Die Rohfassung meines Texts zur Sixty-Minutes-Challenge
***
Der Kommodore steht breitbeinig am Bug der Fregatte, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Goldene Insignien zieren das Revers seiner Uniform. Er trägt kein Barrett. Sie segeln mit hoher Geschwindigkeit im aufkommenden Sturm. Der Wind fegt so laut über das Deck, dass ein ohrenbetäubendes Rauschen alle weiteren akustischen Eindrücke überdeckt.
Es ist einerlei, die Mannschaft aus fünf Gefreiten, zwei Korporals, einem Leutnant und einem Major wissen, was sie zu tun hat. Die Segel sind zum Zerreißen gespannt, und unter ihrem gewaltigen Zug knarren die Masten gequält. Es existiert kein Schiff, das für solche Bedingungen geschaffen ist, aber es muss nicht mehr als fünf oder zehn Minuten durchhalten. Das ist alle Zeit, die sie benötigen. Unter der Fregatte rast die Landschaft in monochromem grau vorbei. Karge Felsen, dazwischen tiefe Schluchten, das Grenzgebiet zwischen seinem Heimatland und dem des Feindes.
Mit einem peitschenden Knall reißt eines der Taue, das als Teil der Takelage zur Versteifung eines der Masten dient. Die Enden des dicken Seils peitschen mit tödlichem Impuls über das Deck. Einer der Männer steht im Weg und wird von dem Geschoss geköpft. Sein Körper prallt gegen die Reling und bleibt schlaff auf den Planken des Decks liegen.
Der Kommodore richtet den Blick wieder nach vorn. Die Bergkette, auf die ihr Schiff zuhält, wächst schneller in die Höhe, je näher sie ihr kommen. Ein gewaltiges Rucken geht durch die Fregatte, und ihr Korpus aus Holz und Metall kreischt gequält auf, als sie kurz in den freien Fall geht. Der Kommodore krallt sich an die Reling und verliert kurz den Boden unter den Füßen. Ein Blick über die Schulter zeigt ihm, dass die drei Offiziere am Steuerrad die Kontrolle schnell wiedererlangen. Der Sturm verursacht Instabilitäten im Äther-Netz. Diese Gefahr ist größer als der starke Wind, und ihre einzige Chance, dem Feind einen tödlichen Stoß zu versetzen.
Auf einem der niedrigeren Bergplateaus zeichnet sich inzwischen deutlich die Silhouette der Werft ab, an der die größten, die schnellsten und die schwersten Kriegsschiffe der feindlichen Flotte vor Anker liegen, während die Fluktuationen im Äthernetz aufgrund des Unwetters bestehen. Niemand ist so lebensmüde, einen Flug während eines Sturmes zu riskieren, und die Chance, die Werft zu erreichen, bevor die Fregatte zu viel an Höhe verliert und an der Bergwand zerschellt, schätzt der Kommodore auf 90 Prozent ein.
Noch sind sie auf Kurs. Eine massive Bö rammt wie eine Faust in eines der drei Hauptsegel und reißt es aus der Takelage. Das Schiff bockt erneut, und dieses Mal schleudert die Wucht den Kommodore halb über die Reling. Mit aller Kraft zieht er sich zurück an Deck und nimmt wieder Position ein. Die Luftwaffe seines Landes ist so gut wie zerstört. Der Feind hat den Stellungskrieg gewonnen, mit überlegenen Schiffen und Kanonen. Der letzte verzweifelte Schlag, der noch bleibt, ist ein Vorstoß über die feindliche Linie, zu einem Ufer, das seine Armee noch nie betreten hat.
Wenn der Schlag gelingt, zerstören sie so die wichtigste Werft des Feindes und beinahe die gesamte kriegstaugliche Flotte auf einen Schlag. Das würde eine grundlegende Wende in einem Krieg bedeuten, dessen Kriegsmaschinerie auf Grundlage des Äthernetzes agiert. Sobald diese Technologie wegfällt, bleibt nur noch der Kampf zu Land. Die Kavallerie und Infanterie seines Landes sind stark, und der Feind hat sein eigenes Militär während der letzten Jahrzehnte so auf die Luftschifffahrt getrimmt, dass er nichts entgegenzusetzen hat. Keine Pferde, kaum Fußsoldaten.
Die Werft kommt näher. Der Wind heult in seinen Ohren, aber nur noch dumpf, wie durch Wasser. Er kann die Landungsbrücken erkennen und den Kontrollturm. Gestalten rennen auf Stegen entlang und besetzen Schiffe, die vor Anker liegen. Zu spät.
Noch einmal sinkt die Fregatte in freien Fall, aber sie sind am Ziel. Aus dem Augenwinkel sieht er, wie seine Männer das Dynamit zünden und durch die Luke im Deck in den Schiffsbauch werfen. Mit einem Donnern kollidiert die Fregatte mit der Werft, und die Explosion, die folgt, ist bis weit über beide Flanken der Bergkette hin zu hören.