Es war ein drückend heißer Nachmittag mitten im Juli, der Asphalt flimmerte schon und die Luft war zum Schneiden dick. Trotzdem hatten sich meine Freundin und ich dazu entschlossen an diesem Freitag ein bisschen in der Stadt bummeln zu gehen.
Die Umstände erforderten ein hübsches Outfit, denn Nina hatte am nächsten Abend ihr erstes Date und in ihrem Kleiderschrank befand sich ihrer Meinung nach rein gar nichts, dass diesem Anlass auch nur im Geringsten gerecht wurde. Ich trug eine kurze verwaschene Jeans und ein dunkelblaues Top, meine blonden Haare hatte ich schnell zu einem lockeren Knoten gebunden, und doch schwitzte ich wie in der Sauna.
Wir waren gerade mit dem Bus angekommen und stiegen schnell aus. Die trockene verbrauchte Luft und den penetranten Geruch nach Schweiß und Deodorant konnte man nicht länger als nötig ertragen. Ich hustete prompt und Nina grinste mich an.
"Danke Charly, ich weiß wirklich nicht, was ich ohne dich machen würde. Mein Modebewusstsein ist praktisch nicht vorhanden...", meinte sie zerknirscht und strich sich ein paar ihrer schwarzen Strähnen hinters Ohr.
Ich verdrehte gespielt die Augen.
"So schlimm ist es auch wieder nicht, du übertreibst total. Aber jetzt wo ich schonmal da bin, suchen wir dir das schönste Outfit zusammen, das die Läden hier zu bieten haben. Du wirst so hinreißend aussehen, dass der gute Manuel seine Augen morgen keine einzige Sekunde von dir abwenden kann!", antwortete ich lachend.
Ein rosaner Schimmer huschte über die Wangen meiner Freundin, sie war wirklich bis über beide Ohren verknallt. Ich selber hatte noch keinen Freund, bisher waren mir leider nur unreife Typen über den Weg gelaufen. Ach egal, ich hatte es damit nicht eilig, wir waren schließlich erst sechzehn.
"Na, wir werden sehn...", nuschelte Nina ein bisschen verträumt. "Aber die ganze Zeit über angestarrt zu werden, macht mich sicher verdammt nervös. Und meinen Kopf kannst du dann als rote Warnleuchte benutzen...", jammerte sie. Wie sie so vor sich hinstammelte, war wirklich goldig.
"Chill mal ne Runde, morgen und heute Nacht hast du noch genug Zeit dich verrückt zu machen. Jetzt wird erstmal geshoppt!", rief ich enthusiastisch aus. Ich war Feuer und Flamme.
"Auf geht's, Charly. Und danach geb ich dir ein Eis aus!", meinte meine Freundin grinsend. Ich hatte sie mit meiner guten Laune angesteckt.
Bis zu den ersten Läden mussten wir noch ein paar Straßen laufen. Wir unterhielten uns ein wenig über die Matheaufgabe nächste Woche, aber Nina schwärmte die meiste Zeit über von Manuel. Ich erfuhr, dass er schon seit er klein war in einem Judoverein trainierte und leidenschaftlich gern Minigolf spielte. Auf dem kleinen Golfplatz am Rand der Stadt hatten die beiden sich auch kennengelernt. Seitdem verbrachte Nina jeden freien Nachmittag dort. Selber hatte ich den Kerl erst zweimal gesehen, er war groß und sehr durchtrainiert, hatte dunkelblondes Haar und braune Augen. Er war nett, besaß definitiv Humor und grinste oft, kein Wunder, dass sich meine Freundin auf den ersten Blick in ihn verliebt hatte. Ich zog Nina damit auf, dass sie gleich auf einer der Filzbahnen übernachten könne und handelte mir einen Hieb in die Seite ein. Als sie mich nach Datingtipps fragen wollte, waren wir glücklicherweise schon bei dem ersten Bekleidungsgeschäft angekommen und ihre Aufmerksamkeit wendete sich wieder ihrem größten Problem zu.
"Also los, Charly. Lass uns beginnen.", rief sie entschlossen und stieß die Ladentür auf. Der eigentümliche Geruch von Stoff und Leder stieg mir in die Nase, jetzt gab es kein zurück mehr...
