Rating: P12
Nach einer Inspiration von Elle:
https://belletristica.com/de/books/51029/chapter/289220
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Die Libellenflügel surrten schrill und panisch. Kari beugte sich im Sattel vor und trieb das schillernde Raubtier zu einem noch schnelleren Tempo, obwohl ihre Wachen ohnehin kaum noch mithalten konnten und die Libelle bereits Zuckungen in den Beinen entwickelt hatte. Die großen Räuber flogen nur selten in gerader Linie. Sie brauchten den Zickzackflug, um sich wohl zu fühlen, und häufigere Pausen, weshalb die Tiere trotz ihrer Geschwindigkeit nur selten geritten wurden.
Aber sie waren die schnellsten Reittiere, die sie hatten, und Kari hatte keine Zeit. In ihrem Arm verkrampfte sich ihr Sohn in einem erneuten Anfall. Seine Muskeln hatten sich diesmal noch gar nicht wieder entspannt. Wieder liefen seine Lippen und Finger blau an und und Karis Herz schlug noch schneller als seine Zähne klappernd aufeinandertrafen.
Endlich kam ihr Ziel in Sicht. Ein großes Blatt bewegte sich im Wind. Der Strauch war einzigartig in Karis Reich. Dicke, gummiartige Blätter mit kaum sichtbaren Adern, die stabilen, grünen Trieben entsprossen. Als sie landeten, erhoben sich Schmetterlinge mit braungoldenen Flügeln und umschwärmten die Besucher misstrauisch. Kari drückte ihren Sohn an sich, während sie vom Rücken der Libelle rutschte, und schützte mit dem freien Arm ihr Gesicht vor dem Wind der peitschenden Schmetterlingsschwingen. Hastig klappte sie ihre eigenen Flügel auf und zu.
Die obere Seite braun mit großen, weißen Flecken, der untere Flügel golden mit einigen braunen Sprenkeln am Rand: Die gleichen Flügelmuster wie die Schmetterlinge, die bei diesem Zeichen zur Ruhe kamen und Kari passieren ließen. Die Gräfin und ihre Wachen konnten nun die haarigen Rauben sehen, die näher am Stamm des Baumes über die Rinde wuselten.
Kari stürmte direkt zu ihnen. "Ich brauche eure Hilfe. Wo ist Ereda? Er muss meinen Sohn retten!"
Wieder verkrampfte sich der kleine Feeling in ihrem Arm, und mit ihm ihr Herz.
Die Raupen wichen auseinander, bis sie eine Art Tunnel bildeten, der den Stamm hinauf führte. Während sie kletterte, hielt Kari mit den Flügeln das Gleichgewicht. Ihre Wachen kamen kaum hinterher. Einzelne stiegen wieder auf die Libellen, um nach oben zu fliegen.
Am Ende der Kletterpartie fand sie eine große Raupe vor, die den Oberkörper aufrichtete.
"Gräfin Kari."
"Ereda!" Erleichterung ließ ihre Stimme zittern. "Mein Sohn, er hat bei den Eiben gespielt und ..."
Die Raupe hob ein kurzes Beinchen. Ereda war rund und fett, er stand kurz vor der Verpuppung. Sie war so froh, dass sie ihn nicht vorher gefunden hatte. Wenn sie nur ein wenig zu spät gewesen wäre ...
"Lass mich sehen." Mit seiner sanften, tiefen Stimme konnte er ihr die Angst nehmen. Kari kniete sich hin und hielt ihren zitternden Sohn vor die Schnauze der Raupe.
Inzwischen stand dem Jungen Schaum vor dem Mund. Seine Flügel zuckten vor Erschöpfung. Kari konnte jetzt, da sie sich darauf konzentrierte, sehen, wie mühsam jeder Atemzug ging.
"Das haben wir gleich", sagte Ereda jedoch ruhig. Er drehte sich und biss ein Stück aus dem Rand eines Blattes, das dicht über ihm hing. Mehrere Blätter, Beeren und Blüten gingen von den Zweigen über dem Schamanen, frischgehalten durch Tautropfen, die die Raupen jeden Tag an die Zweigenden trugen. Kari hörte das leise Knarzen, mit dem die Raupe kaute. Dann spuckte Ereda aus und schob dem Jungen ein paar Tropfen des grünen Breis zwischen die Lippen.
Karis Junge streckte sich mit einem Seufzen und machte einen tiefen Atemzug. Seine Augen blieben geschlossen, doch die Erleichterung war sofort spürbar.
"Oh, danke!", flüsterte sie. "Danke, danke!"
"Er ist noch nicht über die Wurzel", gab Ereda zu bedenken. "Ich werde ihn hierbehalten. Es ist offensichtlich das richtige Gegengift, aber mit der Dosierung muss man sehr vorsichtig sein."
Kari drückte ihren Sohn an sich. Sie schloss die Augen und lauschte auf die Atemzüge, die langsam ruhiger wurden, spürte nach, wie sich der kleine Körper entspannte. Währenddessen wies Ereda die Raupen an, ein Bett für den Feenjungen zu bilden.
"Kari?"
Sie sah auf.
"Es war sehr knapp", sagte Ereda ernst. Sein Blick war dabei behutsam, als er erforschte, wie viel er ihr momentan zumuten konnte. "Ich weiß, ihr verlasst euch auf das Eibendickicht als Schutzwall, aber ... ich bin nicht mehr lange hier. Bald werde ich meine Schwingen erhalten und dann müsst ihr verhindern, dass sich jemand anderes verletzt."
Sie nickte. "Ich weiß. Es ... es ist verboten, dorthin zu gehen, und das wissen auch alle, aber ..."
Ereda schüttelte den Kopf. "Ein Verbot alleine reicht nicht. Es braucht Wachen - oder Feuer."
"Feuer ist keine Option", sagte sie leise. "Der Brand könnte den gesamten Strauch erfassen. Oder sogar den Baum!"
Ereda strich sich durch den dichten Pelz, der seinen Körper umhüllte. Dann begann er, einzelne Blätterstückchen von der Auswahl über sich abzupflücken und einen neuen Brei zu zerkauen.
"Oder würdet Ihr sowieso bleiben, Gräfin? Es scheint mir nicht, als würdet Ihr euren Sohn alleine lassen wollen."
"Nein. Ich bleibe bei ihm."
Er spuckte aus. "Dann kann ich Euch ein wenig zeigen. Ich muss mich noch um andere Dinge kümmern, also könnt Ihr die Pflege Eures Sohnes übernehmen."
"Aber ... wenn ich ihm zu viel gebe, vergifte ich ihn wieder!" So viel wusste sie von Medizin.
Ereda grummelte bestätigend. "Deshalb werdet Ihr es auch unter meiner Anleitung machen. Vielleicht wird es Zeit, dass auch Feen etwas von Heilung verstehen. Es kann nicht ewig Sache der Raupen sein."