Obwohl die Sonne längst hinter dem Ufer des Río de la Plata versunken war, dachten die Menschen nicht daran schlafen zu gehen. Im Gegenteil. Von der größten Straße bis in die kleinste Gasse, aus dem nobelsten Restaurant und der schäbigsten Kneipe ließen sich Gelächter, Musik und Gesprächsfetzen vernehmen. Sogar in der Bodega El Fuego herrschte ausgelassene Stimmung. Aus dem Lautsprecher eines Radioempfängers, der ein Ausstellungsstück eines technischen Museums hätte sein können, spielte ein Orchester einen schwerfälligen Tango. Wenige Paare wiegten sich auf der Tanzfläche zum Takt der Musik, da die üblichen Besucher des El Fuego, gebrochene und vom Leben gebrandmarkte Menschen, Trost und Vergessen im Wein suchten. Mal schnell und mal langsam floss der dunkle Vino Tinto aus trüben Gläsern in die Kehlen der Zecher oder zeichnete fantasievolle Karten auf den Tischen, falls er sein Ziel verfehlte. Das Orchester im Radio legte eine Pause ein und der verhaltene Applaus verebbte wieder. Im Schatten der hintersten Ecke saß ein Mann mittleren Alters auf seinem Stuhl, nippte an seinem Wein, schnitt eine Grimasse, zog eine Taschenuhr hervor und warf einen ungeduldigen Blick auf das Ziffernblatt. Er hasste Unpünktlichkeit.
Als er die Taschenuhr wieder eingesteckt hatte, sah er einen Mann zur Tür hereinkommen. Das Gesicht des neuen Gastes war blass und er schaute sich gehetzt um. Erst als er seinen Freund in der hintersten Ecke erblickte, entspannten sich seine Züge ein wenig und er hielt auf den Tisch zu, wo er Platz nahm.
„Hallo Enrique, ich hoffe ich habe dich nicht zu lange warten lassen“, begrüßte der neue Gast seinen Freund.
„Du bist zu spät, Juan“, war die zischende Entgegnung.
„Ich weiß, aber es hat seine Gründe“, antwortete Juan, während er sich setzte. Ehe er sich erklären konnte, hob Enrique die Hand. Eine Kellnerin brachte eine Flasche Wein und ein weiteres Glas zu ihrem Tisch und entfernte sich wieder. Juan griff nach der Flasche, goss sich ein Glas ein und stürzte es hinunter. Enrique runzelte missbilligend seine Stirn.
„Du wolltest gerade deine Verspätung erklären“, nahm er den Faden des unterbrochenen Gesprächs wieder auf. Juan nahm noch einen hastigen Schluck Wein ehe er antwortete.
„Wir werden verfolgt! Letzte Woche haben sie Pedro erwischt. Er war der Tote, der im Hafenbecken trieb. Und mir sind sie nun auch auf den Fersen! Ich musste sie abhängen, ansonsten hätte ich sie hierher geführt! Mein Gott, der arme Pedro. Ich will nicht wissen, was sie alles mit ihm anstellten, ehe sie ihn ins Wasser warfen. Wir müssen hier weg, ehe es zu spät ist!“
Enrique hob beruhigend die Hände, um den Redefluss seines Gegenübers Einhalt zu gebieten.
„Immer mit der Ruhe. Du weißt selbst, dass Pedro in zwielichtige Machenschaften verwickelt war. Vielleicht ist er jemandem auf die Füße getreten oder in die Quere gekommen. Woher genau willst du wissen, dass es sie sind, die ihn umgebracht haben?“
Juan lachte bitter.
„Ich habe seine Leiche identifiziert. Das war kein normales Verbrechen, glaube mir. Jemand wollte Rache üben. Und er hat sie bekommen.“
Enrique presste die Kiefer so hart aufeinander, dass das Knirschen seiner Zähne deutlich zu hören war. Die Situation war schlimmer als er vermutet hatte. Nachdenklich fuhr er mit dem Finger durch eine kleine Weinpfütze und zeichnete damit eine imaginäre Landschaft auf dem abgewetzten Holz des Tisches.
„Hast du einen Plan?“, riss Juan ihn aus seinen Gedanken. Enrique strich sich nachdenklich übers Kinn.
„Wir könnten sofort die Flucht ergreifen und uns irgendwo in den Wäldern oder Bergen verstecken. Ich bin sicher, Miguel könnte da etwas organisieren. Die Alternative wäre natürlich, auszuharren und zu beobachten was passiert.“
Juans Gesichtsausdruck sprach Bände. Ihm war weder danach, sich noch weiter in eine Ecke drängen zu lassen noch wollte er den Kopf einziehen und hoffen, dass sich alles von selbst regeln würde.
