Im Bademantel schlurfte Johanna um zwei Uhr früh durch ihre Wohnung.
Die 35-Jährige konnte mal wieder nicht schlafen. Die Gedanken überschlugen sich und wetteiferten um ihre Aufmerksamkeit.
Würde morgen alles glatt gehen bei der Präsentation?
Kommendes Wochenende war sie wieder dran, Tim zu nehmen. Achja, die Scheidungspapiere mussten auch noch unterzeichnet werden.
Wer war der süße, blonde Typ gestern in der Cafeteria gewesen? Hätte sie sich bloß getraut, nach seinem Namen zu fragen. Obwohl sie überlegte, ob sie überhaupt nochmal dort Kaffee holen würde. Die hatten da immer noch Pappbecher.
Wenn die Regierung weiterhin die Augen vor der Klimaerwärmung verschloss und Wirtschaftsbossen aus der Hand fraß, würde es bald echt ungemütlich auf der Welt werden.
Verdammt, die Balkonblumen! Sie hatte völlig vergessen, sie zu giessen.
So leise wie möglich öffnete sie den Rollo und die Balkontüre, schlich hinaus und gab den armen Blümchen Wasser. Sie glaubte beinahe sehen zu können, wie diese aufatmend gierig alles in sich aufsogen.
Wasser wurde auch knapp. Erst gestern hatte sie auf Twitter gelesen, wie schlimm die Dürre in Europa dieses Jahr wäre. Und die Kohlekraftwerke liefen auch immer noch.
Wenigstens konnte sie behaupten, persönlich etwas gegen den Klimawandel zu unternehmen. Sie achtete zumindest so gut es ging darauf ihren ökologischen Fußabdruck zu verringern.
Johanna sah im Vorbeigehen auf die Uhr an der Wand in der Küche.
Schon halb drei. Und von Müdigkeit oder Schlaf konnte keine Rede sein.
Das wäre alles halb so schlimm, wenn sie nicht genau wüsste, dass sie sich morgen wieder wie gerädert fühlen würde.
Und das ausgerechnet an dem Tag, an dem diese wichtige Präsentation war! Wenn sie das vermasselte, wäre die Arbeit von einem halben Jahr für die Katz. Es musste einfach eins A laufen.
Langsam begann die Situation sie zu stressen. Sie dachte nach, was ihr das letzte Mal geholfen hatte.
Einmal hatte sie versucht übers Lesen einzuschlafen. Das ging voll nach hinten los. Das Buch war so spannend. Erst als der Wecker klingelte, erkannte sie wie spät es war.
Ein anderes Mal probierte sie es mit dieser Teemischung "Schlummertrunk" aus der Apotheke. Hätte sogar ganz gut funktioniert, wenn sie nicht nach etwa zwei Stunden wieder aufgewacht wäre, weil sie so dringend aufs Klo musste.
Und dann fiel ihr die Lösung ein.
Auch wenn ihre Nachbarn sie dafür hassen würden, aber es half nichts.
Sie packte die Playstation aus, legte ihre Lieblings-SingStar-CD ein und trällerte einen Song nach dem anderen. Morgens um 3. Auspowern was geht und hoffen, dass der Körper kleinbei gibt und die Müdigkeit kam.
Es wunderte sie zwar ein wenig, wie geduldig Justine und Bernd waren, aber dann fiel ihr ein, die beiden waren ja gar nicht da. Urlaub im Schwarzwald. Die Glücklichen.
Ein wenig vom Neid zerfressen war sie deshalb ja schon. Das junge Paar von nebenan fuhr ständig für ganze Wochenenden weg und erzählte danach von all den wunderbaren Sachen, die sie gesehen und erlebt hatten.
Schließlich griff sie zum letzten Mittel, um den Schlaf herbei zu locken.
Es war bereits halb vier. Johanna hatte die Flasche Wein innerhalb von Minuten alleine vernichtet.
"DasschnnennnischeinenSchschschlummmmertrunk!" Sie prostete sich selbst zu, fiel aufs Bett und war weg.
*
Das Ticken des Weckers direkt neben ihren Ohren dröhnte in ihrem Kopf wie Hammerschläge.
Von einer Sekunde auf die andere war Johanna hellwach. Sie sah auf die Uhr. Halb elf?!
Panik ergriff sie. Die Präsentation begann um elf und sie lag hier im Bademantel und mit Kater auf dem Bett herum. Ihr war zum Heulen zumute.
Warum war ihr doofer Wecker nicht gegangen? Sie hatte ihn auf sieben Uhr dreissig eingestellt. Er war digital und Funkuhrgesteuert. Was war nur schief gelaufen?
Ein aberwitziger Gedanke kam ihr und sie musste lauthals auflachen, als sie ihren Verdacht auf der Digitalanzeige bestätigt sah.
Uhrzeit: 10:38 Uhr
Temperatur: 21° C
Luftfeuchtigkeit: 45 %
Datum: 05.07.20
Wochentag: Sonntag