28) Nephilim
"Hast du dich gut mit meinem Vater unterhalten?" Aljans unvermittelte Frage reißt mich aus meiner Betrachtung. Ich lasse meinen Blick von der Tür zu ihm gleiten, ehe ich antworte.
"Oh ja, in der Tat. Es war sehr unterhaltsam und-" Ich stocke, auf der Suche nach dem passenden Adjektiv, "- aufschlussreich?"
Aljan öffnet das Portal und ich trete hindurch, ohne viel von meiner Umgebung wahrzunehmen.
"Kann es sein, dass sich dein Vater einsam fühlt? Und dass er eifersüchtig ist?"
Aljan schaut mich lange mit großen Augen an. Dann lacht er. "Einsam und eifersüchtig? Mein Vater? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Er verachtet Gesellschaft. Die Schriften sind ihm Umgang genug."
Ich löse meinen Blick von ihm. Wir stehen auf felsigem Untergrund, über uns erheben sich Berge aus massivem Stein.
"Er hat ein paar seiner Ansichten mit mir geteilt", erkläre ich vage. "Er macht sich wirklich nicht viel aus Gesellschaft wie es scheint, aber immerhin hat er euch erschaffen."
Das Felsplateau, auf dem wir stehen, läuft zu einem unebenen Trampelpfad über Geröll und Felsbrocken aus, der einen offensichtlich hinunter in die Unterwelt der Griechen führt.
"Leicht ist der Abstieg zur Unterwelt", bemerkt Aljan. "Nach mir." Er bedeutet mir mit einer Geste, ihm zu folgen.
Zu unserer Seite ragen die kargen Felswände senkrecht in die Höhe, kein Weg zweigt von dem Pfad ab, der sich ziemlich gerade durch das Gestein windet. Immerhin keine Chance, sich hier zu verlaufen.
Immer wieder säumen knorrige, kahle Bäumchen den Weg. Manchmal müssen wir einige in den Fels gehauene Stufen hinabsteigen. Der Weg ist so schmal, dass wir hintereinander laufen müssen. Vielleicht reden wir aus diesem Grund kein Wort miteinander. Ab und zu schließen sich die Felswände über unseren Köpfen zu einem Dach und wir laufen durch eine Art Gewölbe. In einem dieser Gewölbe weitet sich der Weg etwas und ich kann endlich neben Aljan treten.
Als ich einen Schritt auf ihn zu mache, knirscht etwas unter meinen Füßen. Ich senke den Blick von den uns überspannenden Deckenfelsen auf den halbwegs ebenen Untergrund und erschrecke.
Erst jetzt bemerke ich die Knochen, die überall auf dem Boden verstreut liegen. Schädel, Rippen, Schienbeinknochen, Ellen und Speichen wild verteilt. Menschliche Gebeine. Ich erschaudere und spüre wie mein Herz einen Satz macht und eine Gänsehaut über meine Arme kriecht. Aljan muss meine Reaktion bemerkt haben. Er streckt eine Hand aus und greift meinen Unterarm, um mich weiterzuführen. So eng beieinander stehend, gelingt es uns tatsächlich nebeneinander in einen Felsengang zu unserer Linken einzubiegen. Ich registriere kaum, dass auch rechts ein ähnlich aussehender Gang weiterführt.
Der Gang weitet sich bald und auch die Felswände weichen allmählich mannshohen Felsbrocken. Wir stehen in offenem Gelände. Hinter uns ragen gezackte Felsformationen steil in die Höhe und heben sich vor einem hellgrauen Firmament ab.
"Sind das Adler?", frage ich und schirme meine Augen mit der freien Hand ab, um die schwarzen Umrisse, die am Himmel fliegen, besser erkennen zu können.
Aljans Antwort wird von einem Kopfschütteln begleitet. "Harpyen."
"Oh!", entfährt es mir. "Sind die gefährlich?"
"Nicht für uns", erklärt er. "Komm!" Er hält immer noch meinen Arm und zieht mich weiter. "Nur für ungebetene Eindringlinge. Die chthonischen Dämonen und Ungeheuer, die hier leben, sind so etwas wie unsere Haustiere. Erinnyen, Furien, Gorgonen und Chimären. Du kennst sie vielleicht dem Namen nach aus den Geschichten rund um Odysseus, Achilles, Perseus oder Hercules?"
Er schaut mich fragend an und ich nicke langsam. "So ähnlich. Eher aus Percy Jackson. Kennst du den?"
"Ich mag Rick Riordian." Ein Lächeln huscht über Aljans Gesicht.
Jetzt muss ich auch lachen. "Ich meinte den Film, nicht die Bücher", stelle ich richtig.
"Achso." Aljan schenkt mir einen amüsierten Blick. "Ich allerdings bevorzuge die Bücher den Filmen."
"Wie auch immer." Ich will ihm nicht sagen, dass ich die Bücher nie gelesen habe und ehe ich weiter über den Grund nachdenken kann, warum ich ihm dies lieber verschweige, bemerke ich zwei weitere Dinge.
