Brot und Spiele.
Wenn ich das schon hörte, zog sich bei mir alles zusammen. Denn im Klartext bedeutete es bei uns an der Schule nichts weiter als Sportfest. Und das war, seit ich in der Schule war, der schlimmste Tag des ganzen Jahres.
Ich war noch nie ein sportlicher Typ, mogelte mich immer gerade so mit einer Drei oder Vier durch und schämte mich dafür, dass ich die einfachsten Übungen nicht bewältigen konnte.
Ich überspielte das mit meiner großen Klappe, lachte mich selber aus, damit es nicht so unangenehm war, wenn andere über mich abfeierten.
Und wie jedes Jahr versuchte ich auch an diesem Tag, die Schule einfach ausfallen zu lassen.
Meine Mutter sah das selbstverständlich anders, denn ich sollte schließlich etwas für meine Gesundheit tun. Und für meine Noten.
Tolle Unterstützung, Mutter! Von wem hatte ich wohl meine ungelenken Gliedmaßen?
Niedergeschlagen und mit einer Miene wie 10 Tage Regenwetter radelte ich also zum Ort meiner Erniedrigung, zog mich mit meinen Mitschülern um und harrte der Dinge, die da kommen würden.
Der Sportplatz lag in der prallen Sonne, kein Baum spendete Schatten und alle ächzten beim Gedanken daran, dass wir dort bis 15 Uhr aushalten mussten.
»Willkommen beim diesjährigen Sportfest«, unser feister Schulleiter stand in Shorts vor der gesamten Schülerschaft und zeigte allen das, was niemand sehen wollte. Blaue Krampfadern unter sandfarbend beharrten Beinen. Schrecklich.
Warum blieb er nicht bei einer langen Hose?
»Auch dieses Jahr haben wir viele spannende Disziplinen für euch aufgebaut und die Besten unter euch können selbstverständlich wieder einen Pokal gewinnen!«
Ganz toll.
Ich hörte diesen Satz mittlerweile zum 12. Mal und hatte noch niemals selber einen dieser „heiligen Grale“ in den Händen gehalten. Als ich noch in der Grundschule war, gab es für die schlechtesten Schüler Trostpokale. Ja, so einen hatte ich zuhause. Aus irgendeinem Grund hatte ich das hässliche Ding nie weggeworfen.
Die Lehrer scheuchten uns nun wie Schlachtvieh auf den Sportplatz und wir stellten uns klassenweise auf. Meine fing mit Kugelstoßen an.
Auch eine schöne Sache. In der 8. hatte ich mir mit so einem Ding mal die Schulter ausgekugelt. Und auch diesmal – ich war mittlerweile kräftiger – lag meine Bestleistung gerade mal bei etwas über zweieinhalb Metern.
»Das war ok, Marcus«, ich konnte den sarkastischen Unterton meines Sportlehrers deutlich hören, zuckte die Schultern und ließ meinen Hintermann seinen Zug machen. Mir war eh alles egal.
Angefressen schmiss ich mich auf den Rasen und betrachtete meine Mitschüler, die alle fast mühelos Weiten von bis zu 7 Metern erreichten. Ich fragte mich, was die anders machten als ich. Viele davon waren nicht kräftiger als ich. Aber sogar die Mädchen waren besser.
Müde seufzte ich. Das kratzte dann doch etwas an meinem Ego...
Ich betrachtete die Mädchen, die in einer Traube neben mir saßen und kicherten. Ob sie wohl über mich lachten? Ich wusste es nicht und würde mir lieber die Zunge abbeißen als zu fragen. Ich war eh schon eine Lachnummer.
Die einzige Disziplin, die mir lag, war der Staffellauf. Ich war groß und dünn und konnte rennen wie ein Windhund.
Mein Team gewann den Lauf, was mein Selbstbewusstsein wenigstens ein bisschen pushte. Dennoch gab es eben auch da Leute, die mich toppten.
Ich will hier nicht wie ein jammeriger Kindergartenjunge klingen, aber ich war 18 Jahre alt und hatte nie in einer anderen Disziplin glänzen können als Mathe. Ich war ein Nerd.
Das war schon irgendwie nervig und ich hatte während des ganzen Sportfestes das Gefühl, dass jede meiner Bewegungen verfolgt wurde.
Bei der Disziplin Fußball wurde ich so oft gefoult, dass ich irgendwann aufhörte, zu zählen, wie oft ich Gras im Mund hatte.
Ein bisschen mehr noch und ich würde kein Frühstück mehr brauchen!
»Mensch, Marcus«, nölte mich der Mannschaftskapitän Fabian an und schaute genervt. »Mit dir im Team werden wir verlieren. Willst du dich nicht auswechseln lassen?«
Ja, so war das immer. Die Sportskanonen sonderten die Rechengenies gnadenlos aus.
