Harry lag auf der Couch im Gemeinschaftsraum der Slytherins und sah in die Flammen des Kamins. Die letzten Schulwochen waren enorm anstrengend gewesen. Nicht nur weil sie mit Hausaufgaben bombardiert wurden, sondern auch weil die Jahrgangsprüfungen anstanden und sie aus dem Lernen gar nicht mehr heraus kamen. Dazu noch das Quidditschtraining und sein Wochenplan war völlig überfüllt. Harry war über jede Minute froh, die er rumliegen und dösen konnte. Draco ging es in der Beziehung wenig besser. Auch er steckte über beide Ohren in seinem Stoff, nur dass er offenkundigere Probleme mit bestimmten Fächern hatte wie Zaubertränke oder Kräuterkunde. Harry war kein Überflieger, aber gut genug, um Draco zu helfen.
„Oh Mann, ich werd's bestimmt verkacken!“, sagte Draco.
„Red dir das nur ständig ein, dann passiert es auch!“, erwiderte Harry genervt.
Als der Tag der Prüfungen gekommen war saßen sie auf ihren Plätzen mit rauchenden Köpfen. Die größten Probleme hatte er in Verwandlung. Er hatte das ganze Jahr über einfach nicht den Kniff rausbekommen. Vielleicht war er auch zu ungeduldig, auf jeden Fall brachten ihn die praktischen Prüfungen ordentlich ins Schwitzen als sie Nadeln in Streichhölzer und wieder zurück verwandeln sollten. Die Prüfungen in Verteidigung gegen die Dunklen Künste gelangen ihm gefühlt besser, auch wenn der ewig stotternde Professor Quirell seiner Konzentration nicht gut tat.
Nach einer Woche voller Tests und Bewertungen war Harry nur froh es endlich hinter sich haben. Völlig geschafft wanderte er über die Ländereien in der Hoffnung, dass die frische Luft ihm den Dunst aus dem Kopf blasen würde. Harry ließ sich unter der großen Eiche am See nieder. Angestrengt schloss er die Augen. Er hatte Kopfschmerzen und seine Narbe brannte einmal mehr. Normalerweise ignorierte er den Schmerz. Heute jedoch dachte er zeitweise sein Kopf würde platzen. Er fragte sich, ob er damit zu Snape gehen sollte, aber er wollte nicht wie ein Hypochonder wirken. Es würde sich schon irgendwann wieder geben, so wie sonst auch.
So im Gedanken und mit vom Schmerz vernebelten Kopf bemerkte Harry gar nicht wie sich ihm jemand nährte. Ein heller Lichtblitz und Harry verlor das Bewusstsein.
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Als Harry wieder erwachte befand er sich in einem seltsamen, großen Raum. In der Mitte stand ein großer Spiegel und an den Wänden hingen Feuerschalen. Er war sich sicher, dass er diesen Teil des Schlosses noch nie gesehen hatte. Harry bemerkte, dass ihn jemand geknebelt und Hände und Füße mit einem Seil zusammengebunden hatte. Er versuchte sich zu befreien, doch es zwar zwecklos. Die Stricke saßen viel zu fest und schnitten in seine Haut. Er hörte Schritte und sah sich um. Ein großer Mann in einer schwarzen Robe trat vor den Spiegel. Er hatte sich die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Lange sah er in den Spiegel, dann umkreiste er ihn immer wieder.
„Sieh nur, unser Freund ist aufgewacht!“, sagte eine schneidende Stimme und der Mann drehte sich zu ihm herum. „Es tut mir leid, dass ich dich so verpacken musste, aber sicher ist sicher, nicht wahr?“
Harry hätte gern gefragt, was das alles sollte, doch der Knebel in seinem Mund hinderte ihn daran.
„Oh ja, richtig, so wird unsere kleine Unterhaltung eventuell etwas einseitig.“
Der Mann kam auf ihn zu und zog ihn den Knebel aus dem Mund.
