Ich konnte kaum atmen, als sich die Realität in mein Herz bohrte. Ich war tot, wahrhaftig tot. Das ist alles nur ein schreckliches Missverständnis. Bestimmt! Und doch…
Ich war vor der Verurteilung gestorben, ich war gestorben, ohne Tari noch einmal sagen zu können, wie sehr ich meine Schwester liebte. Ohne noch einmal sagen zu können, wie sehr ich meine Mutter um Verzeihung bat und meine Geschwister. Wie sehr ich sie enttäuscht hatte. Wie sehr ich alle im Stich gelassen hatte. Wen hatten sie denn nun? Jetzt musste mein jüngerer Bruder Baniti, der grade noch ein Kind war, meine Rolle einnehmen und schuften, bis er tot umfiel. Das, was ich verdient hatte, reichte doch nicht einmal zum Nahrung kaufen. Wie sollte denn das dann reichen, wenn ich nicht mehr da war? Wie sollten sie denn überleben, wenn sie weniger als Nichts hatten?
Tränen über Tränen verschwammen mein Blickfeld, als ich daran dachte, wie traurig Tari mich angesehen hatte. Wo ich doch so friedlich eingeschlafen war, musste ich nun hier wieder erwachen. Ein Paradies entpuppte sich als sprichwörtliche Hölle. Die Geister, die Dämonen, die Götter...sie würden mich leiden lassen für meine Untat. Sie würden mich häuten und bluten lassen, wenn sich mich davor nicht auspeitschten.
Ich keuchte wild umher, aber Mahaf saß immer noch vor mir und sagte nichts. Er schaute mich aber auch nicht an, sondern blickte gedankenverloren zu Cherti hinüber. Ich folgte dem Blick und sah, wie die Person mit einmal mal verschwunden war.
Ich nutzte die Gelegenheit und krabbelte zurück, suchte Abstand zu allem und jedem und atmete, hyperventilierte, bis meine Lungen mit weniger Luft befüllt waren wie zuvor. Mir wurde schwindelig, alles drehte sich und ich musste mich übergeben. Die Reste meines Mageninhalts landeten im Wasser, platschen hinein, bis das Grün in dem tiefen Blau-Schwarz verschwand. Schon bald dachte ich große Fische würden kommen und meinen Kopf abbeißen oder Krokodile würden mich mit Haut und Haar verspeisen, sah ich doch nur kreisrunde kleine Wellen um die Eintauchstelle. Und was ich sah, ließ mich noch mehr zusammenfahren. Ich krallte meine Finger an die Kante des Boots und schrie einmal komplett alles hinaus, was ich an Kraft aufzubieten hatte.
Ging es mir nun besser? Nein. Machte es die Situation besser? Auch nicht. Alles wirkte viel zu ruhig und friedlich. Ich überlegte fieberhaft und schwitzend nach einer Lösung, nach einer Erklärung, doch nichts befand sich in meinem dummen Gehirn, was mit Antworten geben könnte.
Als sich die Wellen lichteten und die strahlenden Punkte des Himmels, der mächtigen Nut, sich in dem Wasser spiegelten und lediglich die sanften Wogen der Bootsbewegung den Nil in Unruhe versetzten, hörte ich mich nur noch atmen. Ich sah graue Augen, die viel zu hell für einen Ägypter waren. Schwarze schulterlange Haare, zerzaust und ein Gesicht, das kantig und eckig mich anblickte. Der Mund viel zu grimmig und doch schelmisch, wenn er grinste. Die Nase schräg durch unendlich viele Prügeleien. Kratzer und Narben zierten meinen Oberkörper und erst jetzt, als ich mich betrachtete, wusste ich, dass ich tot war. Es war die einzig logische Erklärung.
Nur keine, die Sinn machte.
Ich nahm die Hand ins Wasser, tauchte hinein in das herrlich kalte Nass und bespritzte mein Gesicht damit. Dann richtete ich mich auf und betrachtete Mahaf.
„Wohin bringst du mich?“, fragte ich nervös, mit zittriger Lippe. Gedanken meiner Familie waren weiterhin präsent. Und diese würde ich behalten, bis zu meinem letzten, wirklich verbliebenen Atemzug.
Während Mahafs Augenbrauen in die Höhe sprangen, erwiderte er nichts dazu. Das Schweigen wurde zur erneuten Stille, bis sich die Augenbrauen wieder senkten und er aufstand. Er nahm seine Position von vorhin wieder ein und ich sah zu, wie er mich ignorierte. Wut würde nicht helfen und Angst hatte ich bereits. Ihn anschreien wäre befriedigend, aber genauso nutzlos. Und was tat ich nun?