Ich nickte nur, sagte dem Lehrer Bescheid und nahm auf der Bank Platz. Ich hatte schlichtweg keinen Nerv, mich von dem Spacken weiter anmachen zu lassen. Auch wenn mein Rückzug feige war.
Erschöpft, schwitzend und hungrig saß ich am Spielfeldrand und hoffte nur, dass die Zeit vergehen würde, damit dieser schrecklichste aller Tage zu Ende gehen würde.
Wieder lag mein Blick auf den Mädchen, die ein Stück von mir weg saßen.
Würde eine von ihnen sich wohl von einem Jungen beeindrucken lassen, der zwar schlecht in Sport war, aber jedes Jahr die Mathe-Olympiade gewann?
Wohl eher nicht.
So mogelte ich mich wie immer überall mehr schlecht als recht durch, erhielt unterdurchschnittliche Wertungen und mitleidige Blicke meiner Lehrer, wenn ich in meiner Ungeschicklichkeit hinfiel und mir irgendwas aufschürfte, und die Zeit tickte von der Uhr.
Zwischendrin wurde eine Mittagspause abgehalten, in der alle Schüler unentgeltlich von der Schulküche ein anständiges Mittagessen bekamen. Das war das “Brot“ in „Brot und Spiele“.
Die letzte Disziplin des langen Tages war der Weitsprung. Unnötig zu sagen, dass ich den auch hasste? Ja.
Denn ich hasste es, Sand im Schuh zu haben und wenn man den Sand in die Unterhose bekam, war es unmöglich, Fahrrad zu fahren, das sage ich euch.
Meine Mitschüler und ich stellten uns also in einer Reihe auf, nach Jungen und Mädchen getrennt und da mein Nachname mit einem Z begann, war ich wie immer der Letzte.
Was bedeutete, dass jeder am Rand stehen würde und glotzte. Das half meinem Selbstbewusstsein auch nicht weiter...
Ich bewunderte die leichtfüßige Eleganz, mit der die Mädchen sprangen, und mein Blick blieb wie so oft an einer ganz bestimmten Person hängen. Eine, die sicher nicht auf Mathematiker stand.
Ich seufzte, als der Schuss fiel und ich an der Reihe war. Eigentlich sollte mir diese Disziplin rein gar nichts ausmachen. Weitsprung war reine Mathematik, aber mein Körper verstand sich nicht mit meinem Gehirn. Während dieses nämlich exakt berechnete, wie viele Schritte ich in welchem Abstand machen musste, dachte mein Körper sich das anders.
Ich sprang also, hatte zuviel Schwung auf dem Brustkorb und landete mit dem Mund voran im Sand.
Natürlich zählte das nicht, es wurde ab meinen Knien gemessen und ich war noch nie so unterirdisch schlecht wie an diesem Tag.
Meine Laune hatte sich gegessen. Sauer auf mich und auf die Welt und sogar auf meine geliebte Mathematik, putzte ich mich ab und setzte mich in den Schatten.
Sollten sie doch ihren Kram alleine machen.
Dies war sowieso das letzte Sportfest meines Lebens. War ich mit der Schule fertig, würde ich höchstens noch Fahrrad fahren, wenn es notwendig war.
“Brot und Spiele“, dass ich nicht lache. In meinem Magen vermischte sich der gefressene Rasen vom Fußballspiel mit dem Möhreneintopf vom Mittag und dem Sand aus der Weitsprunggrube. Ich war satt und ich war bedient.
Als der Schuss fiel, der das diesjährige Sportfest beendete, gesellte ich mich wieder zu meiner Klasse.
Einige zogen mich auf, wie immer, andere foppten mich fast bösartig, aber ich war es nicht anders gewöhnt.
Morgen war ich wieder Marcus Zadeck, der Matheprimus, und alles war vergessen.
Trotzdem nagte es wie jedes Jahr an mir, unter den Schlechtesten zu sein und ich betrachtete mit leisem Neid die Leute, die es schafften, einen Pokal zu ergattern. Es gab für jede Disziplin einen und wer einen bekam, war in dieser Sportart der Beste der Schule.
Ich seufzte erleichtert, als endlich alles vorbei war und machte mich auf den Weg zu meinem Fahrrad. In der Umkleide hatte ich mich von jedem einzelnen störenden Sandkorn befreit.
Sport würde für immer mein Feind und ein Mysterium bleiben, denn mein Gehirn und meine Muskeln lagen nicht auf einer Wellenlänge.
Ebenso wie ich und die Mädchen.
Ich schob mein Rad unter dem Verschlag hervor und wollte gerade aufsteigen, als sich die Stimme eines Mädchens in mein Gehör drängte.
»Hallo Marcus. Wollen wir zusammen nach Hause gehen?«
Pech im Spiel, Glück in der Liebe, so heißt es doch, oder? Nun, die Spiele hatte ich verloren, aber vielleicht hatte ich dafür etwas anderes gewonnen.
~~ ENDE ~~