Die Geschehnisse beim Flugunterricht sprachen sich natürlich herum. Dafür sorgte schon allein Minerva, die alles von ihrem Turmfenster aus gesehen hatte und seitdem versuchte Severus dazu zu überreden den Jungen Quidditsch spielen zu lassen.
„Sie hätten es sehen müssen! Nicht zu glauben, dass der Junge noch nie auf einem Besen gesessen hatte! Dieses Talent hat er eindeutig von James!“
„Erstklässlern ist es verboten einen Besen zu besitzen, geschweige denn sich sämtliche Knochen beim Quidditsch zu brechen!“, antwortete Severus dann immer. Er fühlte sich langsam wie eine defekte Schallplatte.
„Es gibt doch Ausnahmeregellungen! Sie können so ein Talent doch nicht verkümmern lassen!“
„Jammern Sie nicht ständig, dass Slytherin seit sechs Jahren in Folge den Hauspokal hält? Ich tue Ihnen einen Gefallen, wenn Harry Potter am Boden bleibt.“, erwiderte Severus.
„Sie verstehen das nicht!“, sagte Minerva.
„Nein, tue ich nicht. Ich hasse Quidditsch!“, antwortete Severus dann jedes Mal.
„Und deshalb muss er es auch hassen?“
„Der Junge weiß doch nicht mal was das ist!“, erwiderte Severus.
„Das wird er zwangsläufig lernen!“
So ging es immer hin und her. Bei jeder Gelegenheit, die Minerva fand. Sie war halt eine flammende Anhängerin von Sport ist Mord. Selbst Severus' stichhaltigstes Argument brachte sie nicht davon ab.
„Wollen Sie denn wirklich, dass ausgerechnet der Junge, der überlebt hat, bei einer brutalen Partie Quidditsch ums Leben kommt?“
„Jetzt übertreiben sie nicht!“, sagte Minerva dann immer.
Albus beobachtete ihren täglichen Disput im Lehrerzimmer belustigt. Es fehlte nur noch, dass er sich mit einer Schüssel Popcorn neben sie setzte.
Eigentlich wollte Severus stur bleiben. Sollte der Junge doch im zweiten Schuljahr sich dafür bewerben wie alle anderen auch, aber mittlerweile erreichten ihn so viele Anfragen von Seiten der Schüler, dass er es schlicht nicht mehr aushielt. Harry Potter fragte ihn übrigens kein einziges Mal, ob er Quidditsch spielen dürfe. Warum auch? Er hatte eine fette Strafarbeit von ihm kassiert.
Dennoch, es hieß nicht umsonst, dass ein stetiger Tropfen den Stein aushöhlt. Severus ließ die vier Wochen von Harrys Strafarbeit vergehen ehe er ihn fragte, ob er trainieren wollte. Natürlich sagte der Junge zu. Sicher würde Severus das bereuen, aber er wollte seine Ruhe haben und nicht jeden Tag die gleichen, nervigen Fragen beantworten müssen.
Derweil wurde Severus zu Hagrid gerufen. Er wusste nicht worum es ging, nur das es eilig sei. Als er an der Hütte des Wildhüters ankam offenbarte sich ihm ein schreckliches Bild. Ein völlig zerfetztes Einhorn lag hinter dem Haus. Hagrid war den Tränen nähe und Albus und Minerva versuchten ihn zu beruhigen. Der Halbriese liebte seine Tiere mehr als gut für ihn war. Allerdings sagte dieses Bild Severus, dass es sich um keinen gewöhnliches Riss durch einen Werwolf oder ähnliches handelte.
„Severus, da sind Sie ja!“, sagte Albus.
„Was ist hier los?“, fragte er ohne Umschweife.
„Nun, ich hätte gern Ihre Meinung dazu.“, antwortete Albus und wies auf das unglückliche Einhorn.
Severus ging zu dem Kadaver und sah ihn sich näher an. Zu aller erst fiel ihm auf, dass er völlig blutleer war. Auch sahen die Wunden nicht aus als habe ein Raubtier das verursacht.
„Und?“, fragte Albus nach.
„Ich würde auf Vampir tippen, wenn ich nicht wüsste, dass denen Einhörner nicht schmecken.“, sagte Severus.