„Wer sind Sie? Was wollen Sie?“, fragte Harry.
„Das musst du fragen? Sehr enttäuschend.“, gab der Mann zu bedenken.
„Voldemort.“, hauchte Harry, dem plötzlich ein Licht aufging.
„Na immerhin etwas, wenn auch nicht ganz korrekt.“, sagte der Mann und hob sich die Kapuze vom Kopf. Zum Vorschein kam ein Mann, den er nicht erwartet hatte: Professor Quirell. Er sah jedoch irgendwie verändert aus. Auf seinem Kopf thronte kein Turban, sondern sein Schädel war völlig kahl.
„Was?“, fragte Harry, der nicht verstand.
„Überrascht? Natürlich. Niemand verdächtigt den a-armen st-sto-tter-nden Pro-ffe-ssor Quirrell.“, sagte Quirrell und lachte leise.
„Dann waren Sie das mit dem Troll?“, fragte Harry.
„Oh, so ein schlauer Junge, findet ihr nicht auch Meister?“, sagte Quirrell, doch er war allein. Harry hatte keine Ahnung mit wem er da zu sprechen glaubte.
„Genug des Geplänkels! Bring ihn zu mir!“, ertönte plötzlich eine grauenvoll verzerrte Stimme.
Quirrell packte Harry am Kragen und zerrte ihn hinüber zum Spiegel. Er saß gefesselt auf dem Boden und blickte in den Spiegel. Zu einer Überraschung sah er nichts. Nicht einmal sein eigenes Spiegelbild.
„Das Harry Potter ist der Spiegel Nerhegeb.“, sagte die Stimme, die eindeutig nicht aus Quirrells Mund kam. „Er zeigt uns unsere tiefsten Wünsche und Sehnsüchte. Mich würde interessieren, was du darin siehst.“
Harry sah erneut in den Spiegel und entdeckte darin zwei Menschen, die ihm irgendwie bekannt vorkamen. Er brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass es sich wohl um seine Eltern handeln musste. Harry besaß keine Fotos, weshalb er auch nicht wusste wie sie aussahen. Im Spiegel jedoch sah er einen jungen Mann mit verstruppelten Haar und einer Brille, der Harry zum verwechseln ähnlich sah. Daneben eine Frau mit langem, roten Haaren und den grünen Augen, die Harry von sich kannte.
„Was siehst du?“, fragte die Stimme erneut.
„Ich … also … ich ...“, stammelte Harry. Quirrel gab ihn von hinten einen Tritt in die Rippen. „Meine Eltern! Ich glaube es zumindest.“
„Du glaubst es?“, fragte die Stimme belustigt. „Der große Harry Potter kann nicht einmal sagen wie seine Eltern aussehen?“
Harry packte die Wut. Diese Stimme, sie verhöhnte ihn obwohl sie genau wusste, dass seine Eltern tot waren! Harry warf sich auf den Knien gegen Quirell und riss ihn zu Boden. Mit den Fäusten prügelte er auf ihn ein.
„Sie sind tot! Du hast sie umgebracht!“
Quirell rappelte sich auf und packte Harry einmal mehr am Kragen.
„Oh, diese Wut. Wirklich köstlich.“, sagte die Stimme.
„Mach mich los, dann zeig ich dir ...“
Doch die Stimme lachte ihn nur aus. Quirrell bugsierte ihn wieder vor dem Spiegel.
„Schluss jetzt! Wir haben Wichtigeres zu tun!“, befahl sie Stimme. „Werde Zeuge meiner Macht, Harry Potter!“
„Argh, Meister, ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.“, sagte Quirell schmerzverzerrt. Er krümmte sich zusammen und spuckte Blut.
„Du warst ein nützliches Gefäß, doch ich habe ein noch wesentlich besseres gefunden.“, sagte die Stimme.
„Nein! Nein! Bitte nicht! Meister!“, rief Quirell unter Schmerzen.
