Meine Finger wandern über die Hieroglyphen im Sandstein.
Tierdarstellungen wie Falken, Ochsen, Kraniche und Schakale neben abstrakten Symbolen, Henkelkreuzen und gezackten Linien umfassen die Tür aus Stein in deren Mitte sich, eingerahmt von vielen weiteren Hieroglyphen, zwei Götter gegenübersitzen.
"Isis und Osiris", erklärt Aljan. "Die Herrscher über die ägyptische Totenwelt."
"Erzähl mir von ihnen", bettle ich.
"Es ist eine grausame Geschichte", warnt Aljan. "Bist du sicher, dass du sie hören möchtest?"
"Die besten Geschichten sind grausam", beharre ich.
"Na gut, wenn du darauf bestehst." Aljan holt tief Luft. "Osiris war Gottkönig von Ägypten als er von seinem eigenen Bruder Seth getötet und zerstückelt wurde. Doch damit endet seine Geschichte noch nicht. Es war seine Schwester Isis, die die über das gesamte Land verstreuten Stücke einsammelte und wieder zusammenfügte. Für einen Moment erwachte Osiris wieder zum Leben, lange genug, um mit Isis einen Sohn zu zeugen, ehe er wieder in die Unterwelt hinabsteigen musste." Er hält inne und mustert mich.
"Red weiter. Inzest unter Göttern ist nichts Neues, oder?"
Er schüttelt den Kopf. "Nein, da hast du recht. Jedenfalls bringt Isis einen Sohn zur Welt, Horus. Du siehst ihn hier, dargestellt als Falke." Aljans Finger gleiten über das dazugehörige Relief.
"Er wuchs heran, rächte seinen Vater und besiegte Seth. Fortan war Horus Herr der Oberwelt und Osiris der Herr der Unterwelt."
"Dann ist das also sein Reich?" Ich deute auf die Tür.
"Bereit die ägyptische Totenwelt zu betreten?", fragt Aljan.
Ich schlucke. Keine Ahnung, was mich dahinter erwarten wird. "Muss ich noch irgendetwas wissen?" Für den Anfang habe ich genug von unangenehmen Überraschungen.
"Die Ägypger glaubten an die Möglichkeit, nach dem Tod weiterzuleben. Aber nur, wenn sie zuvor ein entsprechendes Leben führten."
Ich nicke. "Also ganz ähnlich wie die christliche Vorstellung von Paradies und Hölle."
"So ähnlich zumindest, wobei diese Vorstellung seit Martin Luther nicht mehr ganz aktuell ist. Gottes Liebe und Gnade und Vergebung für alle und so weiter. Aber das führt jetzt zu weit." Er räuspert sich. "Jedenfalls mussten sich die Verstorbenen einem Totengericht stellen und ihr Herz gegen die Feder der Maat wiegen lassen. Nur, wenn die Waage ausgeglichen oder leichter war, durfte man sich auf ein ewiges Leben freuen. Alle, deren Herz schwerer war, mussten einen zweiten, endgültigen Tod sterben."
"Ich erinner mich, davon habe ich im Geschichtsunterricht gehört. Das heißt wir betreten jetzt dieses Totengericht? Treffen wir Osiris und Isis?"
Aljan lacht bitter auf. "Nein, die beiden sind derzeit ausgeflogen. Du findest das Reich verlassen und ziemlich mitgenommen vor. Hier hat es begonnen mit der Zerstörung und hier ist es am schlimmsten." Er seufzt. "Bereit?"
Ich nicke.
Aljan murmelt ein unverständliches Wort und die schwere Sandsteintür schwingt sich zur Seite ohne ein weiteres Zutun. Er muss meinen ungläubigen Blick bemerkt haben.
"Du musst wissen, dass die Seelen der Verstorbenen zuerst den Weg zum Totengericht finden mussten." Aljan streckt seinen Arm aus und lässt mir den Vortritt. Ein wenig zögerlich trete ich über die Schwelle, aber ich vertraue ihm genug, um zu spüren, dass er mich nicht in mein Verderben führen würde.
Vor mir erstreckt sich kein Raum, wie ich es erwartet hätte, sondern eine weite Landschaft. Am Horizont erhebt sich eine Hügelkette, in einer kleinen Senke schlängelt sich ein Fluss umgeben von einem breiten Flussbett dahin.
Aljan tritt an meine Seite. "Das ist unerwartet", bemerke ich.
"Bevor das Herz gewogen werden konnte, musste man erst einige Prüfungen bestehen und einen Weg durch die Unterwelt finden. Zu Beginn ist es eine Landschaft." Aljan setzt sich in Bewegung und ich folge ihm in Richtung der Bergkette.
"Das dunkle Totenreich liegt westlich des Nils im Untergrund. Die Wanderung dorthin dauert mehrere Stunden. Die Toten wurden dabei von Dämonen verfolgt."
Mein Blick huscht über die Sandbänke, über sämtliche Gesteinsbrocken und karge Büsche hinweg, aber ich kann nur Einöde erblicken und hier und da einen der mir inzwischen vertrauten schwarzen Kratern.
"Keine Sorge, sie werden Abstand halten, denn ich kenne all ihre Namen", erklärt Aljan.
"Dann ist ja gut", bemerke ich ohne wirklich zu verstehen, was er meint.
