Du bist Elred Aramys Nuvian.
Die Reise mit der Karawane ist lang. Wochen zieht ihr durch die endlosen Dünen, die sich für deinen Blick in nichts von den anderen unterscheiden. Irgendwie jedoch finden sich die Kameltreiber hier zurecht. Oder jedenfalls wirken sie so – vielleicht können sie ihre Unsicherheit auch einfach gut überspielen. Die Wahrheit werdet ihr wohl erst wissen, wenn ihr in Aramati seid. Oder verdurstet.
Brenna sagt dir, dass du nicht so pessimistisch sein sollst. Aber ihr habt euch nun mal vollkommen in die Hand dieser Leute begeben!
Karjas List hat zum Glück funktioniert. Mit der ‚Händlersflagge‘ hat sie euch das Vertrauen der Karawane erkauft. Sie hat nur angedeutet, dass ihr eine wichtige Botschaft zu überbringen hättet, und die Händler haben die Lücken selbst gefüllt. Nun seid ihr Karja Blutdurst, Elred der Finstere und Brenna Degentanz, drei Piraten auf geheimer Mission.
Ein Glück, dass Piraten von der Mondsee genau wie Menschen aussehen. Was sie zu Jenseitsvölkern macht, ist der Kodex, der Piratenpakt, der mit Blut besiegelt wird. Karja hat ihn natürlich geschlossen und damit ihre Seele für alle Ewigkeit an jenes Gewässer gebunden. Ab und zu berichtet sie euch von ihren Albträumen, in denen die Wellen an ihr zerren.
Sie wird eines Tages für ihren Verrat bezahlen müssen, wird euch klar. Dass sie euch half, wird sie zu ewiger Folter nach dem Tod verdammen. Brenna war entsetzt, als ihr das herausfandet, aber du hast bereits davon gehört.
Die Piraten sehen eben nur aus wie Menschen.
In der Wüste fühlt sich Karja immer unglücklicher und ihr ahmt ihr Verhalten unauffällig nach. Ein bisschen über die staubtrockene Luft jammern, ein wenig von Kielen, Raksegeln und anderem Mist reden, und ihr könnt euch gut genug tarnen, um die Karawane zu täuschen.
Auf diese Weise übersteht ihr drei Wochen. Zu Beginn der Vierten seht ihr am Horizont plötzlich einen gewaltigen Berg mit glatten Kanten. Eine riesige Pyramide, die gar nicht aufzuhören scheint. Sie wächst in den Himmel, bis dir vor Staunen der Mund offen stehen bleibt.
„Nicht mit einem Schiff zu vergleichen, wie?“, fragt dich ein turbantragender Kameltreiber stolz. „Zu welcher Pyramide müsst ihr denn?“
„Ähh …“ Ihr tauscht erschrockene Blicke.
„Na … Herrschaftspyramide? Verwaltungspyramide? Das muss man euch doch gesagt haben!“
„Es gibt unterschiedliche Pyramiden?“, platzt es aus Karja heraus.
„In jeder herrscht ein anderer Gott“, berichtet der Treiber, während er euch kopfschüttelnd mustert. „Sie haben sich auf bestimmte Gebiete begrenzt.“
„Also, dann … ähh, gibt es eine Pyramide für den Kontakt zu anderen Völkern?“, fragt Karja.
„Wie bitte?“ Der Treiber lacht schallend.
Ihr wechselt rasche, fragende Blicke.
„Eine Pyramide für Sicherheit oder so“, schlägt Brenna vor.
„Ah, die Wächterpyramide. Gut, die ist nicht mehr weit vor uns. Sie befindet sich im mittleren Ring.“ Der Kameltreiber nickt.
„Eine Frage …“, meinst du leise. „Es hieß, ihr bringt uns nach Aramati …?“
„Das hier ist Aramati.“ Der Kameltreiber weist auf die Dünen, die am Fuß der gigantischen Pyramide wie Ameisenhügel erscheinen. „Die Heimstätte der Götter!“
Ihr trefft nur wenige andere Menschen, aber die paar Karawanen sind mehr, als euch während der ganzen Reise begegnete. Dafür seht ihr mehr und mehr Pyramiden. Für euch sehen sie alle gleich aus, aber der Treiber und ein paar andere nehmen sich der armen Ausländer an und erklären euch irgendwelche wichtigen Details. Jene Pyramide sei viel älter als die andere, jene besonders eng und verwinkelt gebaut, jener Sandstein so viel teuerer als anderswo … Aus seinen Erzählungen schließt ihr, dass es hunderte Pyramiden gibt.
