Dichter Nebel lag über Wiesen und Feldern, drängte sich in die Straßen der Stadt und weichte die Konturen der Häuser und Bäume auf. Der Schein von Straßenlaternen malte matt-helle Punkte in den Dunst. Kein Wind regte sich in dieser kalten Nacht.
Vom Westen her, dort, wo die Stadt an den Wald grenzte, näherten sich zwei Gestalten. Im Dunkel zwischen Kiefern und Fichten, uralten Eichen, Buchen und ein paar dürren Birken bahnten sie sich ihren Weg. Sie wanderten bis zu den Feldern, deren Böden längst öde und hart war. Dann führten sie die altbekannten Wege zu den ersten Häusern, die still und schlafend die Straßen säumten.
Die beiden Männer waren in dicke Mäntel gehüllt. Der Lichtkegel einer Laterne erfasste sie und hob sie für einen Augenblick aus dem Nebel.
Einer trug ein weißes, reich verziertes Gewand und darüber einen roten Mantel. In der Hand hielt er einen langen Stab, dessen oberes Ende einer Schnecke ähnelte, und auf seinem Kopf thronte eine Mitra, die mit Goldfäden durchwirkt war. Kleine Tropfen hatten sich in seinem langen, weißen Bart verfangen und reflektierten glitzernd das Licht.
Sein Begleiter lief gebeugt, mit einem dicken Jutesack auf dem Rücken. Sein Mantel war ein tiefbraunes Ding, das an einigen Stellen abgewetzt und geflickt war. Den Kragen und den Saum zierte schwarzes Fell. Auch seine Hose, die Stiefel und selbst sein Bart waren schwarz. Auf dem Kopf trug er eine warme Fellmütze und an seinem Gürtel baumelte eine große Rute aus Reisig. Er blickte sich mürrisch um, doch viel zu sehen gab es nicht. Der Nebel verschluckte die Welt nach wenigen Schritten.
„Ich verstehe nicht, wie du das immer schaffst“, brummte er.
„Was denn, mein Lieber?“ Der Mann in dem prachtvollen Mantel schmunzelte.
„Dich jedes Jahr um diese Zeit mit der Wetterfee zu verkrachen! Letztes Jahr sind wir kaum vorwärtsgekommen, weil sie uns einen halben Meter Neuschnee beschert hat. Und dieses Jahr sehen wir die Hand vor Augen nicht in diesem Nebel!“
„Aber, aber, Ruprecht.“ Beschwichtigend hob der Mann die Hand. „Ich habe mir letztes Jahr lediglich ein bisschen Schnee gewünscht. Du weißt ja, dass es die Kinder immer freut.“
„Dann solltest du deine Bitte besser nicht mit dem Worten ‚falls du das schaffst’ abschließen“, murrte Ruprecht und kuschelte sich tiefer in seinen Fellkragen.
Sein Begleiter seufzte und zuckte die Schultern. „Ich habe es gut gemeint. Weil sie so viel zu tun hat. Ich wollte nur wissen, ob sie es zeitlich schafft. Aber sie hat es wohl falsch verstanden.“
„Ja, ja. Du meinst immer alles gut, Nikolaus. Dabei sollte dir langsam klar sein, dass sie furchtbar aufbrausend ist. Himmel, sie hat dich verflucht und mindestens dreimal ‚Und wie ich das schaffe, du wirst schon sehen!’ gerufen. Und dann hat sie sich bis zum 6. Dezember in ihrer Werkstatt verschanzt“, erinnerte Ruprecht ihn.
Als Nikolaus nur schweigend in die weiße Wand vor ihnen starrte, hakte er nach: „Und, was hast du dieses Jahr verbrochen?“
Nikolaus druckste herum, schließlich murmelte er: „Ich habe eventuell in ihrer Anwesenheit erwähnt, dass ich dieses Jahr am liebsten keine bösen Kinder sehen möchte.“
Ruprecht schlug sich mit der freien Hand vor die Stirn.
„Aber … ich konnte doch nicht wissen, dass sie das so –“
„Sie ist die Wetterfee! Es gibt niemanden, der launischer und unberechenbarer ist! Und du sagst ihr, du willst keine bösen Kinder mehr sehen? Wunderbar, so sehen wir überhaupt nichts mehr! – Und ganz nebenbei: Damit nimmst du mir die Arbeit weg!“
Nikolaus schien unter seiner Mitra zu schrumpfen und umklammerte fest seinen Stab.
