Der Weihnachtstag zog sich etwas, aber im Hause Malfoy gab es in der Regel genügend Ablenkung. Severus vertrieb sich die Zeit mit einem guten Wein und seiner üblichen Stöberei in der Bibliothek des Anwesens. Meist fand er auch etwas Lesenswertes.
Nach dem Abendessen fand er Harry und Draco am Tisch vor dem Kamin vor, wo sie eine Partie Schach spielten.
„Und wer gewinnt?“, fragte Severus die beiden Jungs.
„Schwer zu sagen.“, erwiderte Draco.
„Schach“, sagte Harry.
„Was? Wieso!?“, ereiferte sich Draco und suchte hektisch nach einem Weg seinen König doch noch zu retten, doch es war zu spät. Harry hatte ihn ordentlich in die Zange genommen und zwei Züge später war Dracos König Matt gesetzt.
„Onkel Sev, willst du vielleicht? Ich hab keine Lust mehr!“, sagte Draco und erhob sich aus seinem Sessel und lümmelte sich auf die Couch.
Severus setzte sich in den Sessel gegenüber von Harry und stellte die Figuren wieder auf.
„Welche Farbe?“, fragte Harry.
„So wie das sehe … schwarz, was sonst?“
Severus hatte sich immer für einen guten Schachspieler gehalten, aber dieser verdammte Junge brachte ihn mehr als einmal in Bedrängnis. Am Ende war kaum noch eine Figur auf dem Feld, da sie beide in etwa gleich stark waren und die meisten ihrer Figuren gegenseitig gesprungen hatten. Severus strich sich überlegend über die Stoppeln an seinem Kinn. Dann machte er einen Zug, den er gleich bereute. Harry sprang seine Dame und setzte im gleichen Zug seinen König Matt.
„Du warst nicht zufälliger Weise in einem Schachclub?“, fragte Severus ihn.
„Nein, aber ich habe viel mit unserer Nachbarin gespielt.“, sagte Harry.
„Nachbarin?“
„Misses Figg. Eine ältere Dame mit vielen Katzen. Ich war manchmal bei ihr, wenn ich es bei den Dursleys nicht mehr ausgehalten habe.“, erklärte Harry.
Severus kannte die gute Arabella. Eine Squib, die für Dumbledore den Beobachtungsposten spielte. Sie informierte ihn auch über die Vorkommnisse bei Harrys Verwandten. Leider war Blut dicker als Wasser. In diesem Fall sogar wortwörtlich und so blieb ihnen nichts anderes übrig als Harry in seiner Unwissenheit bei seinem Onkel und seiner Tante zu lassen.
Severus spielte einige Partien mit Harry. Er konnte von Glück reden, dass sie nicht um Geld spielten ansonsten hätte der Junge ihn völlig bankrott gehen lassen. Sein taktisches Denken war durchaus beeindruckend für einen Elfjährigen.
Nach dem Abendessen bezog Severus sein Zimmer im oberen Stock. Eines der Gästezimmer. Groß und geräumig, sogar mit eigenem Badezimmer. Da er meist Probleme mit dem Einschlafen hatte lag Severus auf dem Bett und las noch ein Buch. Vermutlich die beste Methode um nachhaltig müde zu werden. Dann klopfte es jedoch an der Tür. Verwirrt sah er auf. Wer konnte das um diese Zeit sein? Severus öffnete und erblickte Harry Potter.
„Solltest du nicht im Bett sein?“, fragte Severus streng.
„Ich kann nicht schlafen.“, antwortete Harry.
„Na schön, warum nicht.“, sagte Severus und ließ ihn eintreten.
Harry setzte sich auf das Bett und sein Lehrer ließ sich neben ihm nieder. Einige Augenblicke sagte keiner ein Wort.
„Glauben Sie, dass die Muggel uns hassen?“, fragte Harry schließlich.
