Ich kann nicht verhindern, dass ich stolpere und das Gleichgewicht verliere. Die Verbindung zu Erits Hand auf meinem Rücken bricht ab, genauso wie die zum Boden.
Es besteht keine Chance, dass ich mich wo festhalten oder abfangen kann. Ich werde fallen. Es ist nicht mehr aufzuhalten, der Absturz hat begonnen.
"Guten Flug", haucht Erit, dann passieren mehrere Dinge gleichzeitig.
Die Eule gleitet über den Abgrund auf uns zu. Sie stößt einen langgezogenen Schrei aus. Dann fliegt sie knapp über meinem Kopf hinweg.
Gleichzeitig spüre ich eine unsichtbare Macht wie eine Mauer, die sich um mich herum auftürmt, wie ein unsichtbares Fangnetz, das sich um mich legt und mich zurück auf die Füße schiebt. Ganz sanft und behutsam geleitet es mich zurück auf festen Grund.
Im nächsten Moment landet der Vogel auf einem Ast. Die gelben Augen leuchten, dann blinzelt er und öffnet seinen Schnabel.
"Ich rufe Dich, Nemesis! Höchste!"
Erit beobachtet alles reglos. Nur an seinen aufgerissenen Augen und den bebenden Nasenflügeln kann ich sehen, wie aufgebracht er ist. Bei den gekrächzten Worten der Eule zuckt er unwillkürlich zusammen.
"Steinkauz." Der Vogel streckt seine Flügel aus und schüttelt sich, sodass sich seine braunweißen Federn aufblustern.
"Steinkauz", wiederholt er und endlich verstehe ich.
Ich nicke kurz und murmele meinen Dank, was der Vogel mit einer Kopfbewegung quittiert.
"Nemesis", krächzt er jetzt lauter. "In alles schaust Du hinein. Allem lauschend, alles entscheidend. Dein ist der Menschen Gericht."
Erit weicht einige Schritte zurück.
Der Steinkauz sitzt ruhig auf seinem Ast. Seine gelben Augen ruhen abwechselnd auf mir, auf Erit oder wandern zu einem Punkt weit über dem Abgrund, als würde er dort etwas sehen.
Suchend lasse ich meinen Blick über den nächtlichen Himmel streifen und tatsächlich erkenne ich dort etwas Seltsames. Etwas fliegt dort am anderen Ende des Waldes. Es muss groß sein und kommt auf uns zu. Beim Näherkommen erkenne ich, dass es sich nicht um ein Etwas, sondern gleich um mehrere handelt. Es müssen vier Reiter der wilden Jagd sein, die da direkt auf uns zutraben. Aber nicht Odin und Frigga, sondern eine andere Version. Vier Reiter mit flatternden Gewändern. Beim Näherkommen erkenne ich, dass jedes der Pferde eine andere Farbe hat.
Das vorderste ist ein Schimmel. Auf ihm sitzt ein Reiterin mit dunklen langen Haaren, die hinter ihr wehen. Ihr Kopf wird von einer Krone geschmückt. Sie hält die Zügel mit einer Hand und in der anderen schwingt sie einen enormen Bogen. Die dazugehörigen Pfeile befinden sich in einem ledernen Köcher auf ihrem Rücken.
"Dein Auge besing ich, das alles erblickend, vom Himmel das Leben beschaut", krächzt der Steinkauz von seinem Ausguck auf dem Baum.
Erit ist bleich geworden. Er taumelt einige Schritte weiter zurück.
Die Reiterin landet mit ihrem Pferd auf dem Boden zwischen mir und Erit.
"Du, welche das Unrecht straft, und nach der Wahrheit billigem Recht Ungleiches versöhnet. Nur du trittst mit rächendem Fuß unrechtliche Werke, Feindin der Ungerechten."
Der Schimmel kommt schnaubend zum Stillstand.
"Göttin, wohlan, mit edlen Gesinnungen komm."
Kurz nacheinander setzten auch die verbliebenen drei Reiterinnen zur Landung an.
Die nächste bringt ihr Pferd neben der ersten zum Stehen. Es ist ein Fuchs mit feuerfarbenem Fell. Um ihr weißes Kleid ist auf Hüfthöhe ein Waffengürtel gebunden, in dessen Scheide ein gewaltiges Schwert ruht.
"Schon kehrt wieder Astraea", krächzt der Steinkauz.
"Schon ist gekommen das Ende der Zeit. Und großartig beginnen den Lauf ganz neue Geschlechter. Neue Geburten entsteigen nun bald dem erhabenen Himmel."
Ihr folgt eine Reiterin auf einem Rappen. Die Waagschalen an ihrem Gürtel schwanken bedenklich, als sie neben den anderen beiden aufsetzt.
Auch sie wird von dem Käuzchen begrüßt.
"Scham und Scheu, zurück wird bleiben der sterblichen Menschen
düsterer Jammer, und Hilfe sich nirgends zeigen im Elend."