Wir stürzten uns auf die Mädchenabteilung und liefen vollbepackt zu den Kabinen. Nach einer guten halben Stunde hatten wir einen süßen roten Minirock und eine hübsche dazu passende schwarze Bluse gefunden. Erschöpft saß ich auf der Bank neben den Kabinen und fuhr mir durchs Haar, Nina stand bereits an der Kasse. Die Luft hier drinnen war zwar besser als die im Bus, aber nur wenig stickiger. Ich griff in meine schwarze Handtasche und zog eine Plastikflasche mit Wasser heraus. Es war lauwarm, tat aber trotzdem gut, erleichtert atmete ich aus und schraubte die Flasche wieder zu. Wir waren wirklich schnell fündig geworden, der Rock stand Nina prächtig und war ein echter Hinkucker. Jetzt würden wir ihr noch ein paar schöne Accessoires suchen und das Outfit war komplett. Manuel würde seine Augen den ganzen Abend nicht von ihr abwenden können, so viel stand schon jetzt fest.
"Bin fertig, wir können weiter, Charl." Nina stand grinsend neben mir, ich hatte sie gar nicht bemerkt.
"Oh, ja klar, warte noch kurz." Ich ließ die Flasche in meiner Tasche versinken und stand langsam wie ein Roboter auf.
"Ich glaube, du bist jetzt schon bereit für ein Eis, oder?", meinte Nina verschmitzt. Ich sah wohl genauso aus, wie ich mich fühlte.
"Jaa, ich muss hier raus.", stöhnte ich und streckte die Zunge demonstrativ nach draußen. Ich hatte wirklich nichts dagegen nach hübschen Klamotten zu suchen ...aber Hardcoreshopping bei gefühlten 50 Grad waren selbst mir zu viel. Mit pochendem Kopf stemmte ich die Tür in die rettende Außenwelt auf und atmete die merklich kühlere Luft ein.
Wir machten uns auf den Weg zur nächstgelegenen Eisdiele und entschlossen uns dazu mit dem Eis woanders hinzulaufen, da das Café schon haltlos überfüllt war. Nach einigen Minuten Streiterei, setzte Nina ihren Kopf durch und lud mich ein. Mit je einer großen Portion Spaghettieis in der Hand gingen wir durch mehrere enge Gassen. Ein kühler Wind fuhr uns durch die Haare und ließ uns frösteln. Meine Freundin zitterte und klapperte übertrieben mit den Zähnen, aber ich war dankbar für die kleine Abkühlung.
Nach einigen Minuten kamen wir an einem kleinen Platz an, versteckt hinter ein paar Häuserzeilen und wenig besucht. Eine dicke Boderofigur bildete den Mittelpunkt unseres Lieblingsortes. Sie lag auf dem Bauch, die Beine baumelten in der Luft und die dicklichen Handrücken stützten das Kinn. Wir nannten sie "die dicke Frau" oder einfach nur "Miss Piggy". Seit dem ersten Mal, als wir dort waren, konnte man die Leute, die wir dort sahen an der Hand abzählen. Meistens war keine einzige Seele dort, die dicke Frau war oft allein. Nicht jedoch heute...
Schon bevor wir die Figur zu Gesicht bekamen, hörten wir sie... die Schreie. Mit einer Handbewegung bedeute ich Nina stehen zu bleiben, doch das wäre gar nicht nötig gewesen. Meine Freundin stand bereits stocksteif in der schmalen Gasse. "Oh Gott, was geht da vorne ab, Charls?", flüsterte sie verängstigt.
Ich schluckte und versuchte um die Ecke der Hauswand zu linsen, aber wir waren noch zu weit weg, um Genaueres erkennen zu können.
Meine Stimme zitterte, als ich antwortete:"Ich weiß es nicht Nina, aber den Schreien nach zu urteilen nichts Schönes..."
Ich schob mich langsam an der Wand entlang. Das Eis tropfte über meine Hand auf den Boden und hinterließ eine gelbrote Spur auf dem Kopfsteinpflaster. Währenddessen wurden die Schreie nur noch lauter und panischer, es war ein Junge...
"Nein, bitte hör auf! Lass mich los!!!", schrie er verzweifelt. Wir waren mitten in eine Auseinandersetzung geplatzt. Doch, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Streit handelte, war mehr als deutlich. Zwei Kumpel gerieten oft mal gegeneinander, aber das war hier wohl nicht der Fall. Die Situation war eskaliert. Ich linste um die Ecke, nur schnell, ich wollte nichts riskieren.
Ein Kerl stand mit dem Rücken zu uns und hielt einen anderen am Kragen gepackt. Papier war über den ganzen Platz verstreut.
Ich zog mich wieder zurück und schilderte Nina die Situation auf dem Platz.
Panik spiegelte sich in ihren Augen wieder, dann beherrschte sich meine Freundin urplötzlich. Sie war die von uns beiden, die sogar in so einer Situation einen kühlen Kopf bewahrte. "Ich ruf die Polizei an, Charls. Wir können da nicht viel machen ohne selbst mit hineingezogen zu werden."