„Warum? Wer hat das behauptet?“, sagte Severus, obwohl ihm ziemlich klar war von wem diese Aussage wohl stammte.
„Mister Malfoy. Ich habe ihm von meinen Verwandten erzählt. Klar, die Dursleys sind furchtbar, aber sie können doch nicht alle so sein, oder?“, fragte Harry.
„Es gibt gute Menschen und schlechte Menschen. Das hat mit Magie überhaupt nichts zu tun.“, antwortete Severus.
„Und die Muggelgeborenen? Die sind doch im Grunde Zauberer, aber Mister Malfoy meinte sie seien nur auf unsere Macht scharf.“, sagte Harry.
„Unsinn!“, entgegnete Severus. „Deine Mutter war eine Muggelgeborene und sie war ein großartiger Mensch. Talentiert, fleißig, gütig. Wahrscheinlich eine der besten Menschen die ich je gekannt habe. Da hätten sich einige der Reinblüter noch eine Scheibe von abschneiden können.“
„Was bedeutet das so richtig? Reinblüter?“, fragte Harry.
„Das ist schwierig zu erklären. Wenn ein Zauberer magische Eltern hat, dann ist er theoretisch ein Reinblüter. Es gibt Familien wie die Malfoys, da heiraten seit Generationen nur Magier und Magier, verstehst du? Und dann gibt die Halbblüter, wo ein Elternteil ein Muggel ist oder eben die Muggelgeborenen, wo beide Eltern Muggel sind und sich Magie trotzdem in den Kindern Bahn bricht. Es ist Unsinn zu sagen der eine sei mehr wert als der andere. Das Blut hat nichts mit dem Charakter zu tun.“, erklärte Severus.
„Das heißt ich bin ein Reinblüter, oder?“, fragte Harry.
„Das kann man wohl so ausdrücken.“, sagte Severus.
„Und Sie?“, fragte Harry.
„Meine Mutter war eine Zauberin, aber ich vermute das macht kaum einen Unterschied.“, erwiderte Severus. „Hör nicht auf das, was Lucius sagt. Er hängt in seinem eingefahrenen Weltbild fest. Sag ihm das aber bloß nicht!“
Wieder schwiegen sie. Severus war die ganze Situation etwas unangenehm. Warum musste ausgerechnet er es sein, der Harry die Rassentheorie der Magier darlegte? Albus hätte bestimmt viel bessere Worte gefunden.
Plötzlich schrie Harry auf. Er griff sich an die Stirn und kauerte sich zusammen. Severus stürzte zu ihm, doch so schnell wie der Anfall gekommen war so schnell war er auch vorbei. Harry stützte sich schwer atmend auf.
„Geht es dir gut?“, fragte Severus.
„Es ist meine Narbe. Sie zwickt immer wieder, mal mehr mal weniger. In letzter Zeit scheint es aber heftiger zu werden.“, sagte Harry.
„Und wann wolltest du jemanden davon erzählen?“, erwiderte Severus.
„Ich habe mir nichts dabei gedacht.“, entgegnete Harry.
Das glaubte Severus ihm sogar. Wenn man Schmerz gewöhnt war, dann lernte man ihn zu ignorieren. Er wusste das leider nur all zu gut.
„Du weißt, dass deine Narbe keinen natürlichen Ursprung hat?“
Harry nickte.
„Meinen Sie damit sie schmerzt wegen Vol... ähm, ich meinte Du-weißt-schon-wer?“, fragte er.
„Es macht mir nichts aus seinen richtigen Namen zu hören und ja, das könnte sein. So genau weiß das aber niemand.“, antwortete Severus.
„Wissen Sie, was das Schlimmste ist?“, sagte Harry unvermittelt. „Das ich mich immer fühle wie ein Freak. Selbst jetzt. Wegen dieser Narbe und alldem.“
Severus atmete tief. Das war beileibe keins seiner Lieblingsthemen.