Dann landet die letzte Reiterin. Sie ist die Beeindruckendste, auch wenn ihr Pferd das Klapprigste von allen ist. Es wirkt, als wäre ihm vor Erschöpfung jegliche Farbe aus dem Fell gewichen und als würde es jeden Augenblick umkippen. Aber seine Reiterin sitzt stolz und aufrecht im Sattel, die goldenen Zügel in ihren Händen, das Haar flattert um ihre Schultern und ihr Blick ist wach und wissend.
"Nemesis", krächzt der Steinkauz. "Es ist soweit."
Sie nickt dem Steinkauz zu und wendet ihr Pferd Erit zu.
"Erit Belial, erster Prinz der Hölle. Ich bin gekommen, um dich zu holen und dir zu bringen, was du verdienst."
Erit öffnet seinen Mund, schließt ihn wieder. Mehrmals. Er ist bleich wie ein Leichentuch und auch mit den vier Reiterinnen zwischen uns kann ich die Schweißperlen auf seiner Stirn glitzern sehen.
Auch die erste Reiterin wendet ihr weißes Pferd und blickt auf Erit hernieder.
"Erit Belial, seit dem Verscheiden deines Erschaffers, Vorsteher der Höllenreiche", wendet sie sich an ihn. "Du wirst an seiner Statt gerade stehen, für die Missachtung des göttlichen Rechts."
Auch die zweite Reiterin lässt ihr rotes Pferd einige Schritte auf ihn zumachen, bis sie knapp vor ihm steht und ihr Schwert zieht.
"Erit Belial, neuer Herrscher der Höllenreiche, der du weder Respekt vor den Älteren noch der Heiligkeit eines Gastes kennst, wirst dich für deine eigenen Taten richten lassen." Die Spitze des Schwerts endet wenige Zentimeter vor seiner Brust.
Erit steht da, wie ich ihn nie zuvor gesehen habe. Den Kopf tief auf der Brust, den Blick gesenkt. Die Worte, die er murmelt, sind kaum zu verstehen. "Missverständnis", höre ich heraus und irgendetwas von "Schuld."
Auch die dritte Reiterin auf dem schwarzen Pferd meldet sich zu Wort. "Nicht hier und nichts jetzt. Das Göttergericht wird entscheiden, was mit dir und dem Reich der Hölle geschehen wird." Sie lässt ihn mit einer Handbewegung stehen und hebt den Blick hinauf zu den Zweigen des Baumes.
"Flieg", sagt sie leise aber bestimmt, " und sag, dass wir Erit Belial bringen und das Gericht in Bälde beginnen kann."
Der Steinkauz nickt, breitet die Flügel aus und flattert davon.
Dann wendet sie sich an mich und streckt ihre Hand in meine Richtung.
"Dalerana Jordbarn. Auch du wirst deine Bestimmung erfüllen müssen und bei dem Gericht der Götter eine entscheidende Rolle spielen, aber so kannst du dort nicht erscheinen." Ihre Augen verengen sich, aber ehe sie weitersprechen kann, hat Erit seine Stimme wiedergefunden.
"Das ist mein Reich oder besser gesagt, das meines Bruders, ihr habt hier kein Recht. Ihr habt nicht einmal das Recht hier zu sein." Keine Spur von Verunsicherung liegt mehr in seiner Stimme.
Die erste und die letzte Reiterin werfen sich einen Blick zu. Schließlich nickt die erhabene Göttin auf dem elendigen Pferd ihrer Begleiterin zu.
"Wenn Brüder gegen Brüder kämpfen, wenn Recht mit Unrecht beantwortet wird, dann haben wir jedes Recht hier zu sein", antwortet ihm diese und schüttelt den Kopf. "Es hat lange schon begonnen. Es lässt sich nicht mehr aufhalten", fügt sie hinzu.
"Ihr habt hier keine Macht", braust Erit erneut auf und stemmt die Hände in die Hüften.
"Du weißt, wer wir sind", entgegnet jetzt doch die vierte Reiterin. "Genug! Kein Sterblicher wird seinem Schicksal entkommen. Da werden wir die Unsterblichen erst recht nicht davonkommen lassen."
"Aber ihr habt hier keine Macht in einem fremden Reich", trotzt Erit mit der Stimme eines bockigen Kindes.
"Wir haben hier jede Macht", mischt sich nun auch die dritte Reiterin ein, auch wenn sie mich noch immer skeptisch anschaut. Mir wird bewusst, was für ein Bild ich bieten muss. Gefesselt, zerschunden. Die Hose fleddert um meine Knöchel und mein Shirt ist zerrissen. Kein Anblick für Götter.
Aber die Göttin hebt nur ihre Hand und im nächsten Augenblick sind meine Fesseln verschwunden und meine Fetzen haben sich zu einer einfachen Tunika verwandelt, die nur von einem Gürtel gehalten, lose um meinen Körper fließt.
"Steig auf", sagt sie und streckt mir die Hand entgegen, während Erit japst, wie ein Fisch auf dem Trockenen.