Prompt vom 22. September 2019
CW: Horror
"Was zur Hölle ist ein Panoptikum?", fragte Mira, die gelangweilt in ihrem Bubble Tea herumstocherte. Eigentlich mochte sie dieses Zeug gar nicht, Pepper allerdings schon. Und wie sähe es denn aus, wenn sie etwas anderes trinken würde als ihre beste Freundin?
Pepper strich sich ihre wilden Locken aus dem Gesicht. "Vertrau mir, das wird lustig!" Dabei sah sie Mira mit diesem drängenden Blick an, der keine Widerworte zuließ.
"Was ist das denn überhaupt?" Zögerlich nahm Mira noch einen Schluck von diesem ekelhaft süßen Zeug.
Pepper zuckte mit den Schultern. "Ein Museum, schätze ich. Das soll aber total toll sein! Lass uns doch morgen dahin gehen."
Offensichtlich hatte Pepper selbst keine Ahnung, was sie dort erwarten würde. Dieser Eindruck verstärkte sich, als die Freundinnen am nächsten Tag vor den kalten Backsteinmauern standen, hinter denen sich die Ausstellung befinden sollte. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen, und auch der Eingang machte keinen sonderlich vertrauenserweckenden Anschein.
"Vielleicht sollten wir noch zurück zur Schule", überlegte Pepper laut und rieb sich die Arme. "Wir könnten noch rechtzeitig zum Englischunterricht da sein."
Kritisch sah Mira ihre Freundin an. "Und uns einer Predigt von der Ignatz aussetzen?" Dass die alte Lehrerin diesen Job nur des Geldes wegen machte, war offensichtlich. Obwohl Mira ein wirklich mieses Gefühl im Bauch hatte, schien ihr der Besuch hier etwas angenehmer zu sein als zurück in die Schule zu gehen.
"Hast Recht! Wir sind hier her gekommen, also gehen wir jetzt auch da rein." Damit straffte Pepper ihre Schultern zurück und marschierte auf den Eingang zu.
Die Türen waren hoch und dunkel und fielen mit einem schweren Knall hinter ihnen wieder zu. Die Mädchen hatten kaum ausreichend Zeit, um den hohen Raum zu bewundern, bevor ein hochgewachsener Mann in einem altmodischen Anzug und dünnem Schnauzbart auf sie zutrat. "Guten Tag, die Damen", sagte er mit einer leichten Verbeugung, "wie kann ich Ihnen helfen?"
Es war schon sehr ungewohnt, gesiezt zu werden. "Wir wollen zu der Ausstellung!", sagte Pepper schnell. Mira hingegen schlug das Herz bis zum Hals. Irgendetwas an diesem Ort rief ein starkes Unwohlsein in ihr hervor.
Der Mann aber lächelte. "Natürlich. Hier entlang, bitte." Mit einer weiteren Verbeugung deutete er auf einen der Seitengänge. "Der Eintritt ist heute kostenlos."
Pepper sah Mira an und schubste sie leicht nach vorne. "Komm schon", sagte sie und folgte dem angewiesenen Weg.
Ab hier wurde es dunkler. Kleine LED-Lämpchen markierten den Weg, an dessen Seiten sich Vitrinen aller Art aufreihten, die selbst wiederum beleuchtet waren. Mira blieb gleich vor der ersten stehen. Hinter der blank polierten Glasscheibe befanden sich zwei Hände, die ihre Finger nach oben reckten. Allerdings fehlte der linken Hand der Ringfinger und der Daumen, die dafür aber der anderen Hand auf obskure Art angefügt worden waren. Mira lehnte sich gerade nach vorne um nachzusehen, wie detailliert diese ohnehin schon unglaublich realistischen Skulpturen waren, da hörte sie einen Ruf von Pepper: "Mira, komm mal, das hier ist total krass!"
Mit einem breiten Grinsen deutete Pepper auf eine viereckige Vitrine, die in der Mitte des Weges stand. In ihr befand sich ein Kopf ohne Haare. Das Gesicht wirkte ruhig, fast schon weise mit den geschlossenen Augen und dem leichten Lächeln. "Du musst es von der anderen Seite angucken", wie sie Mira an. Also ging sie um die Vitirine herum. Auf dem Hinterkopf der Büste war ein weiteres Gesicht, allerdings mit Augen, die Mira anzustarren schienen, und einem Mund, der fast schon bizarr grinste. Das Mädchen wich zurück. Ihr wurde übel und sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Wegsehen konnte sie trotzdem nicht. "Die sehen so real aus", stellte sie fest. "Das alles hier."
