"Wenn du schon eine halbe Stunde vor dem Essen was frisst, könntest du zumindest deinen Teller wegräumen!" Schrie seine Mutter und riss den Kühlschrank auf. Emil sah ihre Augen gefährlich blitzen, bevor sie seinem Vater die Wurstpackung vor die Brust donnerte. "Schmeiß das Zeug gefälligst weg, wenn es leer ist." Die Eltern sahen ihren Sohn nicht und so setzten sie mit dem Streit fort. "Ich war das bestimmt nicht," warf sein Vater zurück. "wahrscheinlich war es Emilia." Der Teenager zuckte zusammen als er seinen Geburtsnamen hörte. "Sie bringt vielleicht nichts in ihrem Leben auf die Reihe aber zumindest habe ich meiner Tochter ein paar Manieren beigebracht!" "Manieren?" fragte sein Vater, oder brüllte er eher. "Wenn du sie anständig erzogen hättest, würde sie jetzt nicht glauben, dass sie ein Kerl ist!" Emils Mutter stämmte die Hände in die Hüften. "Das ist nur eine Phase und überhaupt, wo warst du als es darum ging das Mädchen zu erziehen?" Wie Emil wusste, hatte seine Mutter diesen Punkt nie überwunden. "Achja richtig du warst mit deinem 20 Jahre jüngerem Flittchen auf Malle!" Der Vater des Jungen verkreuzte die Arme. "Was hast du erwartet?" Mit falscher Belustigung in der Stimme fuhr er fort: "Hätte ich etwa auf Knien vor dir ankriechen sollen nachdem du mich mit Füßen getreten hast?" Es war eine rhetorische Frage aber die hatte es in sich, doch Emils Mutter konnterte sofort: "Ich hätte dich eh nicht sehen wollen aber du hättest dich zumindest um deine Tochter kümmern sollen." "Ich hatte beseres zu tun!" sagte der Vater mit fester Stimme. Ihr Zuhörer hatte bis jetzt nur im Türrahmen gestanden, doch das letzte war einfach zu viel. Er war die Ignoranz seiner Eltern gewohnt aber selbst Emils Gedult hatte Grenzen. Wortlos ging er in sein Zimmer, packte Sachen für mehrere Tage, plus Zahnbürste/Handtuch ein und verlies das Haus.
Emil rief bereits zum dritten mal an und es dauerte acht Ewigkeiten bevor Martin endlich das Telefon abhob. "Hey bro hier ist Emil, ich wollte fragen ob ich heute bei dir pennen könnte?" Er hörte ein genervtes Grunzen aus der Leitung, dann antworte der andere Mann: "Junge, weisst du überhaupt welches Datum wir haben? Meine Mum reisst mir den Kopf ab, wenn an Weihnachten ein Fremder bei uns übernachtet." "Abe-" Ein vertrautes Knacken im Hörer stoppte ihn im Wort und lies den nun Obdachlosen völlig allein auf der Straße zurück. Niedergeschlagen zog Emil den Reißverschluss seiner Jacke höher und vergrub sein Kinn tiefer im Innenfutter. Die Kälte fuhr ihm allerdings trotzdem bis in die Knochen. Ohne weiter darüber nachzudenken trugen ihn seine Füße in irgendeine Richtung davon, erst später bemerkte der Teenager, dass er vor dem riesigem und verwahrlostem Garten der Helena Gipp stand. "Alte Gewohnheiten sterben nicht." Dachte sich der Junge.
Während er den Blick an der knorrigen Rinde entlang schleifen lies, rief Emil sich die Zeit die er in diesem Kirschbaum verbracht hatte wieder in Erinnerung. Seit er ein kleines Kind gewesen war saß er immer dann in diesem Baum, wenn seine Eltern untereinander oder er mit ihnen stritt. In dem Frühjahr bevor sich seine Eltern trennten kletterte er beinahe täglich an den blühenden Verzweigungen hoch und wartete bis seine Eltern zu ihm kamen und sich entschuldigten. Wie oft hatte er sich schon die Hände am Gehölz aufgerissen? Er konnte es nicht sagen.
Irgendwie war es schon ironisch. Die beiden hatten vorgeschlagen dieses Weihnachten als 'ganze und heile' Familie zu verbringen. Doch das ganze war furchtbar fehlgeschlagen. Emils Vater war am Morgen des 23. angekommen und von dem Moment an verbrachten die beiden Erwachsenen ihre Zeit damit sich gegenseitig zu beleidigen. Der Junge hatte sich inzwischen in die Baumkronen hochgezogen. Das letzte mal war er hier kurz vor seiner Firmung gewesen.
