Sixty-Minutes-Challenge am 08.03.2020
Der Schütze atmet langsam und tief. Heben und Senken seines Brustkorbs sind kaum wahrnehmbar. Er steht so still im Unterholz, dass selbst die Rotdrosseln sich bis auf eine Armlänge an ihn herantrauen. Seine Rückenmuskeln verhärten sich, als der Gegenzug der Bogensehne sie zu ermüden beginnt. Er hat nur noch wenige Sekunden bevor seine Arme zu zittern anfangen. Dann wird ein zielsicherer Schuss unmöglich werden. Die Zugkraft seiner Waffe ist weit über der Norm, selbst für trainierte Schützen, aber die Beute, die er erlegen will, erfordert ein Durchschlagvermögen, die ein normaler Langbogen nicht aufbringen könnte. Seine Aufmerksamkeit ist auf die andere Seite des Grabens gerichtet. Dort liegt felsiges Terrain, und die Vegetation weniger dicht. Bodendecker kriechen über Kalkstein, und dürre Nadelhölzer graben ihre Wurzeln zwischen flachen Felsen in den Grund.
Der Fokus des Schützen liegt auf einer massigen Gestalt, die sich mit schweren Schritten entlang des Steilhangs bewegt. Ihr Oberkörper ist leicht nach vorn gebeugt, und die Wirbel ihres Rückgrats ziehen sich deutlich sichtbar und wie Mondsicheln gebogen vom Nacken bis zum Steißbein hinab. Der Schütze taxiert die Gestalt aus schmalen Augen und erkennt in ihrer geballten Faust etwas, das ihm bestätigt, wen er vor sich hat. Ein abgetrennter Kopf klemmt zwischen knotigen Fingern. Die Hand ist so groß, dass sie den Schädel zur Hälfte umschließt, aber der Schütze erkennt dennoch ein spitzes Ohr und zwei Reihen perfekter Zähne, die zwischen im Tod gebleckten Lippen aufblitzen. Die Bogensehne vibriert und singt, als er sie entlässt. Sie springt nach vorn und katapultiert den armlangen Pfeil über den Graben. Die Spitze bohrt sich in den gedrungenen Hals der Beute. Ein tiefes Heulen entfährt der Kreatur. Sie bäumt sich auf, lässt den abgetrennten Kopf zu Boden fallen und greift nach dem gefiederten Schaft, der aus ihrem Hals ragt. Sie reißt ihn heraus und ein Loch in ihr Fleisch, als Haut, Knorpel und Organgewebe am Widerhaken der Spitze hängenbleiben. Eine Blutfontäne spritzt hervor, aber als die Kreatur auf die Knie geht und mit dem Gesicht voran zu Boden kippt, sickert das Blut nur noch als steter Strom aus der Wunde. Der Schütze lässt den Bogen sinken.
Es dauert nicht lange, und andere Kreaturen versammeln sich um die Tote. Sie haben dieselbe Statur. Dieselben breiten Schädel, tiefliegenden Augen und grotesk muskulösen Glieder. Sie treten an den Rand des Steilhangs und sehen zum Wald hinüber. Ihre Aufmerksamkeit ist ihm sicher. Der Schütze tritt aus seinem Versteck und erwidert ihre Blicke. Zwei von ihnen greifen die Tote an den Armen und schleifen sie fort. Nach einigen Augenblicken folgt der Rest ihnen schweigend. Der Schütze lehnt seinen Bogen gegen einen Baum und beginnt, die Böschung hinabzuklettern.
„Was machst du da?“ Eine junge Stimme, weiblich, melodiös. Die Frau kommt jetzt ebenfalls aus ihrer Deckung hervor und schaut ihn besorgt an. Sie gehört zu dem Stamm, der seinen Orden um Hilfe gerufen hat. Um ihnen beizustehen ist er fünf Tage und fünf Nächte gereist, hat sich ihre Notlage schildern lassen und auf die Jagd begeben. „Ich hole den Kopf, damit ihr ihn bestatten könnt“, erklärt er. „Was, wenn die Oger zurückkommen? Sie werden dich töten.“ Er deutet ein Kopfschütteln an. „Nein. Sie würden ihre eigenen Leute für einen Mord an den unseren nicht hinrichten, aber sie erkennen an, dass diese Oger-Frau mehrfach Elfen angegriffen und getötet und so das Gesetz gebrochen hat. Unsere Antwort darauf ist rechtens. Ihr Clan wird sie respektieren, und damit die Statuten des Friedensabkommens zwischen unserem Volk und ihrem.“ Die junge Frau sieht ihn zögerlich an. Ihre Augen und ihr Haar sind etwas dunkler als seine, die Nase schmaler und kleiner, wie für die Sippen an den Westfjorden üblich. Nach kurzem zögern nickt sie und lässt sich im Schneidersitz auf dem weichen Moos nieder, das einen sattgrünen Teppich zwischen Tannen und Farnen bildet.
Er spürt ihren aufmerksamen Blick auf sich als er in den Graben hinabsteigt, die Wand auf der anderen Seite erklimmt, den Kopf des letzten Opfers in ein Tuch aus feinem Garn schlägt und zusammen mit seinem Pfeil an seinem Rückengurt befestigt. Er spürt ihre Aufmerksamkeit auch noch auf sich, als er den Rückweg antritt, seinen Bogen wiederaufnimmt und mit ihr durch den Wald zurück zu der Stelle wandert, an der sie ihre Pferde angebunden haben. Er befestigt seine Ausrüstung am Packsattel und steigt auf. Sie folgen schweigend dem gewundenen Pfad am Waldrand und erreichen bald die Flussaue, an der die ansässige Sippe ein Dorf aus Rund- und Baumhäusern errichtet hat.
Als sie zum Dorfplatz gelangen, sind die Bewohner bereits versammelt und erwarten still die Ankunft des Schützen. Sie stehen im Halbkreis um ihn herum auf dem Gras und über ihm auf den Holzstegen, die ein Netzwerk zwischen den starken Ästen der Bäume bilden. Ihre Aufmerksamkeit ist dem Schützen gewiss. Er steigt vom Rücken seines Pferdes und löst das Tuch von seinem Gurt. Der Kopf war schon lange ausgeblutet bevor er ihn geholt hat und hat die Fasern nicht beschmutzt. Er reicht ihn dem Dorfvorsteher ohne Erklärung. Dieser nimmt das Bündel entgegen, wiegt es behutsam in den Händen und senkt langsam den Kopf. Eine klare Melodie entströmt seinen Lippen. Die Worte bedeuten Abschied und Trost. Die junge Frau, die ihn begleitet hat, gleitet vom Rücken ihres Pferds und fügt sich in die Reihen ihrer Sippe ein, die ebenfalls die Köpfe gesenkt und die Augen geschlossen hat und in das Lied ihres Hirten einstimmt.
Der Schütze nimmt die Zügel seines Pferds und führt es schweigend aus dem Dorf. Hinter ihm verblasst der Gesang und wird schließlich vom Plätschern des kleinen Stroms übertönt, dessen ruhiger Wasserlauf ohne Hast dem Weg aus den Bergen hin zu größeren Gewässern folgt. Erst, als der Schütze den befestigten Weg erreicht, der von Fluss und Auwald fort ins Landesinnere führt, steigt er in den Sattel und lässt sein Tier in ein gemächliches Tempo fallen.