Ruprecht atmete tief ein. Als er ausatmete, tanzte ein weißes Wölkchen um seinen Mund und verschmolz mit dem allgemeinen Nichts, in dem sie sich bewegten.
„Na ja, ist eh nicht mehr zu ändern“, sagte er leise und stupste seinen Begleiter an. „Mach nicht so ein Gesicht. Ich weiß ja, dass du es immer gut meinst.“
Nikolaus nickte, wirkte aber noch geknickt.
„Wie viele Häuser haben wir noch?“
Der Angesprochene kramte in seiner Manteltasche und zog eine lange Pergamentliste hervor. Er blieb stehen und studierte sie eingehend, sah sich mit zusammengekniffenen Augen um und dann wieder auf die Liste. „Das ist die letzte Stadt. Wenn ich mich nicht täusche, besuchen wir hier nur zehn, fünfzehn Häuser. Und womöglich sind sogar zwei unartige Kinder für dich dabei. Der kleine Moritz zum Beispiel.“
„Oh ja, an den kann ich mich erinnern“, erwiderte Ruprecht und ein vorfreudiges Grinsen schlich sich in sein Gesicht.
„Und womöglich die zehnjährige Luisa. Sie hat ihre kleine Schwester ganz schön geärgert und nicht auf ihre Eltern gehört.“
„Klingt so, als bekäme meine Rute heute doch noch etwas zu tun.“
Ruprecht konnte nicht verhehlen, dass ihm seine Arbeit Spaß machte. Nun ja, der Sack war am Anfang zentnerschwer. Wenn er ihn nach dem Packen schulterte, drohte er jedes Mal darunter zusammenzubrechen. Und je nach Wetterlage – die dank Nikolaus in letzter Zeit konstant bescheiden war – setzten ihm Kälte, Wind, Regen, Schnee, Nebel oder Hagel zu.
Doch abgesehen davon konnte er sich nicht beklagen. Er musste kein seltsames Kleid tragen, so wie Nikolaus – „Gewand!“, wie der ihn immer nachdrücklich verbesserte – und er hatte quasi schlagende Argumente in der Kindererziehung. Anfangs hatte es ihm zugesetzt, dass die Kleinen Nikolaus immer mit offenen Armen begrüßt, vor ihm aber Reißaus genommen hatten. Mittlerweile freute es ihn, welchen Heidenrespekt die Kinder vor ihm und seiner Rute hatten. Und er liebte es, dazu beitragen zu können, dass unartige Kinder sich besserten. Und da er jedes Jahr aufs Neue an Nikolaus’ Seite die Kinder besuchte, konnte er sich stets davon überzeugen, dass seine Arbeit Früchte trug. Ironischerweise während er Früchte trug. Denn in seinem Sack befand sich auch eine große Ladung Mandarinen und Nüsse, die er zusammen mit Nikolaus verteilte.
Während Nikolaus seine Liste einrollte und wieder verstaute, tappten die beiden weiter.
„Sieht so aus, als müsstest du heute doch noch böse Kinder sehen“, merkte Ruprecht vergnügt an und klopfte an seine Hüfte, wo die Rute baumelte.
„Dann war die ganze Nacht- und Nebelaktion wohl umsonst.“
Niedergeschlagen sah sich Nikolaus nach dem ersten gesuchten Haus um. Im Dunkeln und eingehüllt in blassen Dunst sahen alle Straßen gleich aus. Die Laternen waren keine große Hilfe, denn ihr Licht reichte nicht weit.
„Ach was“, gab Ruprecht beschwingt zurück. „Du kannst ja die Augen zu machen, wenn wir bei Moritz und Luisa sind. Und nächstes Jahr wünschst du der Wetterfee einfach einen schönen Nikolaustag und steckst ihr ein Päckchen Baldriantee in den Stiefel.“
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Vielen Dank an Sven für die Audio-Version!
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Diese ist erschienen auf https://www.pulsnetz.de/blog/artikel/adventskalender-resilienz-staerken-6-tuerchen