Auf einmal brach er zusammen. Blut strömte aus Mund und Nase. Harry hingegen spürte plötzlich das seltsame Gefühl als würde etwas eine Barriere in seinem Kopf durchdringen. Er wollte sich dagegen wehren. Mit Krämpfen zuckte er und schrie. Dann spürte Harry wie sein Ich auseinander gerissen wurde. Voldemort hatte ihn überwältigt.
„Gut.“, sagte eine grausame Stimme, die nicht die seine war. „Sehr gut.“
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Draco wunderte sich den ganzen Tag über wo Harry blieb. Er suchte ihn in der ganzen Schule, doch er fand ihn nicht. Irgendwann machte Draco sich solche Sorgen, dass er Severus aufsuchte.
„Hast du Harry gesehen?“, fragte er seinen Paten ohne Umschweife.
„Nein, warum?“, entgegnete Severus.
„Ich kann ihn nirgends finden. Ich hab schon das ganze Gelände abgesucht.“
Auf einmal wirkte Severus sehr alarmiert.
„Komm.“, sagte er und rannte mit Draco im Schlepptau zum Büro des Schulleiters.
Als sie dort ankamen trafen sie jedoch nur Professor McGonnagal an.
„Wo ist Albus?“, fragte Severus.
„Oh, ihn erreichte eine eilige Eule aus dem Ministerium. Er ist sicher vor morgen Früh nicht zurück. Warum?“
„Gut, dann kommen Sie mit.“, sagte Severus.
„Warum?“, wiederholte Professor McGonnagal. „Severus, was ist denn los?“
„Harry ist verschwunden.“, platzte es aus Draco heraus.
Nun wurde auch Professor McGonnagal überaus nervös.
„Sie glauben doch nicht?“
„Was denn sonst?“, entgegnete Severus.
Draco hatte keine Ahnung worüber die beiden sprachen.
„Mister Malfoy, Sie bleiben hier.“, sagte Professor McGonnagal.
„Warum?“, fragte er energisch.
„Weil das nichts für einen Erstklässler ist, deshalb!“
„Aber …!“
„Tu was Sie dir sagt!“, schaltete sich nun Severus ein. „Es ist gefährlich. Bleib am besten hier. Falls der Schulleiter doch eher zurück kommt, dann sag ihm, dass wir im dritten Stock sind. Er wird wissen, was das heißt. Los jetzt!“
Severus und Professor McGonnagal verschwanden durch die Tür. Draco blieb missmutig zurück und setzte sich in einen der Sessel vor dem Kamin.
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Severus und Minerva eilten in den dritten Stock. Die Tür zu dem Raum in den Fluffy lebte war sperrangelweit offen. Der Hund schlief einen Dornröschenschlaf und die Falltür, die er sonst bewachte klaffte auf. Sie wusste beide, was das hieß.
„Nach Ihnen, Severus.“, sagte Minerva.
Severus sprang in den finsteren Schacht vor seinen Füßen und landete weich auf den Ranken der Teufelschlinge, die Professor Sprout hier angepflanzt hatte. Schnell erhob er sich bevor die Pflanze sich um seine Gliedmaßen wickeln konnte. Wenig später fiel Minerva aus dem Schacht in das weiche Bett aus todbringenden Schlingpflanzen. Er half ihr auf und sie gingen den Gang entlang weiter.
„Ob die anderen Fallen noch aktiv sind?“, fragte Minerva.
Die Antwort darauf folgte auf dem Füße als sie in den nächsten Raum traten. Ein riesiges Schachbrett auf dem ein Haufen zertrümmerter Figuren lagen.
„Ich deute das als ein Nein.“, entgegnete Severus.