„Du weißt, dass wir nicht einfach so weiterziehen können, denn irgendwann erwischen sie uns. Wir sollten etwas tun. Vielleicht sollten wir ihnen zuvorkommen“, schlug Enrique vor.
Juan blickte über die Schulter und musterte die Besucher des El Fuego misstrauisch. Er beugte sich vor und dämpfte seine Stimme zu einem Flüstern.
„Ich versuche gleich, Miguel zu kontaktieren“, sagte er.
„Sehr gut“, erwiderte Enrique.
„Wir sehen uns in einer Woche wieder. Ich werde die Zeit nutzen und nachdenken, was wir als Nächstes unternehmen können.“
Juan nickte zustimmend, leerte sein Glas in einem einzigen Zug, legte ein paar Pesos auf den Tisch und verließ die Bodega, um im bunten Treiben, das immer noch die Straßen füllte, zu verschwinden.
Enriques Finger fuhren durch eine kleine Weinlache und zeichneten ein fantasievolles Muster auf den Tisch, während er nachdachte. Hatten sie ihre Spuren nicht gut genug verwischt? Oder war Pedro nur ein Idiot gewesen, der unbedingt auffallen musste? Hatte er sie vielleicht alle verraten? War es vielleicht schon zu spät, um noch etwas zu unternehmen? Auch wenn er keine Antworten erhielt, so stand sein Entschluss bald fest. Er würde sich wehren. Entweder ließen sie ihn danach in Ruhe oder sie würden ihn töten, aber alles war besser als sich andauernd wie eine Maus in einem Loch zu verkriechen und wegzulaufen, wenn die Katze zu nahe kam.
Die Stille, die sich über den Raum gelegt hatte, holte ihn zurück in die Gegenwart. Diese Form der Stille kannte er zu gut. Irgendetwas oder -jemand zog die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich. Sein Herz schlug schneller und hämmerte gegen seinen Brustkorb, war er etwa in den Fokus gerückt? Waren sie hier, um sich auch an ihm zu rächen? Langsam hob er seinen Blick und sah sich um. Nein, die Aufmerksamkeit der Menge richtete sich auf eine Frau, die gerade das El Fuego betreten hatte. Ihre langen Haare, die ihr offen über die schmalen Schultern flossen, waren schwarz wie die Nacht. Mit langsamen, anmutigen Schritten durchquerte sie die Bodega, blieb vor seinen Tisch stehen und beugte sich herunter. Enrique rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, da ihm die Situation sichtlich unangenehm war. Er konnte keine Aufmerksamkeit gebrauchen, erst recht nicht jetzt. Nicht umsonst hatte er sich in die hinterste Ecke gesetzt, denn so konnte er den Raum unauffällig beobachten. Aber nun war ihm seine eigene Vorsicht zum Verhängnis geworden. Er saß auf dem Präsentierteller. Wenn ihn jemand erkannte und ihm ans Leder wollte, hatte er nun die beste Voraussetzung.
„Buenas tardes, Señor“, begrüßte sie ihn mit einer dunklen Stimme, die so weich war, wie feinster Samt. „Möchten Sie mit mir Tanzen?“
Es war keine Frage, das merkte Enrique sofort. Er hob den Blick, um etwas zu erwidern, aber sein Widerstand verflog, als er tief in die dunklen Augen der Frau blickte. Wie hypnotisiert erhob er sich, ergriff die Hand der Dame und führte sie in die Mitte des Raumes. Die anderen Besucher räumten überstürzt Tische und Stühle beiseite, um eine größere Tanzfläche zu bilden. Der Mann hinter der Theke stellte das Radio ab, holte eine alte Schallplatte hervor und legte sie auf ein betagtes Grammophon. Die Nadel knackte und kratzte über die Schellackplatte, ehe die ersten Töne aus dem Trichter drangen. Der Rhythmus der Musik flutete durch Enriques Körper. Obwohl er keine Ahnung vom Tanzen hatte, ergriff er die Hand der Dame und versank in einem rauschartigen Traum, während sie gemeinsam über den ausgetretenen Boden des El Fuego schwebten.
Vor seinen Augen führten die Schatten seiner eigenen Vergangenheit einen ganz eigenen Tanz auf. Dorothea lachte ihn liebevoll an, während sie gemeinsam am Strand lagen, dann wurde das Bild von der Dunkelheit eines Luftschutzbunkers abgelöst. Die fallenden Bomben gaben den Takt eines grausigen Totentanzes vor, zu dem die Sirenen mit ihren infernalisch heulenden Gesang einstimmten. Gegen Ende der Kakophonie ertönte nur das Dröhnen eines Nebelhorns, das von dem Schiff kündete, das ihn in ein neues Leben in einer neuen Welt brachte. Im finsteren Laderaum roch es unangenehm und nur eine kleine Laterne, die im Seegang hin und her schaukelte, spendete ihm Licht. Die Bilder verblassten wieder und ihm stieg der liebliche Duft des Parfums seiner Tanzpartnerin in die Nase.
