Mittlerweile war es 4:12 Uhr. Er bekam Zweifel, ob sie überhaupt ausgestiegen war. Zu Beginn hatten die Massen, die aus dem Zug geströmt waren, kein Ende genommen, jetzt stiegen nur noch vereinzelt die letzten Fahrgäste aus. Er fragte sich, wo sie blieb, drehte sich noch einmal unschlüssig um die eigene Achse, konnte sie aber nicht entdecken. Sie hatte gemeint, sie würde fahren, trotz allem, und er war fest davon überzeugt, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Es hätte keinen Grund für sie gegeben, zu lügen, es ging ohnehin um alles oder nichts. Die letzte Chance. Er hatte sich die Worte schon zurechtgelegt, hatte genau geplant, was er sagen und wie er ihr alles erklären wollte, sobald er sie aus dem Zug steigen gesehen hätte.
Was, wenn sie eingeschlafen war, wenn sie die Haltestelle verpasst hatte? Was, wenn ihr vielleicht etwas passiert war? Er wusste nicht, in welchem Abteil sie saß, würde sie nicht finden können, bis der Zug wieder die Maschinen starten und weiterfahren würde. Er fuhr sich durch die Haare, schaute noch einmal nach rechts und nach links. Er mochte das Ungewisse nicht, mochte keine Herausforderungen, stand nicht gerne unter Zeitdruck. Er überlegte, ob sie ihm das wert war. Es überraschte ihn, dass er eigentlich gar nicht wirklich darüber nachdachte, der Gedanke ihn nur kurz streifte, bevor die Antwort schon feststand.
Er stieg ganz vorne ein, sah davor noch auf die Abfahrtsanzeige. Der Zug würde in elf Minuten weiterfahren, vielleicht reichte die Zeit ja doch. Er betrat das erste Abteil, stieg bedächtig über ausgestreckte Beine und drückte sich an auf ihren Sitzen zusammengesunkenen Gestalten vorbei. Der ganze Zug schlief. Er arbeitete sich zügig durch das erste Abteil, konnte sie aber nirgendwo ausmachen. Auch im zweiten und dritten hatte er keinen Erfolg. Nach dem fünften Abteil, das er vergebens durchsucht hatte, begann er zu schwitzen. Er hatte sich ständig vergewissert, dass sie nicht am Bahnsteig vor den Fenstern vorbeigelaufen war und sie sich verpassten. Er wusste nicht, wie viele Abteile der Zug hatte, aber bei dem Gedanken, allein ins Ungewisse zu fahren, wurde ihm mulmig. Er suchte schneller, hektischer, lief fast durch die Abteile.
Als er den Pfiff des Schaffners hörte, hatte er sie immer noch nicht gefunden. Er wusste auch nicht, wie viele Abteile er schon durchsucht hatte oder wie viele es noch zu durchsuchen gab. Er hastete zur Tür, vielleicht hatte sie es doch noch auf den Bahnsteig geschafft, kam vom hinteren Teil aus auf ihn zugelaufen. Er hielt die Tür, die gerade automatisch geschlossen wurde, mit der Hand auf und sah den Steig hinunter. Niemand kam ihm dort entgegen. Er wusste nicht, was er tun sollte, die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf. Es hätte keinen Sinn gemacht, noch weiter zu suchen, er würde aus dem Zug geworfen werden, müsste Strafe zahlen. Vielleicht hatte sie es sich anders überlegt, war nicht gefahren, entgegen seiner Erwartung. Er machte einen zögerlichen Schritt auf den Bahnsteig, schauderte. Als wenn sich sein Körper wehrte gegen den Gedanken, diesen Bahnhof ohne sie zu verlassen. Er machte auf dem Absatz kehrt und stieg wieder in den Zug. Die Türen schlossen sich hinter ihm.