Ich nickte automatisch und sah Nina dabei zu, wie sie die Nummer wählte, im Hintergrund wurden die Schreie immer verzweifelter. Ohne es zu merken war ich wieder näher zur Hausecke gerückt und spähte mit klopfendem Herzen auf die dicke Frau und die Szene, die sich vor der Figur abspielte. Der Junge lag auf dem Rücken, sein Gesicht war mit Blut verschmiert. Und schon wieder wurde er auf die Beine gerissen und der andere, mindestens zwei Köpfe größer, holte mit seinem muskulösen Arm zu einem weiteren Schlag aus.
Bis die Polizei da war, würde der arme Kerl da vorne komplett entstellt sein. Er versuchte sich zwar zu wehren, kam aber einfach nicht gegen den riesigen Muskelprotz an.
Ich drehte mich wieder zu Nina um, die den Anruf gerade beendet hatte. "Ich kann da nicht länger zusehen. Klingel an der nächsten Tür und hol Hilfe!"
Nina sah mich entgeistert an. "Bist du jetzt vollkommen übergeschnappt, Charls?", flüsterte sie. "Du kannst da nicht einfach..." Den Rest hörte ich nicht mehr, ich war längst losgerannt. Nina hatte Recht, ich war wirklich übergeschnappt, aber ich hatte einen Plan, dessen Erfolg ziemlich fragwürdig war... In meiner einen Hand befand sich immer noch das Spaghettieis, das bereits zu einem undefinierbaren, schleimigen Klumpen verschmolzen war. Leichtfüßig lief ich über das Kopfsteinpflaster und betete dabei zu allen möglichen Göttern. Der Junge baumelte wieder am Kragen in der Luft, mit der einen Hand hielt er sich am Arm fest, der ihn gepackt hielt, den anderen Arm hielt er sich schützend vor sein Gesicht. Seine schwarzen Haare waren zerzaust, die Jeans und das Shirt mit Schmutz bedeckt. In seinen Augen lag ein überraschter Blick, als er mich auf sich zurennen sah. Sein übermächtiger Peiniger holte wieder aus, doch dieses Mal würde ich ihn nicht zuschlagen lassen. So schnell ich konnte, rannte ich zu den beiden, der Schrank drehte sich verdutzt um, als er sich meiner Schritte bewusst wurde. Bevor er irgendetwas tun oder sagen konnte, hatte ich ihm den Plastikbecher samt Inhalt auch schon mit voller Wucht in sein überraschtes Gesicht gerammt. Das flüssige Eis spritze zu allen Seiten und streifte nur knapp mein Gesicht, aber es hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Der große Kerl fing an zu taumeln, ließ den blutig geschlagenen Jungen los und stolperte einige Schritte zurück. Ich kniete mich schell zu dem am Boden Liegenden. Bei näherer Betrachtung fiel mir auf, dass er kaum älter war, als ich selbst. Eines seiner braunen Augen war bereits rot und angeschwollen. "Kannst du aufstehen?", fragte ich gehetzt.
"Ja, geht schon klar.", meinte er und kam zitternd zum Stehen. Ich nahm seine Hand und zog ihn mit mir in die Richtung, aus der ich gekommen war. Währenddessen hatte sich der große Berg wieder gefangen und sich das Eis mit seinen dicken Fingern aus den Augen gewischt. Ich drehte mich im Rennen um und unsere Blicke kreuzten sich, er setzte uns mit großen Schritten nach. Verdammt, ich hatte gehofft, das Ablenkungsmanöver würde länger halten. Wir bogen in die Gasse ein und wären fast in einen gut gebauten Mann Ende vierzig hineingelaufen. Schnell bremsten wir ab, ich prallte an die Brust des fremden Jungen hinter mir. "Die Kleine dahinten hat mich gerufen.", meinte er und deutete hinter seinen Rücken. Ich sah Nina winkend dort stehen. "Wo ist der Mistkerl?"
Ich deutete meinerseits nach hinten und wirklich, mit verschmiertem Gesicht und hasserfülltem Blick bog der Übeltäter gerade um die Ecke und rannte auf uns zu. Genauer gesagt auf mich. Der fremde Junge schob mich schützend hinter seinen Rücken.
"Da bist du, du kleine Ratte. Lässt dich jetzt auch schon von nem Mädchen retten. Du bist echt der letzte Schwächling!", grollte er mit seiner tiefen Gorillastimme.
Schon holte der eisverschmierte Muskelberg wieder aus und visierte den schwarzhaarigen Jungen vor mir an. Kurz bevor die Faust ihn jedoch treffen konnte, schnellte der ältere Mann vor und packte den Riesen grob in den Schwitzkasten. "Na na na, jetzt lass es mal bleiben. Du hast schon genug Scheiße am Hals, die Bullen sind gleich hier.", sprach er ruhig. In der Ferne ertönten die Sirenen.