Sein Hemd klebte schweißdurchtränkt an seinem Oberkörper, der sich hektisch hob und senkte. In seinen Ohren konnte er immer noch das Blut rauschen hören, sodass er nicht merkte, dass die Musik inzwischen verstummt war. Die anderen Gäste regten sich immer noch nicht, erst als der Zauber des Tanzes verflogen war, begann ein älterer Herr langsam zu klatschen, andere stimmten mit ein und bald darauf brach der Applaus donnernd wie eine Flutwelle über dem Tanzpaar herein. Beide verbeugten sich vor der Menge und gingen Arm in Arm zur Theke. Sie verschwanden wieder unter den Gästen, die nun ihrer bisherigen Tätigkeit nachgingen. Enrique signalisierte dem Mann hinter der Bar, ihnen etwas zu trinken zu bringen.
„Sie sind ein guter Tänzer, Señor“, sagte die Dame neben ihm. Enrique lachte kurz auf.
„Tja, ich bin selbst überrascht, denn eigentlich kann ich nicht tanzen.“
Der Barmann brachte die Getränke, nickte dem Paar lächelnd zu und verschwand wieder. Er kannte wohl solche Situationen zur Genüge.
„Chinchín, mi amigo“, sagte sie, als sie ihr Glas hob.
Er stieß mit ihr an und nahm einen großen Schluck aus dem Glas.
„Darf ich Sie etwas fragen, Señora?“
„Gerne doch.“
„Warum haben Sie gerade mich ausgewählt? Ich meine, wir kennen uns nicht, oder irre ich mich etwa?“
Ihre Antwort bestand aus einem Lachen.
„Oh, ich kenne Sie. Ich kenne Sie sogar sehr gut“, sagte sie, als sie seinen fragenden Gesichtsausdruck sah.
„Ich verstehe nicht. Woher kennen Sie mich?“, fragte er nach.
„Sie kennen mich nicht, da haben Sie recht, aber ich kenne Sie sehr gut, Herr Brunner“, antwortete Sie in perfektem, akzentfreiem Deutsch. Sein Blut schien in den Adern zu gefrieren und die Härchen an seinen Armen richteten sich auf.
„Sie waren Oberscharführer bei den Totenkopfverbänden und konnten über die Rattenlinien fliehen. Sie werden vom Israelischen Geheimdienst gesucht und stehen auf der Todesliste.“
„Lügen! Sie lügen“, krächzte er.
Jede Freundlichkeit war aus ihrem Gesicht verschwunden. Die vollen Lippen, die ihn eben noch verführerisch anlächelten, glichen nun hochgezogenen Lefzen und verliehen ihrem Antlitz etwas Dämonisches.
„Obwohl ich der Vater aller Lügen bin, spreche ich doch die Wahrheit. Und Sie wissen, dass ich nicht lüge“, antwortete sie. Enriques Lippen bewegten sich, ohne einen Laut von sich zu geben. Die Frau nippte in aller Seelenruhe an ihrem Wein.
„Sie fragen sich bestimmt, warum ich ihnen das erzähle, oder? Nun die Antwort ist einfach. Den Wein, den Sie und Ihr Freund getrunken haben, war vergiftet. Ehe Pedro starb, verriet er seinen Peinigern alles. Ihre Geheimidentitäten, Ihre Treffpunkte, Ihre Namen, Adressen, einfach alles. Man musste schnell handeln, deswegen bestach man den Barkeeper, Ihnen ganz besonderen Wein auszuschenken. Sie erinnern sich doch sicherlich an den bitteren Geschmack, oder?“
Die Maske des schönen Damengesichtes fiel für einen kurzen Moment ab und Enrique erhaschte einen Blick in ein Antlitz, das der Ursprung aller Albträume war.
„Und warum dann diese Scharade mit dem Tanz“, fragte er matt.
Sein Gegenüber zuckte kurz mit den Schultern.
„Ich wollte nicht untätig warten, bis das Gift wirkt. Es hätte gereicht, Sie beim Verlassen des Lokals abzupassen, aber mir stand der Sinn nach etwas Neuem.“
Etwas, das man bei Menschen als Schalk bezeichnet hätte, blitzte ihren gelben Augen auf und das Geräusch, das sie von sich gab, hätte man als Lachen interpretieren können.
„Außerdem machte es mir Spaß, Ihnen noch mal die schlimmsten Momente Ihres bisherigen Lebens vor Augen zu führen“, fügte sie verschmitzt lächelnd hinzu.
Mit einem schnellen Zug leerte sie ihr Glas und gab Enrique mit einem Wink zu verstehen, ihr zu folgen, dieser erhob sich und folgte der Dame gehorsam.