Sitzen. Ich saß mich hin und lehnte mich an das Bootende, dessen abgerundete, verlängerte Spitze über mir aufragte. Ich blickte gleichzeitig auf die Sterne, verband sie gedanklich miteinander und formte Figuren. Egal welche Frage ich stellte, Mahaf hielt die Stille an. Bis sie erdrückend wurde und die Panik erneute versuchte, mich zu übermannen. Doch ich hielt mich wacker und vergrub mich in meinen eigenen Verstand. Meinen Erinnerungen.
Ich war also tot. Wie es Nefertari wohl ging? Was würde man mit meinem Leichnam machen? Sicherlich war die Zelle nun leer und mein dürrer Körper würde irgendwo verschwinden. Oder man verbrannte ihn, so wie sie es mit meiner Schwester Khepri getan hatte, die in jungen Jahren an einer Krankheit gestorben war. Nun waren es also noch vier. Neben Nefertari gab es meine Mutter, mein Bruder Baniti und Heqet, das Sorgenkind. Heqet war missgestalten. Eigentlich war meine Mutter zu alt gewesen, um nochmal schwanger zu werden. Doch dies war nur eine fehlgeleitete Vermutung. Als dann doch, kurz vor dem Krieg gegen die Feinde Ägyptens, in welchem auch Vater gestoben war, hatte sie dann doch Anzeichen einer erneuten Schwangerschaft gezeigt. Und wie durch ein Wunder überlebten beide, Mutter und Kind, die Geburt. Ich hatte mich gefreut, und doch wusste ich, dass Heqet es nicht leicht haben wird.
Sie war klug, doch sie konnte nicht wirklich laufen. Ihre verformten Beine machten es ihr unmöglich mehrere Schritte zu gehen. Daher war sie für viele nicht zu gebrauchen und ein Pflegefall der Familie. Doch sie war eine Frohnatur und wann immer ich es erübrigen konnte, trug ich Heqet an den Fluss. Tari begleitete mich zumeist. So hatten wir viele tolle Abende verbracht.
Und dann waren noch meine zwei älteren Brüder. Khafra und Kasiya. Zwillinge. Sie hatten sich früh dem Tempel zugeschrieben, lernten durch ihren Eifer lesen und schreiben und arbeiteten für den Pharao schließlich im Palast. Einer der beiden hatte sogar etwas mit der Schatzkammer zu tun, doch mehr wusste ich von den beiden nicht. Sie hatten uns früh verlassen, hielten dann irgendwann keinen Kontakt mehr zu uns. Für sie waren wie Tiere, oder eben nutzloses Vieh, wie Khafra einmal gesagt hatte. Gedankenverloren fühlte ich die schroffe Narbe an dem Unterarm. Die hatte ich von einer Prügelei, als die beiden uns schließlich vollends den Rücken zuwenden wollten. Es war ein Streit gewesen, in welchem ich Hilfe von den beiden besserverdienenden Männern der Familie einforderte. Immerhin war es Mutter gewesen, die durch ihr Betteln und Flehen überhaupt die beiden in den Tempel gebracht hatte. Hätte sie sich nicht so gottesfürchtig vor dem Priester niedergelassen, würden Khafra und Kasiya immer noch im Staub kriechen. Wie ihre restliche Familie.
Doch wie immer, wenn man nun aus dem Armenviertel draußen war, war man zu höherem bestimmt. Und so wurden aus Monate Jahre, bis beide plötzlich auftauchten, die Familie als unwürdig betrachtet hatten und ohne ein Wort verschwinden wollten.
Ich musste lächeln, als ich meine Reaktion Revue passieren ließ. Ich hielt einen Korb in der Hand, den Tari geflochten hatte und hatte ihn Kasiya an den Kopf geschmissen. Bis wir drei uns im Dreck gewälzt hatten und ich eine Narbe davongetragen hatte. Seither waren sie uns nicht mehr über den Weg gelaufen.
Und wie die Erinnerung nach und nach mich einholten, bemerkte ich nicht, wie die Schatten immer näherkamen. Wie Mahaf gesagt hatte, schloss der dunkle Nebel das Boot ein, schwebte lautlos übers Wasser. Und etwas Dunkles drang in meinen Verstand.