn es um die Beziehung zwischen zwei Menschen geht, höre ich ein 'uns' gerne. Auch, wenn man es von mir niemals hören wird. Wirklich.
Und damit kann ich mich abfinden.
Mein Körper rastet in seiner Hand, meine Welt liegt in der Kerbe zwischen Daumen und Zeigefinger.
Mein Gesicht ruht in seiner Hand.
Ich könnte mich in seine Hand hineinlegen und wäre selig.
''The greatest thing you'll ever learn is to love and be loved in return.''