„Aber die sind alle winzig. Die Herzpyramide müsstet ihr mal sehen! Sie liegt im Zentrum der Stadt und reicht bis durch den Himmel hindurch!“
Nach und nach seht ihr auch Fußgänger, die nicht in Karawanen unterwegs sind. Die sandigen Pfade schlängeln sich immer enger durch ewig lange Sandsteinwälle, zwischen den Pyramiden hindurch. Die Hitze wird stärker, gespiegelt von den glatten Wänden. Ihr hört Lärm aus dem schattigen Inneren dringen.
„Ich kenne niemanden, der schon mal in so einer Pyramide war“, wispert Karja euch zu. „Da werden wir später was zu erzählen haben!“
Eure Karawane schwenkt schließlich ein und führt euch vor eine Pyramide, wo sie euch Glück wünschen und zurücklassen.
Schweigend legt ihr die Köpfe in den Nacken und seht die aus gewaltigen Steinquadern errichtete Wand hinauf.
Eine Treppe führt zu einem schattigen Eingang.
„Wagen wir es?“, fragt Brenna leise.
Ihr nickt. Seite an Seite setzt ihr die Füße auf die ersten Stufen.
„Drinnen müssen wir sehr vorsichtig sein“, bemerkt Karja. „Dort wird es nur so von Verwaltungsbeamten wimmeln. Vermutlich können sie uns überall belauschen.“
Ihr geht weiter bergan. Euer Atem geht schwer.
„Was machen wir jetzt eigentlich?“, fragst du. „Bleiben wir bei unserer Tarnung?“
„Wieso nicht?“, fragt Brenna. „Wir wissen ja genau, was passiert ist.“
„Aber wenn schon vor uns jemand da war …“
„Behaupten wir, neue Erkenntnisse zu haben oder so.“ Sie grinst.
Du schüttelst den Kopf. „So einfach wird das sicher nicht.“
„Sieh nicht immer alles so finster. Das wird schon.“
Danach redet ihr nicht mehr. Ihr braucht euren Atem für den Aufstieg, der immer steiler und höher zu werden scheint. Als ihr endlich in den Schatten eintretet, werdet ihr von der Kälte überrascht, die hier drinnen herrscht. Es ist nahezu eisig. Fleisch würde hier sicher eine ganze Weile haltbar bleiben …
Ihr betretet einen eckigen Flur und folgt ihm zu einer großen Halle, wo euch ein Mann in bunten, langen Gewändern entgegenkommt und mustert. „Seid ihr wegen der Skarabäen hier?“
„Ähh … nein, wir sind …“ Brenna sieht zu Karja.
„Wir sind Gesandte der Mondsee“, sagt diese und krempelt ihren Ärmel hoch, um einmal mehr die Händlersflagge zu offenbaren.
„Gesandte? Was macht ihr dann hier? Ihr müsst in die Siebenstein-Pyramide!“ Der Mann schüttelt genervt den Kopf. „Hier können wir euch nicht empfangen!“
„Wo ist denn die …?“
Und so beginnt eure Odyssee quer durch Aramati, durch hitzebestrahlte Korridore zwischen den Pyramiden und das düstere, eisige Innere, wo ihr von einem offenen Steinzimmer zum nächsten eilt, argwöhnisch beäugt von unzähligen geschäftigen Wüstenmenschen, und von einer Stelle zur nächsten weitergeleitet werdet. Für die Schönheit der buntbemalten Wände und edelsteingeschmückten Säulen habt ihr keinen Blick mehr übrig. Erst einmal müsst ihr registriert werden, euch anmelden, dann benötigt ihr Formulare, die gar nicht existieren können – „Wir wissen ja nicht, wer ihr genau seid“ – und um diese neu erstellen zu lassen, müsst ihr noch mal ganz woanders hin … dann müsst ihr nachweisen, dass ihr tatsächlich noch am Leben seid, und so geht es immer weiter, bis ihr schließlich in einer kleinen Nebenkammer, während ihr darauf wartet, dass sich irgendjemand verantwortlich zeigt, auf einer Steinbank einschlaft.
Als du erwachst, stehen zwei Dutzend Bewaffneter in rot-goldenen Rüstungen vor euch.
„Sie sagen immer, sie hätten noch Informationen, aber sie haben nicht mal ein Empfehlungsschreiben aus der Mondsee“, sagt jemand den Bewaffneten.
Du stößt Brenna und Karja hastig an, damit sie aufwachen. Sofort richten sich allerdings die Spitzen mehrerer Krummsäbel auf euch.
„Mitkommen.“
Langsam hebt ihr die Hände. Nach der Folter des Nachmittags habt ihr keine Kraft mehr, um noch Widerstand zu leisten.
Du schluckst. Offenbar bewahrheiten sich deine Befürchtungen. Und wenn das so ist, schwebt ihr alle in tödlicher Gefahr.
Dies ist das Canon-Ende für Elreds Teil!
Lies weiter bei Kapitel 10.