Schnell überquerten sie das Schachbrett. Im nächsten Raum wartete ein Besen und tausende von geflügelten Schlüsseln. Die Tür, die weiter führte, war ebenfalls offen. Der Troll im darauffolgenden Raum lag bewusstlos auf dem Boden. Sie gingen weiter. Die Falle in dem Raum in den sie jetzt kamen hatte Severus selbst entworfen. Wie er sah war das Fläschchen mit dem richtigen Trank bereits getrunken worden. Er wusste jedoch wie man die Feuerwand vor ihnen auch ohne passieren konnte. Er holte seinen Zauberstab aus der Tasche. Mit einem Schlenker gefroren die Flamen zu Eis und mit einem weiteren zerbarsten sie zu Kristallen. Sie stiegen durch die Öffnung hinunter in den letzten Raum.
Dort entdeckten sie den Spiegel und zu ihrer Überraschung Quirrell, der in einer Blutlache tot davor lag. Von Harry jedoch keine Spur.
„Potter?!“, rief Minerva. Keine Antwort.
Severus ging zu Quirrells Leiche und sah sie sich näher an. Blut rann noch immer aus allen Körperöffnungen und warm war er auch noch. Sein Tod konnte noch nicht all zu lange her sein.
„Ah“, hörte sie eine grausam verzerrte Stimme sagen. „Severus Snape und Minerva McGonnagal, welche eine Überraschung.“
Rücken an Rücken sahen sie sich um. Sie konnten jedoch nicht den Ursprung dieser furchtbaren Stimme, die sie nur allzu gut kannten, ausmachen. Dann trat jedoch ein Junge aus dem Schatten. Es war Harry, doch er war nicht er selbst. Sein Blick wirkte nicht wie der eines Elfjährigen, sondern finster und bösartig. Severus kannte diesen Blick, diesen Ausdruck in den Augen, allerdings nicht von Harry, sondern von Voldemort.
„Nein!“, hauchte Minerva, doch Severus hielt sie zurück.
„Richtig so, wir wollen ja schließlich nicht, dass Harry was passiert, nicht wahr?“, fragte der Junge und lachte anschließend gehässig.
„Lass ihn gehen!“, entgegnete Severus und deutete mit den Zauberstab auf ihn.
„Aber warum denn? Ich fange doch gerade erst an Spaß mit ihm zu haben. Der große Harry Potter und so voller Zweifel. Er hat noch nicht einmal seine Eltern im Spiegel erkannt. Der arme Junge. Und er hat mir noch etwas Interessantes offenbart; das du, Severus Snape, in ihm mehr als einen Schüler sieht. Wirklich rührend wie du dich um ihn kümmerst. Man könnte meinen du entwickelst Vatergefühle. Kann man sich das vorstellen? Der Sohn deines größten Feindes. Des Mannes, der dir die Frau weg genommen hat, die dir am meisten bedeutet hat. Was ist das? Eine Art Selbstgeißelung?“
Severus versuchte ruhig zu bleiben. Voldemort oder das was von ihm in Harry war versuchte nur ihn zu provozieren.
„Tun Sie nichts unvernünftiges.“, flüsterte Minerva ihm zu.
„Wir müssen ihn von Harrys Körper trennen ohne ihn zu töten.“, entgegnete Severus ihr leise.
„Na na na, Severus, wir wollen doch alle hören, was du zu sagen hast.“, sagte der Junge höhnisch.
Severus hob die Hände, den Zauberstab noch zwischen den Fingern und ging langsam auf ihn zu.
„Nun, der Dunkle Lord, was? Lange nicht mehr gesehen.“, sagte er im Plauderton.
„Früher hättest du es nicht gewagt so mit mir zu sprechen.“, erwiderte der Junge.
„Tja, so ohne richtigen Körper, als wandelnder Parasit, da leidet wohl die Autorität.“
„Dir wird das Lachen schon noch vergehen.“, entgegnete der Junge scharf und ging an ihm vorbei zum Spiegel. Er stand davor, mit gierigem Blick ob des Unerreichbaren.
„Der Stein will wohl nicht so wie du?“, fragte Severus.
„Vielleicht habe ich ihn ja schon.“, sagte der Junge.
„Wenn du ihn hättest würdest du sicher nicht deine Zeit damit verschwenden im Körper eines Elfjährigen herumzulungern.“, entgegnete Severus.