„Genau meine Meinung.“, stimmte Albus ihm zu. „Sie erinnern sich sicher noch an unser Gespräch von zu Beginn des Jahres?“
Natürlich tat Severus das. Sie alle hatten die Gerüchte gehört. Über den letzten, angeblichen Aufenthaltsort von Lord Voldemort – oder was von ihm übrig war – auf dem Balkan. Und hier hatte jemand nicht nur ein Einhorn gerissen, sondern es regelrecht ausgesaugt und gefressen. Albus war seit jeher der Meinung gewesen, dass der Dunkle Lord vor zehn Jahren in Godrics Hollow nicht sein Ende fand.
„Ihre Theorien haben die unangenehme Angewohnheit sich als richtig zu erweisen.“, sagte Severus.
„Da muss ich Ihnen sogar zustimmen. Ich würde es bevorzugen öfter mal daneben zu liegen.“, antwortete Albus.
„Also jagen wir jetzt Geistern hinterher?“, fragte Severus.
„Nun, das hier deutet eher darauf hin, dass etwas oder jemand hier ist, in einer recht körperlichen Form. Ich weiß, dieser Gedanke ist durchaus beunruhigend. Ich hatte Hagrid zu Beginn des Jahres in weiser Voraussicht den Stein hierher bringen lassen, wie Sie wissen. Ich und meine verdammten Ahnungen!“
„Glauben Sie er oder es ist hinter dem Stein her?“, fragte Severus.
„Warum nicht? Es frisst ja offensichtlich Einhörner, um sein Leben auf unnatürliche Art zu verlängern. Ich verwette meinen Hintern darauf, dass es sich dabei in irgendeiner Form um Voldemort handelt!“
„Also soll ich die Augen auf halten?“, fragte Severus.
„Wir alle werden das tun. Sie jedoch müssen sich um Harry kümmern. Als sein Hauslehrer sind Sie ihm näher als wir anderen.“, sagte Albus.
„Wäre das nicht ohnehin meine undankbare Aufgabe gewesen?“, entgegnete Severus.
„Nun, durch die Entscheidung des Hutes hat sich Ihr Auftrag etwas vereinfacht, würde ich meinen.“, antwortete Albus.
„Mein Auftrag.“, sagte Severus in einem herablassenden Ton. „Glauben Sie der Hut hat so entschieden, weil doch etwas von Ihm in Harry steckt? Voldemorts Fluch könnte immerhin mehr sein als nur eine Narbe.“
„Sicher war die Entscheidung des Hutes nicht so voraus zu sehen. Aber ich würde keine voreiligen Schlüsse daraus ziehen.“, erwiderte Albus.
„Hmm.“, machte Severus nur. Er hoffte der alte Mann behielt recht.
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Harry konnte sein Glück nicht fassen! Nach dem was in der Flugstunde vorgefallen war und der Art wie Snape ihn und Draco zusammengestauchte hatte er es nicht gewagt anzunehmen, dass dieser ihm erlauben könnte jemals noch einmal auf einen Besen zu steigen. Er hatte ja selbst mitbekommen wie nach seinem Flug alle davon schwärmen er wäre so ein guter Flieger wie sein Vater. Harry stimmte das ein wenig traurig. Er wusste so wenig über seine Eltern, dass er dieses Kompliment noch nicht einmal erwidern konnte. Dabei entging ihm jedoch nicht, dass insbesondere die Lehrerin für Verwandlung und Hauslehrerin von Gryffindor Professor McGonnagal sich offen für ihn bei Snape einsetzte.
Nach einer der Verwandlungsstunden nahm Harry seinen Mut zusammen und fragte die Professorin das, was ihn schon die ganze Zeit unter den Nägeln brannte.
„Ähm, Professor?“, fragte er sie vorsichtig.
„Ja, Potter?“, sagte Professor McGonnagal, die hinter ihrem Lehrerpult saß und einige Klassenarbeiten ordnete.
„Ich hoffe die Frage stört Sie nicht, aber kannten Sie meinen Vater?“, fragte Harry.
Sie sah auf und ihre sonst so strengen Gesichtszüge erweichten.
„Ja, ich kannte Ihren Vater. Sie müssen wissen, dass er einer der besten Sucher war, die das Haus Gryffindor jemals hatte. Das er Ihnen dieses Talent vererbt hat wundert mich nicht im Geringsten.“
„Also haben Sie Professor Snape überzeugt, dass ich Quidditsch spielen darf?“, schloss Harry.