„Ja, das kann ich verstehen.“
„Wirklich? Oder sagen Sie das nur so?“, fragte Harry.
„Als ich in deinem Alter war habe ich mich auch immer so gefühlt und ehrlich gesagt auch noch lange danach. Ich war nicht unbedingt ein Favorit für den Beliebtheitswettbewerb, wenn du verstehst.“, sagte Severus.
„Und wie sind Sie da raus gekommen?“, fragte Harry.
„Gar nicht.“, antwortete Severus. „Ich habe es irgendwann akzeptiert, dass ich nun mal nicht so bin wie die anderen.“
„Was war es bei Ihnen?“, fragte Harry.
„Introvertiertheit und sagen wir einige exotische Hobbys. Niemand will etwas mit einem grüblerischen Einzelgänger zu tun haben, der seine Zeit lieber mit Pflanzen als mit Menschen verbringt.“, entgegnete Severus. Er wusste selbst nicht warum er ausgerechnet gegenüber Harry so offen war. Normalerweise hätte er das niemanden erzählt.
„Und meine Mutter?“, fragte Harry. „Sie reden über sie als sei sie ...“
„Etwas besonderes gewesen.“, beendete Severus den Satz.
„Ja.“, sagte Harry.
„Vielleicht war es Mitleid mit dem armen Tropf, der ich war.“ antwortete Severus. „Vielleicht hat sie aber auch tatsächlich etwas in mir gesehen, dass ich nicht sah. Ich weiß es nicht. Ich konnte sie nicht mehr fragen. Hab zu lang gewartet.“
Severus spürte wie es ihm die Kehle zuschnürte. Er versuchte ruhig zu atmen, doch die Erinnerungen, die in ihm hoch kamen waren immer noch so übermächtig. Tief in sich wusste Severus, dass sein Hass auf James im Grunde der Hass auf sich selbst war. Weil er es versaut hatte und dieser elende Potter ihm dann auch noch das einzige wegnahm, was ihm je etwas bedeutet hatte. Immer wenn er daran dachte hätte er am Liebsten seinen Kopf gegen die nächste Wand geschlagen, doch was hätte das genützt? Alte Wunden bluteten genauso wie Neue. Egal was dieser dämliche Spruch sagte.
„Entschuldigung.“, sagte Harry, der offensichtlich bemerkt hatte wie still sein Lehrer geworden war. „Ich hätte nicht ...“
„Es ist okay. Ist alles verdammt lange her.“, antwortete Severus, doch das Zittern in seiner Stimme strafte ihn lügen.
Wieder schwiegen sie sich an.
„Konnten Sie deshalb meinen Vater nicht leiden?“, fragte Harry dann jedoch unvermittelt.
Severus zögerte. Sollte er darauf wirklich ehrlich antworten?
„Das ist kompliziert.“, antwortete er.
„Das haben Sie schon einmal gesagt.“, erwiderte Harry.
„Dein Vater konnte einem das Leben wirklich zur Hölle machen. Genauso wie seine Freunde. Ich weiß, jeder erzählt dir wie toll er war, aber er drangsalierte nur zu gern andere. Sagen wir einfach ich war das perfekte Opfer.“, sagte Severus bitter.
„Und das war alles?“, fragte Harry etwas enttäuscht.
„Was soll das bitte heißen?“, entgegnete Severus ungehalten.
„Ich bin nicht blöd, wissen Sie.“, antwortete Harry. „Mein Vater war also ein echter Arsch. Gut, das verstehe ich. Meine Mutter hat Ihnen aber mehr bedeutet.“
Was erlaubte sich dieser Elfjährige da eigentlich?, dachte Severus verärgert.
„Du weißt doch gar nicht wie das war! Wie dein Vater auf alle herabgeschaut und sie getreten hat! Und Lily, sie … sie ...“
Severus packte Harry am Arm und schleifte ihn zur Tür.