Der Junge bleckte gefährlich die Zähne.
„Muss aber auch nervig sein. Erst stirbt man bei dem Versuch ein Baby zu töten und dann muss man als Schatten zwischen dem Ungeziefer umherspringen bis man endlich mal einen Idioten findet, der einen richtigen Körper besitzt. Ach und dann noch der lange Weg. Hoffentlich nicht zu Fuß.“, provozierte Severus ihn weiter.
„Du wagst es?“, rief der Junge zornig.
„Der alte Lord Voldemort hätte sich das nicht gefallen lassen. Er hätte mich schon längst niedergestreckt. Worauf wartest du also? Hier bin ich.“
Mit einem wütenden Schrei stürzte sich der Junge auf ihn. Auch wenn Voldemort nur den Körper eines Kindes besetzte so war seine Kraft unnatürlich. Er rang Severus nieder. Minerva versuchte ihn von hinten zu packen.
„Schnell, der Spiegel!“, rief Minerva.
Severus wand sich unter dem Jungen heraus. Er packte ihn an den Beinen und schleifte ihn zusammen mit Minerva zum Spiegel. Sie versuchten ihn zu fixieren.
„Harry, falls du mich hören kannst, das tut mir jetzt wahnsinnig leid.“, sagte Severus und hielt den Zauberstab an die Schläfe des Jungen, der sich schreiend mit Händen und Füßen wehrte. Er versuchte die magische Energie des Seelenteils zu packen, der nicht zu Harry gehörte. Es dauerte einige Augenblicke, doch als er ihn hatte schleuderte er ihn mit aller Kraft mit dem Zauberstab in Richtung des Spiegels. Eine schwarze Wolke verfinsterte die Oberfläche und Severus konnte spüren wie Harrys Körper schlaff wurde. Der im Spiegel gefangene Schatten allerdings tobte.
„Das wirst du bereuen!“, schrie die verzerrte Stimme. „Warte nur! Ich werde dich vernichten, Severus Snape!“
Der Schatten schlug von Innen gegen den Spiegel und versuchte das Glas zu durchbrechen. Risse und Sprünge bildeten sich bereits. Severus warf sich gegen den schweren Rahmen.
„Nein! Nein! Neeeeeiiiiin!“, rief der Schatten im Inneren verzweifelt.
Mit einem unbeschreiblichen Scheppern zerbarst der Spiegel Nerhegeb auf dem harten Steinboden. Severus war sich sicher das brachte mehr als nur sieben Jahre Unglück. Noch bevor den Gedanken zu Ende gebracht hatte riss ihn eine Welle reiner Energie von den Füßen. Das kalte Lachen Voldemorts in Ohren, welches jedoch nach und nach erstarb. Mit vom Glas zerschnittenen Armen erhob er sich. Der Schatten war weg.
Severus stürzte zu Minerva, die Harry in ihren Armen hielt. Er fühlte nach dem Puls des Jungen. Nichts.
„Tu mir das nicht an!“, sagte Severus. „Nein, tu mir das nicht an!“
Er nahm Harry und drückte ihn an sich. Das durfte nicht sein! Das konnte nicht sein! Severus spürte wie ihm die Tränen kamen. Dann jedoch rührte sich der kleine Körper in seinen Armen. Harry hustete und schnappte nach Luft. Severus lockerte seinen Griff. Ihm fiel mehr als nur ein Stein vom Herzen.
„Kommen Sie.“, sagte Minerva.
Severus trug Harry in seinen Armen hoch in das Schloss und von dort aus in den Krankenflügel. Zusammen mit Madam Pomfrey kümmerte er sich um den Jungen. Mehr noch, er wich ihm nicht mehr von der Seite. Severus verbrachte die Nacht an seinem Bett bis er schließlich auf dem Stuhl, auf dem er saß, einschlief. Am Morgen wurde er geweckt als laute Schritte sich ihm nährten. Severus rieb sich müde den Nacken und erblickte Albus. Der zog sich einen weiteren Stuhl heran und setzte sich.