Damals wollte seine Mutter, dass er ein himmelblaues Kleid mit Hohen Schuhen und all dem anderm Mädchenkram trug. Stunden davor hatte sie ihm vom Friseur Korkenzieherlocken drehen lassen. "Mein kleines Mädchen sieht so hübsch aus." hatte sie immer wieder betont und Emil hätte am liebsten im Strahl gekotzt. Als die Frau schließlich versuchte ihm Makeup in das Gesicht zu schmieren, schloss er sich im Bad ein. Wütend trommelte seine Mutter gegen die Tür mit der einzigen Sorge nicht rechtzeichtig fertig zu werden, sollte er nicht sofort herraus käme. Doch Emil hörte nicht auf sie, sondern nahm einen Verband aus dem Medizinschrank und band sich die Brüste ab. Er streifte sich einen zu großen Hoodie über und blickte in den Spiegel. Sofort verengten sich seine Augen zu Schlitzen. Alles in allem fühlte er sich erheblich besser nachdem er jetzt endlich einen flachen Brustkorb hatte, andererseits fielen ihm unweigerlich die langen schwarzen Locken auf die sein Gesicht umrahmten und bis über seinen Rücken lagen. Plötzlich wusste er was er zu tun hatte.
Als Emil aus der Tür trat, drohten seiner Mutter die Augen aus dem Gesicht zu fallen. Er hatte sich die Haare kurz geschnitten, sehr kurz. Lange Haarsträhnen waren zu Boden gefallen, einige klebten am Stoff seines Pullovers fest. "Mama ich bin ein Junge, egal wie sehr du mir das Gegenteil weiß machen möchtest und du kannst mich nicht zwingen dieses Kleid zu tragen." verkündete er voller stolz. Die Ohrfeige die er daraufhin bekam hatte sich gewaschen.
Letzendlich war er an diesem Tag nicht gefirmt worden, seine Frau Mama hatte sich zu sehr für ihn geschämt. Nun ihm sollte das Recht sein, er hatte seinen Glauben eh schon lange verloren. Seiner Ansicht nach hätte ein Allwissender in nicht in den falschen Körper gesteckt. Ein schmerzvolles Lachen durch fuhr ihn und verwadelte sich schnell in verbitterte Schluchzer. Der Junge war so in Erinnerungen vertieft, dass er nicht hörte wie sich langsame und schleifende Schritte näherten.
"Ist dir nicht zu kalt da oben?" fragte eine melodische Stimme von unten. Vor Schreck wäre Emil beinahe vom Baum gefallen und als er sein Gleichgewicht endlich wieder gewonnen hatte, blickte er den Stamm hinunter. "Danke Helena aber mir ist nicht kalt." Die alte Dame, hatte sich eine Decke um die Schultern gewickelt, in ihren kurzen ergrauten Haaren steckten noch die Lockenwickler, und schüttelte den Kopf. "Ich kann dich sogar von hier unten zittern sehen. Komm runter, ich habe dir eine Tasse Tee gemacht." rief sie und hielt ein dampfendes Haferl voller schwarzem Tee mit aufgeschäumter Milch hoch. Als Kind hatte Emil die alte Dame häufig besucht und jedesmal hatte sie ihm Milchtee mit viel Zucker angeboten. Das war auch der Grund warum der Teenager schließlich vom Baum kam, nur um sich noch einmal wie ein Kind zu fühlen.
"Streiten deine Eltern?" fragte die Dame ihn. "Du kennst sie doch, Helena. All die Zeit hat nichts an diesen beiden Eseln geändert." erwiderte er mit einem traurigem Lächeln. Helena hakte sich daraufhin bei ihm ein und lies sich von ihrem Schützling zum Haus führen.
Nach langen Gesprächen vor dem Kamin stand Helena auf. "Möchtest du noch etwas zu trinken, mein Junge?" fragte sie und aus Emil brach ein Sturzbach an Tränen hervor. "Diese alte Frau," dachte er. "Diese alte Frau akzeptiert mich ohne das ich nur ein Wort darüber gesagt habe und seit 2 Jahren nicht mit ihr gesprochen habe aber meine Mutter ignoriet die offensichtlichsten Dinge." Helena fuhr ihm beruhigend durch die Haare und sagte: " Na, na, mein Schatz das bekommen wir alles hin. Mach dir keine Sorgen." Und irgendwie konnte er nicht anders als ihr zu glauben.