Und wirklich, kein Wesen natürlicher oder übernatürlicher Gestalt wagt es, unsere Wanderung über sandige Dünen und dornenbewachsene Pfade zu stören. Einmal überqueren wir den Fluss an einer seichten Stelle und folgen auf der anderen Seite einem Pfad in die Hügel. Die Zerstörung ist hier viel gravierender als in Aljans Welt. Die Risse im Boden scheinen dunkler und tiefer zu sein. So gut ich kann, versuche ich sie zu ignorieren und betrachte die aufragenden Berghügel.
Dadurch bemerkte ich viel zu spät, dass Aljan stehen geblieben ist und remple ihn an. "Entschuldigung", flüstere ich. Er beachtet mich kaum.
Erst dann entdecke ich die Tür in einem Felsmassiv. Sie ähnelt der Eingangstür. Mit Hieroglyphen versehener Sandstein. Seine Hand schnellt vor und hält mich zurück. "Warte!", warnt er. "Das ist neu."
Ein kleines Etwas huscht im letzten Augenblick in eine der dornigen Büsche und verschwindet.
"Was war das?", frage ich.
"Gute Frage!" Aljan kratzt sich am Kopf. "Ein Chatiu- Dämon vermutlich. Ich bin nicht sicher, den habe ich hier noch nie gesehen."
Das Wesen kauert noch immer im Dornbusch und mustert uns aus roten Krokodilsaugen. Eigentlich wirkt es mit seiner roten Mähne und dem Krokodilsgebiss beinahe niedlich, wenn nicht die scharfen Zähne herausstehen würden.
"Das heißt, du kennst ihn nicht?", flüstere ich. "Und jetzt?"
"Lass mich kurz überlegen", bittet Aljan und legt seine Stirn in Falten. "Ich erinnere mich an eine Stelle aus dem Nut-Buch." Das Dämonenwesen belauert uns und ich starre zu ihm herüber. Noch verharrt es reglos in seinem Unterschlupf. Aber wie lange noch?
Mit den langen, dünnen Vorderfüßen und den dicken, aber kurzen Hinterfüßen sieht es nicht so aus, als könne es sich besonders schnell fortbewegen. Sicher bin ich mir dessen aber nicht und herausfinden, möchte ich es auch nicht unbedingt. Aljan murmelt etwas, während ich den fellbedeckten, gepunkteten Körper betrachte und versuche, zu einer Einschätzung zu gelangen, wie man es im Notfall am besten bekämpfen könnte. Das Maul scheint der gefährliche Teil zu sein, denn weder der Körper wirkt besonders massig noch hat es scharfe Krallen.
"Den Chatiu-Dämonen werden die sechsundreißig Dekane unserer Sternbilder zugeordnet. Er wird geboren, geht am Himmel auf aus der Duat, zählt siebzig Tage vom Tag seines Untergangs bis zum Tag seines Aufgangs."
Ich bin mir nicht sicher, ob seine Worte mir gelten oder er nur versucht, sich an etwas zu erinnern. Für mich klingt es bedeutsam und unverständlich.
"Was stand noch einmal darüber im Amduat, der Schrift der verborgenen Kammer?" Er flucht.
Dann tritt er entschlossen ein paar Schritte vor, stellt sich breitbeinig vor den Dämon. Der macht ebenfalls ein paar tapsige Schritte auf Aljan zu, sein Krokodilsmaul schnappt dabei bedrohlich auf und zu.
Ich verharre wie ersteinert. Was tut mein Begleiter da?
"Löse mich, sieh mich an. Du bist einer von den Chatiu-Dekane, die zur Lösung gehören, wenn sie den Gott Geb sehen", spricht er mit fester Stimme. Das Maul klappt zu. Der Dämon duckt sich zu Boden, fährt herum und verschwindet.
"Na also, war doch ganz einfach." Aljan grinst und ich überbrücke die Distanz zu ihm. Um keinen Preis will ich hier von ihm getrennt werden.
Aljan wendet sich der Tür zu, murmelt wieder etwas Unverständliches und sie öffnet sich.
Zuerst kann ich dahinter nur Dunkelheit erkennen, dann erste Umrisse. Hieroglyphen und Zeichnungen verzieren die Wände eines schmalen Gangs, irgendwo von oben fällt Licht ein.
"Nur wer den richtigen Namen kennt, kann die Tür öffnen und den Weg durch das Labyrinth finden", erklärt Aljan und führt mich zielstrebig um einige Ecken und einige Gänge entlang, an deren Ende es manchmal sogar einige Stufen hinab geht. "Deshalb gaben sie ihren Toten Grabbeigaben, Karten und Inschriften mit, damit keiner sich verlief. Sogar Zaubersprüche, um sich gegen die Dämonen zu wehren."
Ich schlucke. Ohne Aljan möchte ich hier keine Minute herumirren müssen, dazu habe ich zu oft den Film "Die Mumie" geschaut.
"Aber du kennst die Namen und Sprüche?", erkundige ich mich.
"In und auswendig", versichert er mir. "Hast du doch gesehen."
Trotzdem greife ich zur Sicherheit nach seinem Arm. Irgendetwas sagt mir, dass der Chiuat-Dämon noch einer von der harmloseren Sorte gewesen ist.