"Klar", grinste Pepper. "Das sind ja Wachsfiguren. Warst du noch nie bei Madame Tussaud?"
"Das ist furchtbar", murmelte Mira und sah ihre Freundin zerknirscht an. "Ich will hier raus."
Pepper stieß sie in die Seite. "Jetzt hab dich mal nicht so", meinte sie verärgert. "Das ist doch nicht echt."
"Trotzdem", murmelte Mira, ging aber dennoch weiter den Gang hinunter. Solche Diskussionen hatten mit Pepper wenig Sinn. "Was meinst du, wie viel es hier gibt?"
Pepper holte sie schnell auf. "Keine Ahnung", antwortete sie sich umblickend. Dort waren noch Füße, die in Balettschuhen steckten, aber ab den Zehen abgeschnitten waren, Gesichter, denen Lider und Lippen fehlten, tatowierte Arme, denen die Haut an den unbemalten Stellen fehlte, und immer wieder zwischendurch eine Vitrine ohne Inhalt. Je weiter sie gingen, desto dunkler wurde es und desto mehr leere Vitrinen fanden sie. Ein Schädel ohne Kiefer, aus dem dennoch eine Zunge baumelte. Manche Vitrinen waren auch mit schweren Samtvorhängen verdeckt. Eine Hand, die aus einer Vase voller Blumen hing. Am Ende des Ganges stand eine große, viereckige Vitrine, in die ein ganzer Mensch passen würde. Leer.
"Pepper?" Mira schauderte es bei dem Anblick mehr als bei den ganzen anderen Ausstellungsstücken. "Ich will nach Hause." Sämtliche Horrorszenarien schossen ihr durch den Kopf, und eine drängende Panik stieg in ihr hoch. Wenn sie nicht sofort hier rauskämen, würde Mira komplett durchdrehen.
Pepper ignorierte ihre Freundin. "Warte, da hinten geht es noch weiter!"
Sie wollte gerade weiter gehen, da nahm Mira ihre Hand. "Pepper, bitte. Ich habe Angst."
"Hast du auch von den zwei Mädchen gehört, die verschwunden sind?", fragte Marco seinen Freund. "Ist das nicht gruselig?"
"Hör auf, von so etwas zu reden, wenn wir in ein Gruselkabinett gehen", lachte Raphael. "Ich will so was nicht hören!"
"Aber du bist so süß, wenn du nervös bist!", schmollte Marco und nahm liebevoll seine Hand. "Außerdem passe ich doch auf dich auf."
"Weiß ich ja", lächelte Raphael und gab dem kleineren einen schnellen Kuss. "Lass uns jetzt gehen, bevor ich es mir anders überlege."
Die Ausstellung der menschlichen Kuriositäten war dunkel gehalten. Die einzigen Beleuchtungen in den Gängen waren LED-Lichter auf dem begehbaren Gang und in den Vitrinen. Raphael war froh, die Hand seines Freundes festhalten zu können, denn die ganzen Ausstellungsfiguren waren für ihn alles andere als schön anzusehen. Interessant, aber nicht schön. Dennoch ließ eines der Objekte ihn stillstehen: Die Skulptur eines menschengroßen Mädchens, das allerdings vier Beine, vier Arme und zwei Köpfe hatte. Die Hände schienen nach einander greifen zu wollen, ohne sich fassen zu können, und der Körper war seltsam verdreht, als würde er sich aus sich selbst winden. Die Köpfe hatten zwei verschiedene Gesichtsausdrücke: Der eine schien den anderen anzuschreien, während der andere die Augen zusammenpresste.
Mirko drückte kurz seine Hand. "Wollen wir weiter?", fragte er lächelnd.
"Ja, sicher." Raphael warf noch einen kurzen Blick auf die lockigen Haare des verkniffenen Kopfes, bevor er seinem Freund den dunklen Flur hinunter folgte.