Mit Armen und Beinen wehrte sich der Widerling, doch der Mann war seinerseits muskulös und hielt ihn mühelos in Schach. "Lass mich los, du verdammter Opa.", brüllte er immer wieder. "Sicher nicht und jetzt halt gefälligst die Klappe!", fuhr der ihn wiederum an.
Er wandt sich uns zu. "Ist mit euch alles in Ordnung?"
Nina und ich nickten schweigend. Der Junge neben mir meinte, es ginge schon. Ich sah ihn von der Seite an. Seine Lippe war aufgesprungen, er blutete aus der Nase und sein rechtes Auge wurde von einem gewaltigen Veilchen geziert. Der arme Kerl tat mir wirklich leid. Ich ertappte mich dabei, dass ich mir vorstellte, wie er wohl ohne Blessuren aussehen mochte und starrte ihn wohl ein wenig zu lang an. Er drehte nämlich den Kopf zur Seite und lächelte mich an. Mein Herz pochte plötzlich wie verrückt, trotz Verletzungen im Gesicht sah der Kerl wirklich süß aus.
"Ich heiße Jakob, und du? Schließlich möchte ich wissen, wie meine Retterin heißt.", meinte er immer noch lächelnd.
"Char...Charlotte.", krächzte ich. Was zur Hölle war mit mir los? Ich stotterte doch sonst nie!
"Charlotte... ein sehr schöner Name. Danke, dass du mir geholfen hast. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass mir hier so schnell jemand zur Hilfe eilen würde. Dieser Ort ist meistens menschenleer..."
Ich nickte wie hypnotisiert. Seine Stimme... und allein schon wie er meinen Namen aussprach, brachte meine Wangen zum Glühen. 'Jetzt reiß dich endlich zusammen, Charlotte!', befahl ich mir.
"Kein Ding.", meinte ich lässig. "Ich konnte nur nicht mitansehen, wie dieser Mistkerl dich blutig geschlagen hat... Warum hatte er es überhaupt auf dich abgesehen?", fragte ich.
Jakob zuckte die Achseln. "Sein Schwarm hat mir eine Liebeserklärung gemacht... Irgendwie hat er wohl Wind davon bekommen, schätze ich."
Ich schluckte. "Nur deshalb?", hörte ich mich sagen. "Du kannst doch nichts dafür..."
Er lachte trocken. "Als wenn das eine Rolle für ihn spielen würde. Sieh in dir an, er ist vollkommen übergeschnappt."
Ich folgte seinem Blick und konnte ihm nur Recht geben. Der Verrückte im Schwitzkasten wehrte sich noch immer gegen den erwachsenen Mann, in seinen Augen lag ein fast schon tollwütiges Funkeln. Jakob kicherte vor sich hin. "Ich muss sagen, das Eis verleiht ihm einen gewissen Charme. Aber trotzdem ist es eine pure Verschwendung an ihn..."
Ich winkte ab. "Nicht so schlimm. Manchmal muss man eben Opfer bringen."
"Aber trotzdem", begann Jakob wieder, "welch ein tragischer Verlust... und das nur wegen mir. Lass mich den Schaden wieder gut machen, ok?" Er grinste mich an und ich versank in seinen Augen.
"Ach, das ist doch nicht nötig.", meinte ich bescheiden und schallt mich innerlich eine Lügnerin. Ich wollte ihn wiedersehen... Die Sirenen wurden immer lauter, sicher würde die Polizei gleich da sein. Ich war über alle Maßen erleichtert.
Jakob ergriff wieder das Wort: "Ich dulde keinen Widerspruch. Morgen Abend um 6 im Lido? Irgendwie muss ich mich doch bei dir erkenntlich zeigen..." Er zwinkerte mir zu und meine Wangen loderten auf. Wenn das so weiterging würden Nina und ich zu zweit als rote Warnleuchten durch die Gegend laufen können. Mein Kopfkino bescherte mir einige verstörende Bilder.
"Alles in Ordnung mit dir?", fragte Jakob besorgt. "Wenn du nicht in die Eisdiele willst, können wir auch woanders hingehen." Seine Stimme holte mich wieder zurück in die Realität.
"Nein, alles gut", winkte ich ab. "Ich würde sehr gerne ins Lido gehen!"
Er grinste zufrieden. "Ich freu mich schon.", erwiderte er.
Ich grinste ein wenig dümmlich zurück, das lag bestimmt an der Hitze...