„Gute Nacht, Harry!“, sagte Severus finster und warf ihn aus dem Zimmer, nur um ihm anschließend die Tür vor der Nase zuzuschlagen.
Severus' plötzliche Wut auf den Jungen , weil dieser nicht aufhören konnte in alten Wunden zu stochern, machte ihn für einen Augenblick rasend. Vielleicht wusste Harry es wirklich nicht besser? Wie auch? Er war erst elf. Er hatte den Schmerz, den Liebe verursachen konnte noch nicht zu spüren bekommen. Jetzt konnte Severus erst recht nicht mehr schlafen.
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Harry tat die ganze Nacht kein Auge zu. Das Gespräch mit Snape ging ihm die ganze Zeit durch den Kopf. Sein Lehrer hatte offenkundig viel mehr für seine Mutter empfunden als er zugab. Harry war vielleicht erst elf, aber er war kein Idiot. Auf der anderen Seite konnte er ihn aber auch verstehen. Wenn sein Vater wirklich so ein Arsch war wie Snape behauptete und er dann auch noch seine Mutter heiratete. Harry wusste wie es war immer der zu sein auf dem man herumtrampelte. Sein Lehrer schien ähnliches durchgemacht zu haben.
Als Harry am frühen Morgen aufstand überlegte er sich wie er es wieder gut machen könnte. Er wollte nicht, dass Snape auf ihn wütend war, weil er ihn so bedrängt hatte. Beim Frühstück sprach Harry kaum ein Wort mit Draco.
„Was ist denn mit dir los?“, fragte der irgendwann.
„Ach, nichts.“, sagte Harry. „Oder vielleicht doch. Ich weiß es nicht.“
„Du benimmst dich irgendwie eigenartig.“, bemerkte Draco.
Harry sah auf als die Tür zum Esszimmer aufschwang und ein sichtlich müder Snape den Raum betrat. Er würdigte die beiden Jungs keines Blickes und setzte sich an das andere Ende des Tisches. Möglichst weit weg. Unter dem Arm trug er eine Ausgabe des Tagespropheten und schlug sie auf. Harry konnte sehen wie seine Augen für einen Moment zu ihm huschten, er dann aber wieder stur in die Zeitung blickte. Er war sich ziemlich sicher, dass sein Lehrer noch immer ziemlich verärgert war.
Eine ganze Weile saßen sie am Tisch und ignorierten sich hartnäckig bis es Harry nicht mehr aushielt und zu Snape hinüber ging.
„Es tut mir leid.“, sagte Harry schuldbewusst.
„Hmm.“, brummte Snape nur finster.
„Ich hätte Sie nicht bedrängen sollen.“
„Ja, das hättest du nicht.“, erwiderte Snape. Er sah Harry nicht an, sondern blickte weiterhin nur verbissen in seine Zeitung.
Harry wandte sich von ihm ab und ging niedergeschlagen zurück zu Draco.
„Was war das denn?“, fragte er.
„Nichts.“, antwortete Harry. „Nur ein Missverständnis. Hoffe ich wenigstens.“
Den ganzen restlichen Weihnachtsfeiertag ignorierte Snape Harry aufs schärfste. Er fühlte sich wirklich miserabel wegen dieser Sache und sein Lehrer ließ ihn spüren, dass er ihm nicht so einfach vergab. Warum konnte Harry auch nicht einfach seine Klappe halten? Warum musste er ihn belästigen, obwohl er sah wie schwer ihm das Thema fiel? Vielleicht hatte Harry aus dummer Neugier heraus den Bogen überspannt, weil er gern wissen wollte was für Menschen seine Eltern waren. Oder vielleicht auch weil er wissen wollte was Snape für ein Mensch war, dass er offensichtlich noch immer so viel für seine Mutter empfand. Harry würde in nächster Zeit wohl lieber etwas Abstand von ihm halten. Sicher beruhigte er sich irgendwann. Zumindest hoffte Harry das.