„Minerva hat mir alles erzählt.“, sagte er. „Nur schade um den Spiegel.“
„Ich hatte, fürchte ich, keine andere Wahl.“, erwiderte Severus.
„Es braucht in der Regel einige Zeit bis ein gebannter Schatten sich wieder zusammensetzt. Fürs Erste sollten wir also Ruhe vor Voldemort haben.“
„Er wird es zweifellos wieder versuchen.“, entgegnete Severus.
„Sicher. Irgendwann.“, sagte Albus. „Immerhin wissen wir jetzt womit wir es zu tun haben.“
„Wissen wir das?“, fragte Severus. „Ich fürchte, beim nächsten Mal könnte er wesentlich mehr im Petto haben.“
„Minerva hat mir auch erzählt wie Sie sich um Harry gesorgt haben.“, wechselte Albus das Thema.
„Hmm.“, machte Severus.
„Zu sagen ich wäre nicht überrascht wäre gelogen.“
„Was wollen Sie denn hören?“, sagte Severus.
„Ich? Gar nichts. Vielleicht ist es ja auch gut so. Harry braucht jemanden, der sich um ihn kümmert wie ein … nun ja … Vater.“
Severus antwortete nichts darauf. Tief in sich hatte er diese letzte Nacht gespürt, dass er den Jungen liebte. Nicht als Schüler. Nicht als Abkömmling von James Potter, sondern als den Sohn, den er nie hatte.
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Als Harry am nächsten Morgen erwachte spürte er noch den dunklen Schatten auf sich liegen. Er konnte sich an alles erinnern. Hilflos hatte er mit ansehen müssen wie Voldemort seinen Körper besetzte. Gelähmt bekam er alles mit was er sagte und tat. Harry rollte sich auf der Seite ein. Leise wimmernd, weil alles, was geschehen war ungehindert auf ihn einströmte.
Wenig später hörte er wie jemand an sein Bett kam. Es war Snape. Er setzte sich zu ihm und nahm ihn in den Arm.
„Es ist vorbei.“, sagte sein Lehrer. „Voldemort ist fort. Das sind nur böse Erinnerungen.“
Harry vergrub sein Gesicht Snapes Schulter. Er versuchte es zu unterdrücken, doch letztendlich begann er doch zu weinen und aus irgendeinem Grund fühlte es sich richtig an. Snape strich ihm durch das Haar und drückte Harry an seine Brust. Er wusste nicht wie lange sie so da saßen, wie lange sein Lehrer die Arme tröstend um ihn gelegt hatte. Irgendwann war Harry jedoch zu erschöpft um weiter zu weinen. Er setzte sich auf und rieb sich die Augen.
„Darf ich Severus zu Ihnen sagen?“, fragte Harry.
„Ja.“, antwortete Snape mit dem Anflug eines Lächelns. Er griff in die Innentasche seines Jacketts und holte ein altes, zerknittertes Bild heraus. Darauf waren seine Eltern zu sehen wie sie zusammen an einem windigen Herbsttag tanzten.
„Hier. Ich dachte, du würdest es vielleicht gerne haben.“, sagte Snape und reichte ihm das Foto.
Harry sah es sich an. Er hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet Snape, der seinen Vater so sehr hasste, ihm ein Foto seiner Eltern schenken würde.
„Ich danke Ihnen.“, antwortete Harry.
„Du.“
„Was?“, fragte Harry irritiert.
„Nicht Sie, sondern Du, wenn wir schon mal dabei sind.“, erwiderte Snape.
Harry wusste nicht, was er sagen sollte. Das Gefühl in seiner Brust, dass diese komplizierte Beziehung zwischen ihnen in irgendeiner Form richtig war ergriff erneut Besitz von ihm.
„Warum tust du das?“, fragte Harry.
„Weil es das Mindeste ist, was ich tun kann.“, sagte Snape.
Harry nickte.