„Und das war nicht einfach, müssen Sie wissen.“, antwortete Professor McGonnagal. „Er teilt meine Begeisterung für den Sport nicht und würde sie am Liebsten am Boden sehen. Enttäuschen Sie mich also nicht, Potter.“
„Das werde ich nicht, Ma'am.“, antwortete Harry. „Ich dachte Sie könnten mir vielleicht sagen wie mein Vater so war, abgesehen vom Quidditsch?“
Professor McGonnagal erhob sich und atmete schwer.
„Ihr Vater, James, war ein großartiger, hilfsbereiter, junger Mann. Sicher, er hatte hier und da ein paar Flausen im Kopf, aber wahrscheinlich war er einer der besten Schüler, die ich jemals hatte.“
„Professor Snape schien nicht darüber reden zu wollen.“, sagte Harry.
„Professor Snape und ihr Vater waren in vielen Dingen nicht einer Meinung.“, entgegnete Professor McGonnagal.
„Wie meinen Sie das?“, fragte Harry.
„Das soll Ihnen besser Professor Snape erklären.“, antwortete Professor McGonnagal und es war ihr offensichtlich unangenehm. „Aber egal, was er Ihnen erzählt, Ihr Vater war ein guter Mann und wird es auch bleiben.“
Harry wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. Das klang so als ob sein Vater irgendetwas schlimmes getan hätte. Vielleicht sollte er wirklich Snape noch einmal danach fragen?
„Okay.“, sagte Harry nur und verließ das Zimmer.
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Severus saß am Nachmittag in seinem Büro und korrigierte einige Arbeiten. Dabei ging ihm das Bild dieses zerfetzten Einhornes nicht aus dem Kopf. Die Vorstellung, dass Voldemort im Verbotenen Wald hauste und Einhörner aussaugte machte ihm zugegeben Angst. Albus hatte es ihm ja jahrelang gesagt, aber Severus blockte den Gedanken immerzu ab. Für ihn war Voldemort damals gestorben, zusammen mit Lily und James Potter. Der Gedanke, dass der Dunkle Lord, wie auch immer, überlebt haben könnte war einfach zu schrecklich.
Es klopfte an der Tür.
„Herein!“, rief Severus harsch.
Zu seiner Überraschung war es Harry Potter, der eintrat. Der Junge ließ sich auf dem Hocker vor seinem Schreibtisch nieder. Er wirkte niedergeschlagen.
„Was kann ich für dich tun?“, fragte Severus.
„Ich wollte gern mit Ihnen reden. Wegen meines Vaters. Professor McGonnagal meinte er sei der beste Sucher des Hauses Gryffindor gewesen. Großartiger Schüler.“
„Und?“, fragte Severus.
„Sie meinte aber auch, dass Sie das völlig anders sehen würden.“, sagte Harry.
Severus lehnte sich zurück. Er warf die Stirn in Falten und rieb sich die Nasenwurzel.
„Das Verhältnis zwischen mir und James war, gelinde gesagt, kompliziert. Ich verstehe, dass du wissen möchtest wer deine Eltern waren.“, sagte Severus.
„Alle erzählen mir wie sehr ich meinem Vater ähnle und wie toll er in Quidditsch war, aber ich weiß eben gar nichts über ihn.“
Severus antwortete nicht sofort. Jetzt war der Moment gekommen, den er wochenlang vor sich her geschoben hatte. Harry hatte Fragen und ganz offensichtlich hatten ihn Minervas Antworten nicht so zufriedengestellt wie er gehofft hatte. Mit einem alleskönnenden, heldenhaften Idealbild als Vater konnte halt kein Elfjähriger mithalten.
„Zu denen, die ihm Nahe standen war James sicherlich der große Held als den ihn alle gern sehen wollen. Wenn ihm jedoch deine Nase nicht passte, dann war er das pure Gegenteil.“, sagte Severus. „Er war nicht mein Freund. Im Grunde haben wir uns gehasst vom ersten Tag an. Er konnte halt ein widerlicher, arroganter Mistkerl sein.“
„Und meine Mutter?“, wollte Harry wissen.
Na großartig!, dachte Severus. Vom Regen in die Traufe!
„Sie war … etwas Besonderes.“
„Wieso?“, fragte Harry.