Das erste ist ein imposanter Wasserfall, der sich von einem der Berge ergießt und vor uns mit einer Wucht in die Tiefe prasselt. Das Rauschen der Wassermassen übertönt jedes gesprochene Wort und so führt mich Aljan schweigend zu einem schmalen Abstieg. Jemand, Tenebris vermutlich, hat Stufen in den Stein gehauen, die hinunter zu einem weiten Flussbett führen. Wie auch immer er das gemacht hat? Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, wie der Fürst der Finsternis hier steht und mit Hammer und Meißel arbeitet. Aber die Frage, wie man eigentlich eine Unterwelt erschafft, speichere ich für später ab, denn noch etwas fesselt meine Aufmerksamkeit.
Das zweite, was mir auffällt, ist ein riesiger, klaffender Riss, der kurz hinter dem Zugang zu der Steintreppe beginnt und sich weit nach hinten ins flache Felsland zieht. Auch dessen Ursprung sehe ich nicht in Werkzeug und Manneskraft. Allerdings wirkt das Zeichen der Zerstörung in dieser Umgebung weniger störend. Fast als gehöre es hierher und hätte seine Daseinsberechtigung. Ich deute darauf.
Erst als wir ein paar Stufen hinabgestiegen sind und der Lärm des Wassers zu einem gedämpften Rauschen abebbt, beginnt Aljan zu erzählen.
"Bevor wir über den Styx fahren, will ich dir etwas über diese Welt hier erzählen", setzt er an. "Auch in der Totenwelt der Griechen gibt es mehrere Optionen. Die meisten gingen ins das Land des Vergessens ein, wo sie als körperlose Schatten ein Dasein in ewiger Langeweile führen durften." Ich nicke und ermutige ihn, fortzufahren.
"Einige Glückliche durften auf die Insel der Glückseligen übersetzen und eingehen in die Gärten Elysions." Er seufzt theatralisch. "Und besonders schwere Sünder wurden zum Tartaros verbannt, wo eigens abgestimmte Strafen auf sie warteten. Tantalos, Sisyphos sind dir ein Begriff?"
Endlich kann ich mit meinem Wissen glänzen. "Tantalosqualen sagt mir etwas." Ich grinse. "Und von Sisyphos und dem Stein habe ich auch schon mal gehört." Wissen ist vielleicht zu viel gesagt, eher Halbwissen, aber immerhin. Ich bin stolz auf mich und hoffe, dass er nicht weiterfragt. Tut er nicht. Aljan erzählt lieber.
"Man sagt, dass der Tartaros so tief ist, dass ein Amboss neun Tage hinabfällt bis er den Grund erreicht. Diese Risse, sie erinnern mich an diese Erzählung."
"Habt ihr schon etwas hinuntergeworfen?", frage ich.
"Einen Amboss", Aljans Blick schwankt zwischen Schalk und Resignation. "Aber ich kann nicht bezeugen, wie lange er unterwegs war oder ob er überhaupt irgendwo angekommen ist. Der Spalt scheint wirklich endlos zu sein. Keine Chance, mehr herauszufinden."
"Eine Hölle in der Hölle", überlege ich, nur um mich dann augenblicklich zu verbessern. "Eher eine Hölle in der Hölle in der Hölle."
"Dann müssen wir ja nur noch herausfinden, wieso und warum und welchem Zweck sie dient. Achja, und wie sie dahin kommt. Und vielleicht, wenn wir schon dabei sind, wer sie erschaffen hat und wie wir sie wieder los werden." Aljan flüchtet sich in Sarkasmus.
Eine Eigenschaft an ihm, die mir nicht gefallen will. "Deswegen bin ich hier", verkünde ich und ignoriere die Tatsache, dass ich ziemlich ahnungslos und inkompetent für meine Aufgabe erscheine.
"Was weißt du noch über den Tartaros?" Immerhin bin ich gewillt, meine Unwissenheit zu beseitigen. Vielleicht ist das der beste Anfang, zumindest, bis uns etwas noch Besseres einfällt.
"Nun, nach dem apokryphen Buch Henoch ist es der Ort, wo die gefallenen Engel, die sich mit Frauen vereinten, gefangen gehalten werden und auf ihr Gericht warten."
Wir haben in der Zwischenzeit den Abstieg beendet und stehen am felsigen Ufer eines wild strudelnden Flusses. "Ein Verbannungsort also?"
Meine Gedanken überschlagen sich. Vielleicht lag ich doch richtig mit meiner Vermutung, dass Tenebris mit seinen Taten irgendjemanden erzürnt hat.
"So könnte man es nennen. Die gefallenen Engel leben dort mit den Kindern, die aus ihrem Sündenfall hervorgingen, den Nephilim."
Erneut kann ich mit Wissen glänzen. Da behaupte doch einer, dass Fernsehen nicht bildet. "Schattenjäger", murmele ich und versuche mich an alles zu erinnern, was ich aus Shadowhunters und Supernatural noch weiß. "Aus der Verbindung zwischen Menschen und Engeln hervorgegangen."
"Genau", besätigt Aljan nickend.
Nur wie uns das jetzt weiterführt, weiß ich auch nicht.