Der Kuppelsaal ist kaum wiederzuerkennen.
Die Lesesessel und Schreibpulte mitsamt den darauf gestapelten Büchern und Schriftrollen sind verschwunden. Sie haben Platz gemacht für ein Halbrund aus Stühlen, Bänken und einem Rednerpult.
Vor dem steht Hekate in einem schlichten Kleid, ihr langes Haar quillt unter einem Kopftuch hervor und auf ihrem Hals liegt ein Medaillon an einer Kette. Sophia tritt auf sie zu und die beiden Göttinnen beginnen ein Gespräch.
"Geht es dir gut?", wipsert Aljan an meiner Seite und führt mich nach rechts zu einer noch leeren Bankreihe.
"Mir geht es gut. Dir auch?"
Er nickt und rutscht ein Stückchen näher zu mir heran. "Jetzt wird alles geregelt."
Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. Über uns dreht sich das Sternengewölbe der Kuppel. Heute erscheint er mir schneller als sonst zu rotieren. Wir sind nicht die ersten Anwesenden, überall sitzen oder stehen Götter und Göttinnen einzeln oder in kleinen Grüppchen auf den Stühlen und Bänken.
Ich erkenne Hel mit ihrem zweigeteilten Gesicht und einige Götter und Göttinnen, die ich nicht kenne.
Die vier Reiterinnen haben sich auf vier Stühlen in der ersten Reihe niedergelassen. Erit an Adrasteias Seite. Dahinter Anden, Kolmas und drei weitere Brüder. Unverkennbar an ihrer Austrahlung und ihrer Körperhaltung. Auch wenn mir die Blicke nicht entgehen, die sie durch den Saal gleiten lassen.
Schließlich betritt ein Mann in abgewetztem Umhang den Mittelgang. Ihm folgt ein riesenhafter Hund mit rotglühenden Augen an einer Kette. Brav trottet er seinem Herrchen hinterher, legt sich zu dessen Füßen in der erste Reihe nieder.
Auch Odin und Frigga treten ein und nehmen Platz.
Schließlich klopft Hekate mit einem langen Gegenstand aus Gold gegen das Rednerpult und die Gespräche verstummen.
"Mir als allwaltende Muttergöttin steht es zu, die weibliche Seite zu repräsentieren, in der wir alle miteinander vermengt sind. Perspehone", sie nickt einer dunkelhaarigen Schönheit im Publikum zu, "Gaia, Rhea, Isis, Hel, Athene, Sophia, Frigga und so viele mehr von uns. Wir vertreten die Seite der Ankläger, da uns Unrecht angetan wurde. Aber da schwarz nicht ohne weiß sein kann, Tag nicht ohne Nacht und Leben nicht ohne Tod existiert, und was einmal geschah, sich nicht noch einmal wiederholen darf", sie unterbricht ihre Worte, um die anwesenden männlichen Gottheiten zu beobachten, ehe sie fortfährt, "steht mir Zeus als All-Vater zur Seite."
Unter Applaus und Zurufen erhebt sich der griechische Göttervater, ganz in weiß gekleidet, mit einem prächtigen Vollbart und nimmt seinen Platz neben Hekate ein. Er überragt sie um eine Haupteslänge.
"Als Verkörperung ein und derselben Urmacht vertrete ich die männliche Seite, damit das Gleichgewicht gewahrt wird und spreche für Jahwe, Re, Osiris, Brahma, Vishnu, Shiva, iZanagi, Ninki, Papa, Odin und viele andere von uns, die heute anwesend sind." Seine tiefe Stimme füllt den Kuppelsaal aus, während Planeten und Gestirne über unseren Köpfen rotieren.
Auf einen Wink der beiden Urgötter tritt Nemesis vor.
"Ich klage an, Erit Belial, erster Höllensohn in Vertretung des verschiedenen Höllenfürsten Tenebris. Er hat sich zu verantworten für Vatermord, Diebstahl, Frevel, Hochmut und die Gefährdung des göttlichen Gleichgewichts."
Erit sitzt wie versteinert auf seinem Stuhl.
"Ich rufe auf als erste Zeugin, Sophia, die allumfassende Göttin der Weisheit."
Auf einen Wink von Nemesis erhebt sich Sophia.
"Erzähle uns von Tenebris Tat."
Sophia räuspert sich. "Als Hüterin der Weisheit steht es mir zu, die göttlichen Reliquien aufzubewahren. Dieser Aufgabe komme ich seit Tausenden von Jahren nach. Nie wurde auch nur eine der abertausenden von Abschriften und Schriftrollen verlegt. Ich hüte und pflege sie wie es meinen kostbarsten Schätzen gebührt. Umso erzürnter war ich, als ich erfuhr, dass Tenebris einen meiner Schätze entwendet und durch eine Kopie ersetzt hat."
Ein Aufschrei geht durch das Publikum.
"Worum genau handelt es sich dabei?", fragt Zeus.
"Um ein Duplikat des Buchs der sieben Siegel."
Selbst Zeus und Hekate vereint, haben nun Probleme das Raunen und Gemurmel der Anwesenden im Saal zu unterbinden.
"Wo befindet sich das Original jetzt?", erkundigt sich Zeus, als allmählich wieder Ruhe einkehrt.
"Es ist wieder an seinem angestammten Ort, nachdem es Aljan auf mein Verlangen hin zurück gebracht hat."