„Weil ...“ Severus stoppte sich. Er konnte einem Elfjährigen gegenüber wohl kaum sein Herz ausschütten. Mal abgesehen davon wie das geklungen hätte! Weil ich deine Mutter geliebt habe, Harry, und James sie nicht im geringsten verdient hatte! Weil, wenn alles anders gekommen wäre, ich dein Vater hätte sein können? Wie absurd das schon in seinem Kopf klang! Ja, er hatte es nie verwunden, dass sie einen Troll wie James Potter ihm vorgezogen hatte. Andererseits war er daran ja auch nicht ganz unschuldig.
„Ich will damit nur sagen, dass sie eben ein besonderer Mensch war.“, sagte Severus schließlich. „Sehr klug und einfühlsam eben. Hatte ein Talent für Alchemie. Vielleicht lag es daran.“
„Ich wünschte, ich hätte sie gekannt.“, antwortete Harry.
Severus wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Auf die Sehnsucht eines Kindes zu seinen Eltern.
„Also gut. Danke, das ich mit Ihnen reden konnte.“, sagte Harry und stand auf. Er schien jetzt noch niedergeschlagener als vorher. Dummer Weise fiel Severus nichts ein, was ihn hätte irgendwie aufbauen können.
Harry verließ das Büro.
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Harry saß bedrückt vor dem Kamin im Gemeinschaftsraum der Slytherins. Er dachte über die Worte von Snape und McGonnagal nach. Die Wahrnehmung seiner beiden Lehrer unterschied sich fundamental. Nach wie vor war sich Harry bei Snape aber am unsichersten. Er wurde einfach nicht schlau aus dem Mann.
Unvermittelt fläzte sich Draco zu ihm auf das Sofa. Nach der Sache beim Flugunterricht hatten sie eine ganze Weile nicht miteinander geredet. Draco aus Trotz und Harry, weil er das Verhalten seines Kumpels so ätzend fand. Nach vier Wochen gemeinsamer Strafarbeiten unter den scharfen Augen ihres Hauslehrers war ihnen jedoch irgendwie die Lust daran vergangen sauer aufeinander zu sein.
Draco hatte die Zeitung Der Tagesprophet in der Hand und schlug sie auf. Auf der Titelseite fiel ihm jedoch ein Artikel über Gringotts auf. Harry war mit Hagrid dort gewesen, um sein Geld zu holen. Er hatte dabei mit den Kobolden immer vom Sie-wissen-schon-was in Verlies Sie-wissen-schon-welches gefaselt. Als sie dort waren konnte Harry jedoch trotz aller Neugierde nicht herausfinden, um was es sich dabei handelte.
Er schnappte sich die Titelseite von Dracos Zeitung.
„He!“, empörte der sich.
„Du ließt doch eh nur den Sportteil!“, erwiderte Harry und sah sich den Artikel näher an.
Ein Einbruch in Gringotts und ausgerechnet in dem Verlies in dem er mit Hagrid war.
„Was ist denn da so interessant?“, fragte Draco.
„An dem Tag an wir uns in der Winkelgasse das erste Mal getroffen haben, erinnerst du dich?“
Draco nickte verstehend.
„Da war ich mit Hagrid in der Zaubererbank. Dort waren wir in einem Verlies aus dem er irgendetwas geholt hat und genau dieses Verlies wurde jetzt ausgeraubt!“, sagte Harry.
„Vielleicht ein Zufall?“, fragte Draco.
„Glaub ich nicht!“, hielt Harry dagegen.
„Na schön, aber egal was es war, die haben es nicht gekriegt, oder? Also warum sich dann den Kopf darüber zerbrechen?“, erwiderte Draco gelangweilt.
„Na weil ...“, doch Harry konnte nicht sagen warum es ihm so wichtig vorkam. Weil er eine Ahnung hatte und Hagrids Geheimniskrämerei ihn neugierig gemacht hatte?
„Hagrid sagte in dem Verlies habe etwas wichtiges für Hogwarts gelegen.“, holte Harry noch einmal aus.
„Aber es ist nicht mehr dort.“, fing Draco wieder an.
„Willst du denn gar nicht wissen, was es war, dass so wichtig für Hogwarts ist, dass man ein eigenes Verlies dafür braucht?“, fragte Harry.
„Warum bist du nur so neugierig?“, sagte Draco. „Es ist nicht gut seine Nase in Sachen zu stecken, die einen nichts angehen!“
„Vielleicht hast du recht.“, gab sich Harry geschlagen. Vorerst.