Mehr als nur ein paar Götteraugen wenden sich nach dem Höllenprinz an meiner Seite um und streifen dabei auch mich mit flüchtigen Blicken, woraufhin ich unweigerlich tiefer in meinen Stuhl sinke. Irgendwie betrifft mich diese Prophezeiung auch und ich weiß noch immer nicht wie. Ich fange Sophias Blick auf und entdecke ein Lächeln, als ob auch sie meine Gedanken lesen könnte.
"Intakt?" Zeus hingegen hat nur Augen für Sophia.
Die schüttelt den Kopf. "Die Buchrolle wurde geöffnet, das siebte Siegel wurde gebrochen."
Dieses Mal geht ein Aufschrei durch das Publikum, woraufhin Zeus streng die Hand hebt und mit einem gezackten Gegenstand gegen das Rednerpult donnert.
"Dann wird eintreten, was die Offenbarung besagt." Er nickt den vier apokalyptischen Reiterinnen der Reihe nach zu.
Es ist Nemesis, die spricht. "Die Vision erfüllt sich. Die Verbannten verlangen ihr Gericht und wir dürfen es nicht länger verwehren."
Zeus nickt und wendet sich Sophia zu.
Danach unterzieht er Erit einer scharfen Musterung. "Erheb dich. Auch dir steht es zu, dich zu den genannten Vorwürfen zu äußern. Da du jetzt an Stelle deines Vaters stehst."
Ein ziemlich mitgenommener Erit erhebt sich. "Ehrwerter Göttervater, mit den Machenschaften und Diebstählen meines Vaters habe ich nichts zu schaffen. Die meiste Zeit seiner Herrschaft verbrachte ich auf der Erde. Ich kann dazu nichts sagen, wohl aber mein Bruder Aljan Luzifer."
Zeus mustert Aljan mit einem flüchtigen Blick, aber ehe Aljan sich erheben kann, schüttelt er den Kopf und macht eine wegwerfende Handbewegung.
"Die Buchrolle ist wieder an Ort und Stelle. Dass das Siegel gebrochen wurde, lässt sich nicht mehr ungeschehen machen. Damit ist der Angeklagte in Vertretung seines Vaters des Diebstahls und Frevels schuldig, da der aber nicht mehr als Lebender unter uns weilt, vertagen wir die Entscheidung einer angebrachten Entschädigung von seinen Erben auf später. Heute stehen noch wichtigere Punkte an." Er fordert Sophia auf, weiterzusprechen.
"Der Inhalt des siebten Siegels hat uns einen Namen offenbart." Die Götter und Göttinnen halten gespannt den Atem an, während meine Wangen vor Hitze verglühen. Aljans Finger legen sich auf meinen Unterarm. Sophias Blick sucht mein Gesicht. Sie nickt mir zu und ich versinke noch tiefer in mein Sitzpolster. Wenn Aljans Berührung nicht wäre, würde ich vermutlich vom Stuhl rutschen.
"Den Namen eines Erdenmädchens. Sie weilt heute unter uns", spricht Sophia in die angespannte Stille. "Dalerana Jordbarn."
Mit einer Geste gibt sie mir zu verstehen, dass ich aufstehen soll. Aljan zieht seine Hand zurück und ich folge der Aufforderung mit wackeligen Beinen.
Alle Blicke sind auf mich gerichtet. Die Götter begutachten mich. Mustern mich. Fällen ein Urteil. Ich kann nur geradeaus starren und mit mich mit Mühe und Not auf den Beinen halten. Dann fängt Hekate meinen Blick auf und lächelt mir zu. Wissend, wie es eigentlich Sophia zusteht.
"Ich denke, wenn uns eine aufklären kann, was es damit auf sich hat, dann du, Sophia."
Die Göttin der Weisheit überbrückt die wenigen Schritte zu Hekate und die beiden sprechen eine Weile leise miteinander. Allmählich beruhigt sich mein Herzschlag wieder. Auch meine Beine finden wieder Halt auf dem Boden, aber ich weiß immer noch nicht, wohin ich meine Hände packen soll. Während Hekate und Sophia Worte wechseln, versuche ich im Mienenspiel der beiden zu lesen. Mal glaube ich, den Anflug eines leisen Lächelns auf Sophias Gesicht zu erkennen, dann ist es Hekate, die schmunzelt. Dann folgt ein ungläubiger Blick Sophias in meine Richtung, als Hekate etwas sagt.
Auch Aljan ist dieser Schlagabtausch wahrscheinlich genauso wenig entgangen wie meine Nervosität.
"Sophia ist im Laufe der Geschichte als viele verschiedene Göttinnen erschienen. Manchmal offen und herrlich wie Isis, Athene, Demetor oder Schekinah, manchmal so versteckt und demütig wie die heilige Jungfrau Maria", flüstert er mir zu. "Und Hekate ist die Göttin vieler Dinge."
Seine erklärenden Worte erden mich. Ein kleines Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Wenigstens verfolgen die meisten der anwesenden Götter inzwischen ebenfalls das Hin und Her der beiden.
Schließlich klatscht Hekate in die Hände. "Dann verrate uns doch, was du mir gerade dargelegt hast, Sophia", bestimmt sie.
Sophia lächelt und wendet sich mir zu.
"Was für einen Zweck erfüllt das Jenseits, wenn es kein Diesseits gibt? Dem Tod fehlt das Leben. Was Tenebris geschaffen hat, war nicht rechtens. Es war einseitig und ein Abklatsch dessen, was hätte sein sollen. Nur wenn dieses Unrecht berichtigt wird, kann der Verfall aufgehalten werden und dem Totenreich zu neuem Glanz verholfen werden. Darin besteht deine Aufgabe Dalerana. Und ich glaube zu wissen, wie du sie erfüllen wirst."